Hans Werner Kettenbach – Sterbetage

Heinz Kamp ist Buchhalter. Oder war Buchhalter, denn jetzt, mit sechzig Jahren, ist er arbeitslos. Seine Frau ist gestorben und sein Lebensalltag besteht aus regelmäßigen Besuchen der Stadtbibliothek, einmal in der Woche Schwimmen und selteneren Stelldicheins bei Hertha Klose, die praktischerweise sechs Etagen unter ihm wohnt.

Er wacht mitten in der Nacht auf, lauscht den Güterzügen, die über die Brücke in Nähe seiner Wohnung fahren, steht auf und geht spazieren. Er hofft, keine anderen Hausbewohner zu treffen, sie könnten ihn als unnormal ansehen, weil er mitten in der Nacht seine Wohnung verlässt.

Er prüft das Voranschreiten des Alterns – seines Alterns. Registriert neue und alte Falten, neue und alte weiße Strähnen im Haar. Er hält sich für zu alt, um beim Spiel des Lebens noch mithalten zu können.

Seine Welt ist einfach, aber geordnet und das ist gut so.

Und dann, bei einem dieser nächtlichen Spaziergänge, trifft er sie. Sie ist in einer ziemlich mitgenommenen Verfassung, ohne Geld und vier Stunden von der nächsten Straßenbahn entfernt. Kamp, ganz der Kavalier, aber ein gewisses Unbehagen spürend, nimmt sie mit zu sich nach Hause, obwohl sie zickig und wankelmütig ist und zudem noch ganz unpassende Gedanken in ihm hervorruft. Egal, was er ihr anbietet, sie lehnt zuerst entschieden ab, um gleich darauf schüchtern anzunehmen – Geld für die Bahn, Dusche, bei ihm schlafen.

Am nächsten Morgen geht sie mit Dankesworten von ihm, ohne ihm etwas von ihr erzählt zu haben, außer dass sie Claudia heißt, einundzwanzig Jahre alt ist und kein BAföG bekommt.

Er geht in die Stadtbibliothek und informiert sich über BAföG, rechnet alle Varianten aus, die existieren, weil er sich verpflichtet fühlt, ihr zu helfen. Als er zurückkommt, muss er feststellen, dass versucht wurde, in seine Wohnung einzubrechen. Er gibt sich selbst die Schuld, weil er auf dieses Mädchen hereingefallen war. Dann steht Marmelade vor seiner Tür, von ihr. Unfähig zu entscheiden, ob Freude oder Misstrauen angebracht ist, nimmt er sie noch eine Nacht auf, als sie vor seiner Tür steht, weil sie es bei ihrem Freund nicht mehr aushält. Und sie reden über Altern, Sterben, Tod und BAföG.

Wieder recherchiert Kamp in der Stadtbibliothek, über Wiedergeburt, Nahtoderlebnisse, klinischen und „echten“ Tod. Er kann nicht anders, er ist Buchhalter, alles muss seine Ordnung haben und dieses Mädchen zerstört diese offensichtlich. Als sie das dritte Mal kommt, bleibt sie mehrere Tage, kriecht zu seinem Entsetzen nachts zu ihm in Bett, um daraufhin sofort einzuschlafen und ihn mit seinen durcheinander gewirbelten Gedanken alleine zu lassen. Bei dem Versuch, seine Gefühle zu sortieren, erklärt er ihr die Unmöglichkeit einer Beziehung zwischen ihnen, als sie erkrankt und er erkennen muss, dass all seine Berechnungen und Nachforschungen, all sein Widerstreben und Distanzhalten völlig sinnlose Energieverschwendung waren.

„Sterbetage“ ist mehr als eine Liebesgeschichte, viel mehr als nur nette Unterhaltung. Es ist beinahe ein langwährender Abschied, ein letzter, melancholischer Blick auf alles Lebenswerte aus den Augen eines alternden, eingefahrenen Mannes, der mit keinerlei Überraschungen mehr rechnet, sich in ungewohnten Situation nicht zurecht findet. Der zornig auf sich ist, wenn er seine feststehenden Termine nicht einhalten kann und ungezählte Stunden auf seinem Balkon sitzt, nur mit seinen Gedanken als Gesellschaft.
Kamp ist ein Charakter, der Mitleid, Nachsicht und Abscheu erweckt, weil er diese selbst mit sich empfindet. Mitleid, weil er altert und sein Leben bereits als erlebt betrachtet. Nachsicht, weil er alt ist und rücksichtsvoll und verständnisvoll sein möchte. Abscheu, weil er zu alt ist und niemals aufdringlich sein will, es aber trotzdem ist. Weil er seine Hautsäckchen unter den Augen beobachtet, weil ihn seine fleckige Haut stört.
Wer kann so etwas lieben? Kamp sieht sein Sterben als Zurückziehen des Lebens. Immer wieder verschwindet ein Stückchen mehr und wenn es ganz grau geworden ist, dann ist er tot.

Wer kann so etwas lieben? Claudia kann es. Ein Charakter, der kaum mehr Sympathien hervorruft, weil sie im Prinzip ein Häufchen Elend ist. Viel erfährt der Leser nicht über sie und das braucht er auch gar nicht, um zu wissen, dass Kamp und sie gar nicht und doch so vollkommen zu einander passen. Er bricht seine starren Prinzipien, bekommt wieder etwas zu tun und sie findet den notwendigen Halt und Ruhepol vor dem Komplettabsturz. Eine Studentin mit Flausen im Kopf, wohl wissend, dass nie was daraus werden kann. Da der Leser sie durch Kamps Augen wahrnimmt, gerät er unweigerlich in dessen Zwiespalt: Mal Kind, mal Frau, mal lebhaft und froh, mal deprimiert und nachdenklich, bleibt sie einfach ein Mysterium, das, unwillkürlich auftauchend, anhaltendes Kopfzerbrechen bereitet.

Während der gesamten Geschichte hängt Unheil über den Köpfen der Charaktere, ein langsames, lautloses Anschleichen einer Tragödie. Nichts und niemand kann es verhindern und das Seltsame ist, dass bei mir der Eindruck entstand, dass es auch gar nicht nötig ist.

In Bann genommen von der einfachen, stillen Poesie in den Worten dämmerte es mir erst allmählich, dass ich von diesem außergewöhnlichen Roman kein spannungsgeladenes, bombastisches Ende erwarten konnte. Es fügte sich, obwohl überraschend, still und unerbittlich in die unspektakuläre Atmosphäre ein, die mich gerade deswegen tief und nachhaltig berührte und faszinierte.

Ein Buch über Gedanken übers Sterben. Poetisch und fast schon philosophisch angehaucht, bewegt es zum Nachdenken, Trauern und zum innigen Lieben des Lebens.

Hans Werner Kettenbach, 1929 in Bendorf/Rhein geboren, ist ein Meisterwerk gelungen, wie es nur wenige Autoren zustande bringen können. Er studierte Zeitungs- und Theaterwissenschaften, Germanistik, Geschichte und Philosophie und arbeitet seit 1955 als Journalist. Seit 1988 ist er stellvertretender Chefredakteur beim „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Für seinen ersten Krimi „Grand mit Vieren“ wurde er 1977 bei einem Manuskriptwettbewerb mit dem „Jerry-Cotton-Preis“ ausgezeichnet und 1988 erhielt er für den Roman „Schmatz oder die Sackgasse“ den „Deutschen Krimi-Preis“.
„Sterbetage“ wurde unter dem Titel „Im Jahr der Schildkröte“ mit Heinz Bennent und Karina Fallenstein in den Hauptrollen verfilmt.

Doch lass ich lieber das Buch selber sprechen:

Sie zog an ihrer Zigarette, blies den Rauch von sich. „Du denkst an deine Freundin, nicht wahr?“
„Nein, ich denke überhaupt nicht an meine Freundin.“
„Warum solltest du nicht an deine Freundin denken?“
„Weil die damit überhaupt nichts zu tun hat, das geht sie gar nichts an. Aber ich denke an uns. An dich und mich. Sieh mich doch mal an. Das ist kein schöner Anblick, so ein Mensch, der älter wird.“ Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er: „So ein Körper verändert sich doch.

Er wird eben immer älter. Er wird immer unansehnlicher. Die Knochen werden krumm, sie werden schwach. Die Muskeln verschwinden. Das Herz schlägt auch nicht mehr so wie früher. Und das Gehirn. Ich meine, das Gedächtnis lässt nach. Es fällt einem manchmal schwer, sich zu konzentrieren. Also gut, das ist ja alles in Ordnung, das muss ja so sein. Aber es hat doch keinen Sinn, so zu tun, als ob man immer noch derselbe Mensch wäre, ein junger Mensch, den ein anderer gern anfasst. Den ein anderer gern berührt. Oder streichelt. So etwas fasst doch niemand gern an, so eine Haut, die schlaff geworden ist, überall wird sie fleckig, und Hautsäcke, überall bilden sich Hautsäcke…“
Sie sagte: „Wo hast du denn Hautsäcke?“

Er machte eine ärgerliche Handbewegung. „Ach, am Kinn und… Das siehst du doch.“
„Wo denn? Lass mich mal sehen.“
Sie stand auf und kam zu ihm, auf bloßen Füßen, beugte sich über ihn. Kamp zog den Kopf zurück, aber sie fasste nach seinem Kinn. „Nicht kneifen, jetzt, das gilt nicht!“ Sie strich mit den Fingerspitzen über sein Kinn, kam mit ihren Augen dicht heran, zog die Augenbrauen zusammen, drückte ein wenig mit den Fingerspitzen. Plötzlich lachte sie. „Du hast Hängebäckchen, das hab ich schon vorher gesehen. Aber das sind doch keine Hautsäcke. Was ist das überhaupt, Hautsäcke?“

Kamp schob sie ärgerlich zurück. „Claudia, jetzt hör auf mit dem Unsinn! Du weißt doch, was ich meine. Oder willst du mich nicht verstehen?“
„Natürlich will ich dich verstehen. Aber wie soll ich dich verstehen, wenn du so dummes Zeug redest?“ Sie schob ihren Kopf wieder vor, betrachtete interessiert sein Gesicht. „Sag mal, lässt du dir den Schnurrbart färben?“

„Bist du verrückt geworden? Was soll das denn?“
„Lass mich doch mal sehen. Bitte.“ Sie streckte die Fingerspitzen aus. Kamp wollte aufstehen, aber er blieb sitzen, steif, den Kopf halb nach hinten gelehnt. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über seinen Schnurrbart, ließ die Fingerspitzen eindringen, zerteilte die Haare. „Tatsächlich. Das ist echt.“ Sie zog die Hand zurück. „Weiß du überhaupt, dass der superscharf aussieht?“
Kamp sagte: „Also, wenn du nur Unsinn machen willst, dann hat es keinen Zweck mehr, dass ich weiter rede.“

„Doch. Entschuldige.“ Sie setzte sich vor seinem Sessel auf den Teppich, schlug die Füße untereinander. „Red weiter. Ich quatsch auch nicht mehr dazwischen.“
Kamp schwieg, saß da mit zusammengezogener Stirn. Sie sagte: „Mach doch nicht so ein grimmiges Gesicht. Ich quatsche ganz bestimmt nicht mehr dazwischen. Es interessiert mich doch, was du sagst. Ich hab nur nicht alles verstanden.“
Kamp sagte: „Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du das nicht verstanden hast.“
„Kannst du’s nicht noch mal erklären? Bitte.“
Er schüttelte den Kopf, hob die Hand: „Was gibt es daran zu erklären!“ Nach einer Weile sagte er: „Der Altersunterschied. Ich weiß nicht, ob du das von dieser Filmschauspielerin gelesen hast, ich weiß den Namen nicht mehr, spielt ja auch keine Rolle, irgend so eine aus Amerika, die hat einen Mann geheiratet, der ist fünfunddreißig Jahre jünger als sie. Glaubst du, dass der Mann die liebt? Dass der die gern anfasst?“

Er legte eine Pause ein. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er auf eine Reaktion wartete. Aber sie sah ihn nur an, aufmerksam. Er fuhr hastig fort: „Ja, die vielleicht ihn. Aber das ist ja fast noch schlimmer. Legt sich mit einem Mann ins Bett, der ihr Sohn sein könnte. Das ist ja… das ist ja fast unappetitlich.“ Er räusperte sich. „Ob die Frau nicht begreifen will, dass das Leben irgendwann zu Ende geht? Darauf muss man sich doch einstellen, verstehst du, das Leben, das geht ja nicht mit einem Schlag zu Ende, ich meine, natürlich gibt es da Ausnahmen, bei einem Unfall, oder bei einer schweren Krankheit, daran kann auch ein junger Mensch sterben, oder ein Kind sogar, da ist es dann ganz plötzlich aus, aber das sind ja Ausnahmen, normalerweise ist das ja ganz anders. Wenn ein Mensch älter wird, meine ich.“

Er rieb sich die Stirn. „Da hört das Leben ganz allmählich auf, meine ich. Es wird immer weniger. Irgendwann merkt man das. Man kann nicht mehr so schnell laufen wie früher. Und am Ende ist man froh, wenn man noch kriechen kann. Man hört nicht mehr gut. Die Augen lassen nach. Man muss von immer mehr… immer mehr Sachen Abschied nehmen, die man… die früher zum Leben gehörten. Ganz allmählich. Und das muss man begreifen, darauf muss man sich einstellen. Es nutzt doch nichts, hinter dem Leben herzulaufen. Damit kann man sich doch nur lächerlich machen. Dem Tod kann man ja nicht weglaufen. Das ist doch ganz einfach. Man muss begreifen, dass man stirbt.“
Sie sagte: „Sterben kann ich auch. Morgen schon. Ich muss genauso sterben wie du.“

Taschenbuch: 256 Seiten
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