Friedrich Ani – Wie Licht schmeckt (Lesung)

Nahtod und der Preis der Coolness

Eigentlich braucht er niemanden, findet der 14-jährige Lukas. Alleine, aber glücklich streift er durch die Stadt. Doch dann trifft er Sonja, ein blindes Mädchen, das ihn völlig aus der Fassung bringt. Selbstbewusst lädt sie ihn zum Schwimmen und in ein Restaurant ein und zeigt ihm eine Welt, wie er sie noch nie gesehen hat.

Plötzlich spürt Lukas alles viel intensiver: das Licht in den Straßen, die Stimmen der Menschen, den Wein auf seiner Zunge, das heiße Wasser einer Dusche, eine zarte Berührung. Lukas weiß, dass er Sonja nicht mehr verlieren will, nur wie er das schaffen kann, weiß er noch nicht.

Der Autor

Friedrich Ani, geboren 1959 in Kochel am See, war zunächst Zivildienstleistender in einem Heim für schwer erziehbare Jungen, arbeitete als Reporter und Kulturjournalist und lebt heute als Schriftsteller in München. Er schreibt Romane, Drehbücher, Erzählungen und Gedichte. Für seine Bücher wurde er mehrfach mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Staatlichen Förderungspreis für Literatur des Bayerischen Kulturministeriums und dem Radio-Bremen-Krimi-Preis. Einige seiner Romane sind nämlich Krimis.

Der Sprecher

Heikko Deutschmann war nach seinem Schauspielstudium Ensemblemitglied an der Berliner Schaubühne, am Hamburger Thalia-Theater, im Schauspiel Köln und Schauspielhaus Zürich. Mittlerweile ist er in zahlreichen Film- und Fernsehrollen zu sehen gewesen, so etwa „Der Laden“, „Operation Rubikon“, „Der Aufstand“ oder „Die Affäre Kaminski“.

Bei dieser ungekürzten Lesung führte Margrit Osterwald Regie und für den guten Ton im Eimsbütteler Tonstudio, Hamburg, sorgte Fabian Küttner.

Das Titelbild ist dem gleichnamigen Film entnommen.

Handlung

Lukas Brenner ist ein 14-jähriger Beckettliebhaber, der an seinem Geburtstag einfach mal von Zuhause ausbüxt und sich die Stadt anschaut. Mal seh’n, was es in München zu entdecken gibt. Hoffentlich was Aufregenderes als im tristen Arbeiterviertel Giesing, wo seine Eltern wohnen. Es ist ein sommerlicher Augustmorgen, und Lukas gönnt sich erst einmal ein Frühstück auf dem Stachus, dem zentralen Brunnenplatz am Eingang zur Einkaufspassage Kaufinger Straße. Er will sich drei Tage süßen Nichtstuns gönnen und es wie seine literarischen Freunde, die Landstreicher Wladimir und Estragon aus „Warten auf Godot“ machen. Mal seh’n, was kommt.

Auf der Rolltreppe trifft er erstmals auf das blinde Mädchen. Er rempelt es an, stürzt aber selbst über ihren Blindenstock. Lukas schnauzt sie an, dann bemerkt er, dass sie blind ist und nach Zitrone riecht. Wie kann irgendjemand nach Zitrone riechen, wundert er sich. Er entschuldigt sich und hilft ihr, als sie weiterstolpert, hilft ihr sogar über die Straße. Als sie weitergeht, versucht er, sie zu vergessen.

Nach weiteren Begegnungen in der Stadt, u.a. mit Landstreichern und mit seinem Großvater, der ihm zum Geburtstag hundert Mark schenkt, muss Lukas wieder an das blinde Mädchen denken. Es tut ihm leid, dass sie nichts von der Schönheit dieser Stadt sehen kann. In einer serbokroatischen Gaststätte in der Rumfordstraße findet er sie wieder: Sie arbeitet hier als Kellnerin. Endlich erfährt er ihren Namen: Sonja. Er wundert sich, wie sie sich so geschwind und sicher zwischen den Tischen bewegen kann. Als er bezahlen will, lädt sie ihn ein. Das ärgert ihn: Muss er sich jetzt schon von einer Frau aushalten lassen? Ein Mann hat schließlich seinen Stolz.

Als Sonjas Freundin Vanessa eintritt, setzt sie sich zu ihm und fragt, ob er Sonjas Freund sei. Dafür will er wissen, ob ihn Sonja vielleicht zum Besten hält. Das gefällt nun Sonja überhaupt nicht, und sie tut ihm weh. Er entschuldigt sich – noch ein Zacken aus der Krone. Als der Wirt Sonja frei gibt, lädt sie ihn ins Schwimmbad ein. Es ist schon früher Nachmittag, und er hat seine Eltern immer noch nicht verständigt, wo er sich herumtreibt.

Im Schwimmbad ist die Tatsache, dass er sich eine Badehose kaufen muss und sie ein schreckliches Muster aufweist, natürlich wieder mal oberpeinlich. Das Freibad ist rappelvoll, die Sonne brennt vom blauen Himmel, die Zeit scheint sich zu dehnen. Lukas legt sich zu Sonja und als sie ihre Sonnenbrille abnimmt, kann er ihre tiefblauen Augen sehen. Als sie mit ihm spricht, erfährt er, dass sie schon 17 ist. Danach muss er erstmal kalt duschen …

Um mit ihnen zu spielen, zerrt er Vanessa und Sonja ins Schwimmbecken. Dabei kann er nicht mal kraulen. Und das Wasser stinkt nach Chlor, und zwei Enten schwimmen darauf. Oder träumt er das nur? Denn plötzlich verliert an Kraft und geht unter. Er atmet Wasser, das sich plötzlich färbt wie das Gras, und jemand scheint seinen Namen zu rufen. Dann kommt der Blackout.

Es ist Sonja, die ihn rettet. Aber wie, so fragt er sich später immer wieder, ist es ihr gelungen, ihn zu finden, sie, die doch stockblind ist?! Dass ihre Schicksale miteinander verbunden sind, wird ihm erst später klar. Aber was findet sie überhaupt an ihm?

Mein Eindruck

Die zarte Liebesgeschichte zwischen Lukas und Sonja ist nur die eine Seite einer Handlung, die zunehmend wie eine psychologische Fallgeschichte auf mich wirkte und die obendrein auch noch ein Porträt der Stadt München, von unten betrachtet, sein will. Mit psychologischen Fallgeschichten hat Ani aus seiner Tätigkeit als Zivi und Reporter eine Menge entsprechender Erfahrungen, darf man annehmen. Lukas wird durch die eingestreuten Familienszenen als runder Charakter gezeichnet, der seine eigene Realität mit ins Spiel bringt.

Dies und das Straßenleben der Stadt ist zwar in seiner Gesamtheit die von Lukas erlebte Realität, ohne welche die Liebesgeschichte unglaubwürdig und kitschig wirken würde. Doch mir wäre eine Konzentration der Handlung auf die Lovestory lieber gewesen. Der Emotionsgehalt der Story wäre wesentlich höher und somit unterhaltsamer gewesen.

Blind-Flug

Wie auch immer: Es gibt viele bewegende und komische Szenen, die im Bild sehr viel besser wirken, als wenn man sie liest oder vorgetragen bekommt. Die Handlung ist eben so filmisch erzählt. Da ist beispielsweise die Szene, in der Lukas versucht, wie ein Blinder die Leopoldstraße hinunterzugehen, eine der Haupteinfallstraßen ins Münchner Zentrum. Er erntet für seines blindes Herumstolpern nicht nur jede Menge blaue Flecke, sondern auch dämliche Kommentare.

Schließlich fällt er auch die Treppe zur U-Bahnstation Giselastraße hinunter. Zu den blauen Flecken kommen nun auch noch Prellungen und blutende Kopfwunden hinzu. Hilfreiche Damen pflastern sie ihm flugs zu, so dass er wie eine Karikatur aussieht. Sehr uncool! Lukas nimmt Reißaus, auch wenn ihm ist, als müsse er sämtliche Knochen neu nummerieren. Er wundert sich – nicht zum letzten Mal – wie Sonja es bloß schafft, blind ihren Weg durch die Straßen zu finden.

Der Preis der Coolness

Das Coolsein ist oberstes Gebot für Lukas und seine Altersstufe. Das wird auch am Schluss wieder deutlich, als er seinen Schulkameraden Ringo wiedertrifft und supercoole Sprüche vom Stapel lässt. Aber das Coolsein, so muss Lukas erfahren, hat auch seinen Preis. Und der ist umso höher, je mehr Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in Gefühlsangelegenheit gefragt ist. Als er sich mit Sonja über solche Emotionen usw. unterhält, lügt er das Blaue vom Himmel herunter, um cool wirken zu können. Dafür fängt er sich von ihr nicht nur eine, sondern mehrere Ohrfeigen ein. Erstaunlich, wie gut eine Blinde zielen und treffen kann.

Eine gelernte Lektion

Es herrscht also großer Wiedergutmachungsbedarf. Nachdem er wieder einmal den Kontakt zu ihr verloren hat, fällt ihm ein winziges Detail ein, das als Spur zu ihr zurück dienen kann. Er kommt sich vor wie ein supercooler Detektiv. Sie hatte sich einen Kinofilm angekreuzt: „The Killer“. In der Zeitungsanzeige stand auch das Kino und die Uhrzeit der Vorstellung, und so kann er sie überraschen. Als Sonja und Vanessa den Kinosaal betreten, ist er schon da – talk about Hase und Igel! Da Sonja ihn nicht abweist, wird es eine richtig gute Kinovorstellung, während der er ihr die Bilder „malen“ darf …

Der Geschmack von Licht

Sonja bleibt auch gar nicht passiv, sondern erzählt ihm, sie könne ihn im Traum sehen. Das ist eine neuartige Sache, findet Lukas. Wie erleben Blinde die Welt? Um ihr zu zeigen, wie schön die Welt sein kann, führt er sie auf den Opernplatz in der Maximiliansstraße, unweit des Rathauses. Und durch diese Demonstration erweitert sich sein eigener Begriff von der Wirklichkeit. Wow, so schmeckt also echtes Licht! Endlich ist Lukas in der Wirklichkeit angekommen und braucht nicht mehr auf Godot zu warten.

Der Sprecher

Heikko Deutschmann hat bei diesem Hörbuch einen relativ gewöhnungsbedürftigen Tonfall gewählt. Es handelt sich ja um ein Jugendbuch, und daher bemüht er sich um einen möglichst jugendlichen Tonfall. Doch damit dieser nicht kindlich, sondern „cool“ wirkt, darf die Stimme des Ich-Erzählers weder hoch noch schnell klingen, sondern vielmehr langsam und halbwegs tief. Das ist also unter „cool“ zu verstehen. Auf mich als Erwachsenen hatte dieser Tonfall jedoch die Wirkung einer Schlaftablette. Ich musste mich zwingen, die CDs nach der ersten Disc anzuhören, um herauszubekommen, wie es mit Lukas weitergeht. Die Spannung ist recht bescheiden, denn es passiert ja bis zu seinem Badeunfall nichts.

Ein zweiter Faktor, der sich auf Deutschmanns Vortrag auswirkte, ist da schon nachvollziehbarer. Da Lukas gerade 14 Jahre alt geworden ist, befleißigt er sich nicht der Sprache der Erwachsenen, schon gar nicht der seiner Bücher. Vielmehr redet er Umgangssprache. Und wenn irgendwelche Jungs und Mädels seiner Altersstufe ähnlich wie er salopp oder sogar bekloppt daherreden, so bekommen wir das eins-zu-eins überliefert.

Abwechslung bringen auch Lukas‘ zahlreiche Bekanntschaften in den Vortrag. An erster Stelle ist hier natürlich Sonja zu nennen. Die leicht erhobene Stimmlage, die Deutschmann dazu einsetzt, wirkt nicht bemüht, sondern plausibel. Er übertreibt es nicht mit der weiblichen Tonlage und klingt an keiner Stelle wie Charleys Tante. „Sonja“ klingt am besten, wenn sie Lukas etwas zuflüstert, so etwa in der Szene, in der sie zusammen im Kino sitzen. (Wieso geht eine Blinde ins Kino? Die Antwort muss man selbst lesen bzw. hören.)

Landstreicher, Skinheads, Taxifahrer, Lukas‘ Opa, Kellnerinnen und viele mehr verlangen dem Sprecher eine stimmliche Flexibilität ab, die beeindruckend ist. Dennoch hätte ich mir diese Stimmen in schnellerer Abfolge gewünscht, um meine Aufmerksamkeit wachzuhalten. München leuchtet – okay, aber leider nur im Halbschlaf.

Über Musik und Geräusche verfügt diese Lesung nicht, so dass ich sie nicht weiter zu erwähnen brauche.

Unterm Strich

„Wie Licht schmeckt“ ist eine ebenso bewegende wie komische Geschichte, und die Verfilmung erfolgte völlig zu Recht. Glaubwürdig wird Lukas‘ Liebesgeschichte durch die Einbettung in eine Fallstudie, die psychologische Beobachtungen und weitere bewegende Szenen umfasst. Zu den ebenso realistischen wie komischen Szenen gehören Lukas‘ Erlebnisse in der Stadt. Dennoch ist er vor seiner Begegnung mit Sonja selbst noch ein seelischer Pilger, der ein Ziel sucht. Das ändert sich erst nach einschneidenden Erlebnissen mit Sonja, zu denen auch eine Nahtoderfahrung gehört. Diese Geschichte lohnt sich für jeden Leser und Hörer.

Mit dem Vortrag des Sprechers war ich jedoch alles andere als zufrieden. Er schaffte es einfach kaum jemals, meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Das lag meines Erachtens an seinem – vielleicht angemessenen – Bemühen um jene Coolness, die Lukas selbst als Ideal des Pilgers ansieht. Dass diese Coolness einen Preis hat, muss er ebenso wie der Hörer erfahren. Ich bin bei dem Hörbuch mehrmals fast eingeschlafen. Doch der Hörer zahlt zudem einen nicht unbeträchtlichen finanziellen Preis, und daher ist das ein wenig unfair.

312 Minuten auf 4 CDs
ISBN-13: ‎978-3899032543