Er, Li – Koloratur

_Inhalt_

Im Mai 1942 fand die Schlacht von Erligang statt. Chinesische und japanische Truppen kämpften, die Chinesen schlugen die Japaner zunächst in die Flucht, verloren aber ihrerseits viele tapfere Männer und Frauen. Unter ihnen war Ge Ren, der Übersetzer, Literat, Dichter und Kommunist aus Überzeugung.

Jedenfalls hätte er das sein sollen. Er wäre ein so großartiger Volksheld gewesen mit seinem sanften Wesen, den großartigen Gedichten und der romantischen Liebe zu seiner Frau, der berühmten Schauspielerin Bingying.

Ge Ren allerdings hatte andere Pläne, für die er am Leben sein musste. So starb er nicht, sondern zog sich in ein Dorf im Dahuang-Gebirge zurück. Er verhielt sich ruhig und schrieb an seiner Autobiographie – unentdeckt erst, doch bald sickerten Gerüchte durch, dass er nicht den Heldentod gefunden habe. Kurz darauf war Ge Ren tot – die Legende lebte.

Ge Ren war in China aufgewachsen, hatte in Japan studiert und war nach Russland gereist, weil sein politisches Sehnen ihn zu den Wurzeln des Kommunismus zog. Er hatte den langen Marsch mitgemacht und sich dort mit Tuberkulose infiziert, die er bis zu seinem Tod nicht losgeworden war.

Als interessierter Intellektueller hatte Ge Ren im Laufe seines Lebens mit den verschiedensten Leuten Freundschaft geschlossen: Mit anderen Kommunisten, mit chinesischen Nationalisten und mit Japanern. Verschiedenste Menschen schätzen ihn aufs Höchste – und erzählen seine Geschichte auf unterschiedliche Weisen. Welche davon der Wahrheit am nächsten kommt, lässt sich im Nachhinein wohl kaum mehr rekonstruieren …

_Kritik_

Die drei Erzählungen über Ge Rens Schicksal lesen sich wie Krimis. Gerade weil von Anfang an klar ist, wie die Geschichte enden wird, ist es fast schmerzhaft, die verschiedenen Erzähler von ihrer Hoffnung sprechen zu hören, den verehrten Dichter und Freund retten zu können.

Speziell der Unterschied zwischen dem ersten Bericht – dem des Arztes – und dem zweiten, der von Ge Rens Jugendfreund und skrupellosen Mann fürs Grobe der Kommunisten verfasst wurde, ist faszinierend. Die Einstellungen, das gesamte Weltbild, Ethik und Moral sind gänzlich entgegengesetzt, was durch die Diskrepanz in den Sprachstilen perfekt untermauert wird.

Das Puzzle aus drei verschiedenen Sichtweisen auf ein und denselben Gegenstand ergibt ein Bild, das so ganz schlicht nicht stimmen kann. Nicht einmal unterschiedliche Blickwinkel können die Abweichungen erklären – jemand lügt. Vielleicht alle drei? Und wenn ja, ist das dann verwunderlich, oder würde nicht doch jede Geschichte so klingen, wenn man nur genügend Leute fragte?

Eine hässliche Geschichte von Politik, von Schein und Sein, von Ruhm und befohlenem Opfer arbeitet einen Teil der chinesischen Historie auf, der bisher nur unzureichend beleuchtet wurde. Und all das Grau, all die Lügen werden immer wieder unterbrochen von sanft schimmernden Lichtstrahlen, die Ge Ren und Bingying beleuchten und Liebe, Großmut, Weisheit und Freundlichkeit ein Zeichen setzen lassen gegen den von einer kranken Realität aufgezwungenen Wahnsinn, obwohl sie von Vornherein zum Scheitern verurteilt sind.

_Fazit_

„Koloratur“ ist ein faszinierendes Stück Literatur. Die Tatsache, dass Ge Ren zwar bei allen Geschichten die Hauptperson ist, aber tatsächlich in diesem winzigen Bergdorf sitzt, ruhig schreibt und bewusst auf seinen Tod wartet, ist herzzerreißend.

Selbst ich, die ich weder mit Kommunismus noch mit Lyrik wirklich viel anfangen kann (nicht, dass da ein zwingender Zusammenhang bestünde), war von diesem Buch hingerissen. Alles, was von den so verschiedenen Männern über den Dichter gesagt wird, zeichnet das Bild eines feinfühligen, intelligenten, freundlichen, großherzigen Menschen – der gar nicht hätte sterben dürfen, wenn die Geschichten gänzlich wahr wären, in denen die einzelnen Erzähler ihre Motive und Rettungsversuche darlegen.

Ich kann die Lektüre nur jedem ans Herz legen, der jetzt nicht unbedingt nur laue Unterhaltung sucht. Die Fremdartigkeit von Sprache, Rhythmus und Lebensgefühl ist für mich als Menschen, der über China extrem wenig weiß, exotisch und interessant gewesen; die Figuren schillernd und die Gegensätze atemberaubend. Lesen Sie es, Sie werden es nicht bereuen.

|Titel der Originalausgabe: Huaqiang
Aus dem Chinesischen übersetzt von Thekla Chabbi
ISBN-13: 978-3608937947
Gebundene Ausgabe, 440 Seiten|
http://www.klett-cotta.de

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