Abraham Merritt – Flieh, Hexe, flieh!

merritt-hexe-cover-1973-kleinIm modernen New York verwandelt eine uralte Hexe ihre Opfer in Puppen, die sie mordend gegen ihre Feinde schickt. Ein Psychiater will ihr im Bund mit einem Gangster und einem Cowboy das Handwerk legen … – Dieser Horror-Klassiker erschien in Deutschland zu Unrecht fast unbemerkt, denn die einfache Geschichte wird sauber entwickelt und sorgfältig erzählt. Nicht grundlos ist hat sie viele spätere Genre-Romane und Filme beeinflusst: im positiven Sinn altmodischer Grusel.

Das geschieht:

Dr. Lowell, Arzt und Spezialist für Geisteskrankheiten in New York, wird von einem ungewöhnlichen Patienten konsultiert: Julian Ricori, der gebildete aber gefürchtete Gangsterboss, bringt ihm seinen Kumpan Thomas Peters. Der ist plötzlich in eine komatöse Schockstarre gefallen. Ricori fürchtet die Giftattacke eines Feindes. Der erstaunte Lowell tut sein Bestes, aber Peters stirbt – und bricht nach seinem Tod in grässliches Lachen aus, während sich sein Gesicht in eine teuflische Fratze verwandelt!

Erschrocken stellt Lowell Nachforschungen an. Ein Rundschreiben an New Yorker Ärztekollegen ergibt, dass sich mindestens sieben ähnliche Fälle in den vergangenen sechs Monaten ereigneten. Kurz darauf kommt Krankenschwester Walters, die für Lowell arbeitet, ebenfalls um. Der Doktor befürchtet eine Epidemie, aber Ricori hat eine andere Theorie: Alle so bizarr Verstorbenen kauften Puppen von der mysteriösen Madam Mandilip! Die hat in einer Seitenstraße einen kleinen Laden, wo sie mit ihrer ‚Nichte‘ Laschna lebt und arbeitet.

Ricori, der persönlich Nachforschungen anstellt, wird mit einer Nadel erstochen. Er überlebt knapp, bleibt aber ans Krankenlager gefesselt. Sein Leibwächter McCann behauptet, eine winzige Puppe sei für den Angriff verantwortlich, und sie habe die Gesichtszüge des verstorbenen Thomas Peters getragen! Daraufhin sucht Lowell Madam Mandilip auf. Die hat ihn längst durchschaut und bereitet ihm nicht nur einen ganz besonderen Empfang, sondern schickt in der Nacht ihre Puppen aus …

Uralte Machenschaften in der modernen Welt

Seit jeher beliebt ist der Glaube an eine ‚zweite Realität‘, die jenseits der festen Wegstrecke existiert, die Wissenschaft und Forschung gelegt haben. Jene Dinge, die der berühmt-berüchtigte gesunde Menschenverstand (noch) nicht erfassen kann, werden naturgemäß dort platziert, wo (und weil) man ihnen schwer auf die Spur kommen kann: in der Vergangenheit und an Orten, die in der Regel zwecks Überprüfung nicht bereist werden können.

Madam Mandilip repräsentiert gleich beide Fremdsphären. Sie ist eine Hexe, wobei Abraham Merritt sie keineswegs als besenstielreitende Vettel zeichnet, wie es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit oft geschah. ‚Hexe‘ ist für ihn eher ein Konzept bzw. eine Bezeichnung für ein seltsames aber reales Wesen, das zu verstehen dem modernen Menschen aufgrund seines fehlenden Wissens und Verständnisses unmöglich ist. Merritt spart sich deshalb jede Erklärung für das bizarre Verhalten der Mandilip. Wieso erschafft sie Mordpuppen, wenn ihre suggestiven Fähigkeiten stark genug sind, ihre Opfer direkt zu manipulieren? Pure Bosheit wäre eine (dürftige) Erklärung, doch Merritt deutet tiefere Beweggründe zumindest an.

Unausgesprochen aber deutlich prägt die Furcht vor einer völlig selbstbestimmten, selbstbewussten und nicht zu kontrollierenden Weiblichkeit das Romangeschehen. Madam Mandilip kämpft nicht mit offenem Visier, sondern täuscht, intrigiert und – besonders tückisch und erschreckend! – zwingt Männern buchstäblich ihren Willen auf, wobei sexuelle Untertöne vorsichtig – zur Erinnerung: Merritt schrieb sein Buch 1933 – aber unmissverständlich anklingen. Vor allem dadurch erfüllt sie den Tatbestand der Hexerei. Ihre Strafe ist hart und muss hart sein, um dem Tenor der Zeit entsprechend die korrekte Weltordnung wiederherzustellen.

Der Forscher, der Gangster & der Cowboy

Das weise und willensstarke aber gesetzlose und moralfreie ‚Ur-Weib‘ trifft auf einen Vertreter der modernen Welt: Dr. Lovell ist durch und durch Wissenschaftler. Lange leugnet er die Magie der Mandilip; er flüchtet sich in quasirationale und von der Medizin gestützte Erklärungen. Noch als er selbst in den Bann der Hexe geraten ist, versucht er das Erlebte zu rationalisieren. Erst als ihn sein Mitstreiter Ricori in die Enge treibt, gibt er nach und die Realität des nicht Erklärbaren zu.

Julian Ricori ist eine interessante Figur. Seine eigentliche Aufgabe ist die des Vermittlers. Ricori ist ein Mann auf der Höhe seiner Zeit. Gleichzeitig stammt er aus der alten Welt, wie Europa in den USA gern genannt wird. Er ist italienischer Herkunft und als Amerikaner der ersten Generation unter der Tünche des zivilisierten Zeitgenossen gut vertraut mit den Mythen und Aberglauben seiner Heimat. Er steht dazu, und es ist diese Haltung, die dort Bewegung in die Handlung bringt, wo Lovell dazu neigt, sich in seinem Labor zu verschanzen.

Dass Ricori ein Gangster ist, darf als politisch unkorrekter aber publikumswirksamer Einfall des Verfassers gewürdigt werden. Anfang der 1930er Jahre faszinierten reale Verbrecher-Persönlichkeiten jene braven Bürger, die in sicherer Entfernung nicht unter ihrer Willkür litten. Männer wie Al Capone, John Dillinger oder „Pretty Boy“ Floyd unterwarfen sich weder dem Gesetz noch moralischen Regeln; sie lebten schnell & gut und starben früh & spektakulär. Literarisch und filmisch verklärt, wurden sie zu düsteren Mythen. Von diesem Flair profitiert auch Merritt, der freilich Ricoris kriminellen Machenschaften völlig aus dem Geschehen ausklammert. Der Gangster wird hier zum willkommenen Gefährten, weil er ohne bürokratische Einschränkungen oder die Hilfe einer ohnehin korrupten Polizei direkt gegen die Bedrohung vorgehen kann, die Madam Mandilip darstellt.

Eine weitere Reminiszenz an zeitgenössische Mythen ist die Figur des Leibwächters McCann. Er wird als „Cowboy“ und damit als Mann charakterisiert, der nicht nur mit der Waffe in der Hand die Wildnis zähmte, sondern auch nach einem Kodex lebt, in dem Eigenschaften wie Entschlossenheit, Ehre und Treue ganz oben auf der Liste stehen.

Magie & Mörderpuppen

„Flieh, Hexe, flieh!“ ist ein Trivialroman der „Pulp“-Ära. Der Plot ist simpel, in der Umsetzung arbeitet Merritt recht vordergründig mit spannenden, gruseligen und dramatischen Effekten. Das ist keineswegs abwertend gemeint, denn das gesteckte Ziel guter Unterhaltung erreicht der Autor mit Leichtigkeit. Der Roman profitiert zudem von Merritts intimer Kenntnis des Okkulten; dass er weiß, wovon er schreibt, macht er manchmal allzu deutlich, wenn er Lovell ausführlich dozieren lässt.

Ausgeprägt ist Merritts Gespür für Stimmungen, die er mit Worten heraufzubeschwören weiß, die weder das Alter noch die Übersetzung ihrer Wirkung berauben können. Manches wirkt aus heutiger Sicht altmodisch oder ist zum Klischee geronnen; mordende Puppen haben seitdem vielleicht zu oft ihr Unwesen getrieben. 1933 galt „Flieh, Hexe, flieh!“ als zeitgemäßer Roman. Viele Jahrzehnte später profitiert er vom sorgfältig komponierten Aufbau einer Spannung, die langsam aber sicher aufgebaut wird, um sich in einem klassischen Showdown-Finale zu entladen.

Flieht die Hexe oder brennt sie?

Wie sich Zeiten und (moralische) Regeln ändern, wird sehr schön am deutschen Titel dieses Romans deutlich. „Burn, witch, burn“, lautet Ricoris hasserfüllter Kommentar, als die Hexe besiegt das Zeitliche segnet.

Während Merritts Roman im angelsächsischen Raum noch heute unter seinem martialischen Originaltitel aufgelegt wird, schreckte man in Deutschland sowohl in den 1950er als auch und ganz besonders in den 1970er Jahren vor „Brenn, Hexe, brenn!“ zurück. Die Gräuel der historischen Hexenverfolgungen waren längst bewiesene Tatsachen. Nun kam im Nachklapp die Verdammung durch Wahrung der politisch korrekten Terminologie hinzu. So entstand u. a. der im Wortklang ähnliche aber die Handlung eher konterkarierende Titel „Flieh, Hexe, flieh“, da Madam Mandilip zu keinem Zeitpunkt die Flucht ergreift. (Im Romanfinale bleibt Ricoris sardonischer Abschiedsgruß übrigens trotz Übersetzung erhalten; dort sticht er nicht so ins Auge und stört keine empfindlichen Gemüter …)

Hexenjagd im Kino

„Burn Witch Burn“ war ein zu seiner Zeit erfolgreicher Roman, der bald das Interesse Hollywoods erregte. Ab 1930 waren Horrorfilme bei einem durch gelungene Verfilmungen verwöhnten Publikum sehr beliebt und spülten viel Geld in die Kassen der Studios, die deshalb für ständigen Nachschub sorgten.

„The Devil-Doll“, der Film zu Merritts Roman, entstand 1936. Er gilt nicht als Klassiker wie „Dracula“ (1931) „Frankenstein“ (1931) oder „The Mummy (1933; dt. „Die Mumie“), gehört aber nichtsdestotrotz zu den gelungenen Beispielen seines Filmgenres. Große Namen sorgten für eine eindrucksvolle Umsetzung (obwohl die Story stark verändert wurde): Tod Browning, der bereits Meisterwerke wie „Dracula“, „Freaks“ (1932) oder „Mark of the Vampire“ (1935) inszeniert hatte, drehte nach einem Buch von Garrett Ford („Dracula“, „Dracula’s Daughter“; 1936) und Guy Endore, Autor des Werwolf-Klassikers „The Werewolf of Paris“ (1933; dt. „Der Werwolf von Paris“); unterstützt wurden sie vom Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautoren Erich von Stroheim. Vor der Kamera agierten großartige Schauspieler wie Lionel Barrymore und Maureen O’Sullivan.

Unter seinem US-Titel „Burn Witch Burn!“ ist ein Film im Handel, der 1962 unter dem englischen Originaltitel „Night of the Eagle“ ins Kino kam. Dieser (übrigens ebenfalls sehenswerte) Streifen entstand nicht nach Merritt, sondern basiert auf dem Roman „Conjure Wife“ (1943; dt. „Spielball der Hexen“/„Hexenvolk“) des Schriftstellers Fritz Leiber.

„Burn Witch Burn“ und hier besonders das Motiv der mordenden Puppen taucht in vielen anderen Filmen auf, die Merritt als Inspirationsquelle verschweigen. Der jüngere Horror-Fan wird sich hier vor allem an die vielteilige „Puppet-Master“-Serie des Schnellschuss-Produzenten Charles Band (ab 1989) oder an die „Chucky“-Reihe von Don Mancini (ab 1988) erinnern.

Autor

Abraham Merritt wurde am 20. Januar 1884 in Beverly, einem Städtchen im US-Staat New Jersey, geboren. Nach diversen Jobs fasste er 1902 Fuß im Journalistengewerbe. Er schrieb für den „Philadelphia Inquirer“ und macht sich vor allem als Polizeireporter einen Namen. Nach einigen Jahren wurde der Zeitungs-Zar William Randolph Hearst auf Merritt aufmerksam. Er heuerte ihn für das Magazin „American Weekly“ an, dem Merritt eng verblieben blieb und als dessen Herausgeber er später bis zu seinem Tod fungierte. Im Verlauf seiner Tätigkeit unternahm Merritt ausgedehnte Reisen, die ihn u. a. 1903 ins mittelamerikanische Yukatan führten. Hier untersuchte er in seiner Freizeit alte Maya-Städte und frönte seiner Vorliebe für mysteriöse und versunkene Kulturen.

In der zweiten Hälfte der 1910er Jahre wurde Merritt auch schriftstellerisch tätig. Er schrieb Fantasy- und Horrorgeschichten für die zeitgenössischen „Pulp“-Magazine. Insgesamt verfasste er acht Romane und diverse Kurzgeschichten, die zu den Klassikern der Phantastik gezählt werden.

Merritt ließ sein einschlägiges Fachwissen geschickt in die Romanhandlungen einfließen. In seiner Bibliothek standen zahlreiche Werke, die sich mit okkulten Themen beschäftigten. Als Hobby zog Merritt in seinem Garten Pflanzen, die mit dem Wirken ‚historischer‘ Hexen in Verbindung gebracht wurden.

1934 beschloss Merritt seine schriftstellerische Laufbahn, für die ihm sein eigentlicher Beruf nunmehr keine Zeit mehr ließ. Im Alter von nur 59 Jahren erlag er am 30. August 1943 in seinem Sommerhaus in Florida einem Herzanfall.

Taschenbuch: 161 Seiten
Originaltitel: Burn Witch Burn! (New York : Liveright Publishing Corporation 1933)
Übersetzung: Lore Strassl

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