Andreas C. Knigge – Alles über Comics

Mit einer Mischung aus Rückblick und Comic-Biografie setzt „Alles über Comics“ ein: Autor Knigge erzählt unter dem Kapiteltitel „Vom heiteren Fridolin zum kleinen Arschloch. Reise durch ein Comic-Biotop“ von seinem persönlichen Werdegang im deutschen Comicland nach 1945, das von sekundärliterarischer Ignoranz einerseits und hysterischen Treibjagden auf „Schmutz & Schund“ andererseits geprägt wurde, bis sich einige wackere Pioniere daran machten, das Dunkel zu lichten, das über Vergangenheit und Gegenwart des geliebten und gehassten Mediums lastete.

Dabei steht der Comic durchaus in großer und vor allem alter Tradition: „Von der Höhlenmalerei zum Comic. Eine kurze Archäologie der Bilderzählung“ deutet bereits an, dass der Mensch mit Bildern Geschichten erzählte, lange bevor er die Schrift erfand. Aber selbst als diese ihren Siegeszug angetreten hatte, behauptete das Bild bzw. die Bildfolge seine bzw. ihre Rolle. Mit vielen Beispielen mittelalterlicher Bilderzyklen und frühneuzeitlicher Bilderbogen wird dies eindrucksvoll (wenn auch ein wenig zu eindringlich) bewiesen.

Dann der Sprung in die Neuzeit: „Vom Yellow Kid bis Captain America. Genesis eines Massenmediums“ fasst den Quantensprung der Bildergeschichte zum „comic strip“ und weiter zum Abenteuer- und Superhelden-Comic in Heftform zusammen, der in den 1890er Jahren einsetzte und mit dem Beginn des II. Weltkriegs endete. Dabei werden auch die bisher recht wenig bekannten europäischen Pioniere des Genres ins Licht gerückt, denen indessen unter dem deutschen Nationalsozialismus nur unter erheblichen Schwierigkeiten und bedingt der Durchbruch gelang.

Europa steht denn auch im Zentrum des nächsten Kapitels. „Von Astro-Boy bis Spider-Man. Globalisierung der Comic-Kultur“ berichtet von den Jahrzehnten nach 1945. Mit der „Amerikanisierung“ Europas drang nun endlich der Comic insgesamt dorthin vor, wo zuvor nur kurz eine Maus gewesen war. Parallel dazu entwickelte sich eigenständige europäische Zeichentraditionen. Ähnliches geschah in Japan, wo die „Mangas“ lange unbemerkt eine ganz eigene Comicsprache entstehen ließen. In den USA selbst wurde der Comic „erwachsen“: Selbst scheinbar unbesiegbare Superhelden ließen allmählich „menschliche“ Schwächen erkennen, und sie agierten in einer Welt, die zusehends komplexer wurde und die sozialen Brüche der Realität nicht länger aussparte.

„Von Asterix bis Dragon Ball. Zeichenwelten zwischen Konsum und Avantgarde“ beschreibt den Weg der Comics in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts. Die „Revolution“ der 1960er und 70er Jahre erfasst die gezeichneten Welten und lässt sie förmlich explodieren. Politik und Sex, die letzten weißen Flächen des Comic-Globus’, werden erobert. Nichts ist mehr so wie bisher. Comics werden Literatur und sie erobern neue Medien. Die Ära des Internets lässt sie virtuell werden. Genregrenzen werden weich, alte Helden verschwinden oder erfinden sich neu. Die japanischen Mangas erobern die (Comic-)Welt bzw. prägen sie, aber auch das Ende ihrer Herrschaft zeichnet sich womöglich bereits ab.

„Zwischen Gotham City und Mauschwitz. Alte Helden, neue Welten“ wagt den Blick in eine Comic-Zukunft, die ungewisser, aber womöglich interessanter denn je ist. Der Comic ist inzwischen auf das Papier als Medium längst nicht mehr angewiesen. Digital sind seine Bilder und Geschichten präsenter denn je. Gegenwärtig hat der Comic sogar Hollywood erobert: Filme nach Comics sind die großen Blockbuster der Gegenwart. Das Ende der Comics, wie wir sie bisher kannten, mag sich abzeichnen – das Ende der Comics an sich bedeutet dies keineswegs!

Die Reise durch die Comic-Geschichte umfasst mehr als das eine Jahrhundert, das nach gängiger Lehrmeinung dem „Urknall“ im New Yorker Zeitungs-Universum des ausgehenden 19. Jahrhunderts folgte. Den täglichen Story-Streifen zum Lachen – den „comic strips“ – folgten Abenteuer aller Art. Der Erfolg ließ den Comic eigenständig werden; er fand in den USA nunmehr im Heft statt, in Europa im Album, in Japan im Taschenbuch.

Oder anders ausgedrückt: Der Comic hat eine Geschichte, der Comic ist Teil der Geschichte, der Comic ist ganz sicher nicht Geschichte, sondern lebendiger denn je. Geliebt oder gehasst, auf jeden Fall aber unterschätzt wurde er. Andreas C. Knigge leistet hervorragende Arbeit mit seinem (erneuten) Versuch, dies endlich zu ändern.

Der Erste ist er nicht, der sich dies vornimmt. Doch unter denen, die sich der „Neunten Kunst“ annehmen, übernimmt er mit „Alles über Comics“ erst einmal die Führungsposition. In dieser Darstellung findet man praktisch sämtliche Aspekte aus Vergangenheit, Gegenwart & Zukunft erwähnt, erläutert, ins historische Umfeld integriert. Das ist stets lesbar, manchmal durchaus diskussionswürdig – gibt es wirklich eine zwingende Verbindung von der Höhlenmalerei zum Comic? -, faktenreich und sachkundig, ausschweifend und anekdotenlastig – und ganz sicher nicht „alles“ über Comics, doch sicherlich der exemplarisch gleich tausendfach geführte, endgültige, den Skeptiker unter Belegen förmlich begrabende Beweis dafür, dass wir es hier mit einer eigenständigen Kunstform zu tun haben.

Schade nur, dass die Bilder mit dem Text nicht mithalten können. Ein Buch über Comics darf in dieser Hinsicht sicherlich nicht knausern. Abbildungen sind freilich im Druck höchst kostspielig. „Alles über Comics“ versucht sich in einem Kompromiss. Vor und hinter dem Haupttext finden wir jeweils acht Seiten mit Farbabbildungen, die verschiedene Comics in ihrer ganzen Pracht zeigen. Im Text selbst sind die Abbildungen zwar zahlreich, bleiben aber leider nur schwarzweiß und dazu oft ziemlich klein.

Sehr gut werden sogenannte „Textboxen“ eingesetzt: Während der Haupttext recht straff dem roten Faden des jeweiligen Kapitels folgt, klinkt Knigge dort, wo er mehr weiß und dieses Wissen auch allgemein interessant ist, „Randnoten“ ein, die einzelne Aspekte des Comic-Universums beleuchten. Sie lassen sich überlesen, man kann sie aber auch separat vom Haupttext genießen. Auf jeden Fall vertiefen sie den Haupttext und bieten hochinteressante Zusatzinfos an, ohne sie dem Leser aufzuzwingen.

Ein Glossar bietet kurze, aber präzise Erklärungen zu den Fachausdrücken, an denen das Comic-Universum so reich ist. Wie es sich für ein Standardwerk dieser Güteklasse gehört, gibt es außerdem ein ausführliches Literaturverzeichnis, eine Liste der Bildnachweise und ein Register.

Und wer nach der Lektüre von „Alles über Comics“ immer noch den Status des Comics in der historischen und in der aktuellen (Medien-)Welt leugnet, dem ist einfach nicht zu helfen!

Andreas C. Knigge (geboren 1957) gehört zu denen, die Comics nicht einfach nur genießen, sondern (ungeachtet des „Schund!“-Geschreis) als Kunst- oder Kunsthandwerksform akzeptieren und sich für die Gesetzmäßigkeiten des Comic-Kosmos’ interessieren. Bereits 1974 gehörte er zu den Mitbegründern des ersten deutschen Comic-Fachmagazins („Comixene“). 1986 bis 1991 gab er ein „Comic-Jahrbuch“ heraus. 1983 bis 1998 war er Cheflektor des Comic-Programms beim |Carlsen|-Verlag. Ein Comic-Lexikon hat er geschrieben, mehrere Sachbüchern und unzählige Artikel zum Thema – und natürlich auch Comics. Er lebt als Publizist in Hamburg.

Gebundene Ausgabe: 435 Seiten