Alpers, Hans J. / Fuchs, Werner / Hahn, M. Ronald / Munsonius, Jörg M. / Urbanek, Hermann – Lexikon der Fantasy-Literatur

Das „Lexikon der Fantasy-Literatur“ auspacken, heißt zuerst einmal: Gewicht stemmen! 1.600 Gramm lebendige Fantasy wuchtet das Autorenteam auf die Waage. Der erste Eindruck ist bekanntlich oft der gewichtigste, aber bei diesem Lexikon trifft das eben in besonderer Weise zu. Dagegen sehen Schmalschinken wie das selige „Lexikon der Science-Fiction-Literatur“, das anno dazumal im |Heyne|-Verlag erschien, auf den ersten Blick ein wenig schwach auf der Brust aus, doch ein zweiter Hingucker relativiert die Euphorie: Heynes Büchlein im Taschenformat umfasste knapp 1.300 Seiten. Na ja, behandelt werden 400 Autoren, dieses Fantasy-Lexikon dürfte numerisch mehr zu bieten haben (nein, ich zähle nicht nach, und einen Hinweis auf die Anzahl der Autoren habe ich nirgendwo entdecken können).

Wo ich gerade von Format spreche, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass |FanPro| sich nicht hat lumpen lassen. Das Lexikon kommt in einer sehr stabilen, offensichtlich für dauerhaften Gebrauch konzipierten Gestaltung mit sehr schön aufbereiteten Cover und einer soliden Verarbeitung daher. Während eben Gebrauchsbücher wie das eben genannte SF-Lexikon rasch aus den Fugen geraten, spricht bei |FanPro|s Foliant vieles dafür, dass es bis zu einer möglichen Neuauflage seine ansehnliche Form beibehalten wird. Bei dem zu Recht verlangten Preis käme mir das sehr entgegen.

Gleich zum Preis, denn ob ich zu Anfang die Leut erschrecke oder zum Schluss: gesagt werden muss es. 60 Euronen sind kein Pappenstiel und schnell mal aus der Portokasse rausgeschüttelt. Umgerechnet sind das beinahe passgenau drei vom neuen Hohlbein („Anubis“ zu 19,90). Mal nachgedacht: auf den Hohlbein verzichtet, dann noch zwei andere Bücher in der selben Qualitätslage, die ich nach einmaligem Lesen vielleicht zufrieden, vielleicht auch nicht beiseite lege und für immer vergesse, stattdessen einen richtig spannenden Schmöker gekauft namens „Lexikon der Fantasy-Literatur“ … das lässt sich wahrlich überlegen. Mir jedenfalls fiele die Entscheidung förmlich in den Schoß, und sie wöge 1,6 Kilo …

Aber für einen solchen Kauf bedarf es guter Gründe. Einer wäre, |FanPro| für das lobenswerte Wagnis zu belohnen, in Zeiten des allgegenwärtigen Internets und der grassierenden Googlemanie, die den Bedürftigen mit Informationen zuschüttet, jedenfalls vieles zugänglich macht, was bislang verborgen oder nur schwer erreichbar war. Brauche ich das Lexikon als Interessierter dann überhaupt?

Ich bin mir sicher: ja! Ich recherchiere auch gerne und manchmal zu häufig via Internet. Es kommt – die Erfahrung macht ein jeder – sehr viel zusammen, was sich gar nett liest, ausgedruckt ergäbe das für einen x-beliebigen Autor beispielsweise, dem man einen Nachmittag über die ganze Welt hinterherjagt, gleich einen netten Stapel an Papier. Infos in Hülle und Fülle – aber ist das sinnvoll? Leider nicht immer, einerseits sind viele Informationen nicht verifiziert, jeder Hansel (Entschuldigung, wenn sich jemand angesprochen fühlt) kann nun geradewegs behaupten, Arnie Schwarzenegger sei der Autor der Conan-Geschichten über einem österreichischen Bauern-Barbaren, der gar nicht fiktiv ist, sondern lebt, und wer den sehen möchte, müsse nur das Fitness-Center am Fiaker-Markt frequentieren. Okay, deutlich gesagt: Wer gibt mir die Sicherheit, dass die Informationen von Hinz und Kunz zutreffen, echt sind, verlässlich? Niemand, und deshalb genügt eine schnelle (oder auch zeitraubende) Internet-Recherche nicht, um zuverlässig Details herauszuarbeiten.

Beim vorliegenden Print-Lexikon gehe ich davon aus, dass durch den profilierten Mitarbeiterstab eine gewissenhafte Aufarbeitung des Datenmaterials erfolgt ist, demzufolge alle Inhalte so weit stimmen und ich mich darauf verlassen kann, die Angaben auch zitieren zu können. Bei Internet-Informationen dünkt mir das eher ein Drahtseilakt zu sein, bei dem ich permanent ganz schön auf die Schnauze fallen kann.

Der profilierte Mitarbeiterstab bedarf einiger Worte, obwohl die Erwähnung von Alpers, Hahn und Urbanek jedem Kundigen den Pfad aufzeigt: da sind Urgesteine der phantastischen Sekundärliteratur (und darüber hinaus) am Werke, die sich im Genre auskennen und wissen, wo es langgeht. Sie werden begleitet von weiteren Mitarbeitern, die sich der Legion an Autoren angenommen haben: Dr. Florian F. Marzin, Heinz Jürgen Galle, Gustav Gaisbauer oder Dr. Franz Rottensteiner sind, wie die Mehrzahl der übrigen auch, so lange im Metier unterwegs, dass erstklassige Arbeit erwartet werden darf.

Diese Arbeit eröffnet sich dem Leser natürlich erwartungsgemäß. Die Autoren werden alphabetisch sortiert gelistet. Bei Pseudonymen erfolgt ein Verweis auf den Autor; unter Pseudonym geschriebene Titel werden entsprechend zugeordnet und benannt. Ein erläuternder Text befasst sich in unterschiedlichem Umfang mit den wichtigen Werken. Danach folgen die deutschen bibliographischen Einträge, wobei Serien gesondert aufgeführt werden. Fremdsprachige Veröffentlichungen eines Autors werden unter diesen Einträgen nicht gelistet (was auch wegen des Umfangs gar nicht möglich wäre), die Originalveröffentlichungen werden jedoch im biographischen Teil genannt. Sollte ein Autor Genre übergreifend tätig sein, werden nur seine Fantasytitel aufgeführt.

Sachbücher, die für die Fantasy-Literatur von Bedeutung sind (zum Beispiel Dr. Helmut Pesch: „Fantasy – Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung“), wurden als Ausnahmen ebenso eingebunden. Einige Autoren ohne deutsche Veröffentlichungen wurden wegen ihrer Bedeutung gleichfalls aufgenommen.

Im Anhang notiert wurden weiterhin wichtige Fantasy-Preise und ihre Preisträger („Deutscher Fantasy Preis“, „Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar“, „World Fantasy Award“) sowie eine Auflistung der Serien mit Fantasythema.

Den Einstieg in die Materie gewinnt der Leser durch vier Artikel von Florian F. Marzin und Rainer Nagel: „Quellen der Fantasy-Literatur“ (Marzin), „Die Geschichte der Fantasy-Literatur“, „Reiche und Welten der Fantasy-Literatur“ und „Die Artuslegende“ (jeweils Nagel).

Der Stoff reicht für nächtelanges Lesen! Und es macht wirklich Freude, einfach aufs Geradewohl durch die Seiten zu wandern, irgendwo springt einem doch wieder ein Fakt ins Auge, den man so nicht kannte oder nicht mehr in Erinnerung hatte. Zudem ist es erstaunlich, wie viele deutschsprachige Autoren Fantasyromane geschrieben haben – wobei ein Bonmot des Lexikons dabei augenscheinlich wird. Es wurden nicht bloß die großen Verlage wie |Heyne|, |Goldmann| oder |Klett-Cotta| mit Aufmerksamkeit bedacht, sondern auch die als „Book on Demand“ oder in Kleinverlagen erschienenen Bücher. Wer dabei desavouiert knurrt, dass die Leserschaft solcher Romane so überschaubar ist wie der Big-Brother-Zoo, der sei besänftigt: ich hab lieber ein wenig zu viel, als ein bisschen zu wenig. Autorenbeschreibungen, die mich nicht interessieren, die kann ich ignorieren. Autorennamen, die dagegen wichtig sind und fehlen, die würde ich schmerzlich vermissen. Nach meinem Dafürhalten ist das Lexikon wirklich umfassend, ich wäre aber nicht überrascht, wenn wegen der Unüberschaubarkeit des Genres nicht doch der eine oder die andere Autorin durchgerutscht wäre (aber davon wird der Verlag sicherlich schnell informiert, wie ich die sehr wissende Leserschaft einschätze).

Nach diesen lobenden Worten könnte vielleicht doch die Frage auftauchen, ob es nicht irgendetwas zu mäkeln geben würde. Na ja, es muss ja noch etwas zu verbessern geben …

Beispielsweise hätte ich mir mehr Ausführlichkeit bei den vier Artikeln gewünscht. Wenn schon sekundärliterarische Beiträge, dann ähnlich ausgiebig wie im zuvor erwähnten Science-Fiction-Lexikon, bei dem diese Kapitel knapp 140 Seiten aufs Papier bringen. Okay, da mag dann der Preis die entscheidende Rolle spielen, aber etwas dezidierter hätten die Ausführungen zu den einzelnen Subgenres „High Fantasy“, „Heroic Fantasy“, „Dark Fantasy“ und so weiter ausfallen können (wodurch zeichnet sich „Sword & Sorcery“ aus, welche Vertreter repräsentieren die Linie von ihren Anfängen bis heute), damit ein Nicht-Fantasy-Fachmann die einzelnen Autoren und ihre Werke eindeutig bewerten kann. Rainer Nagel pflegt dies in seinen Beitrag „Die Geschichte der Fantasy-Literatur“ zwar ein, überlässt aber dann die Definition beispielsweise von „epischer Fantasy“ dem Leser. Das sagte mir beim SF-Epigonen doch besser zu, bei dem Spielarten wie die „Space Opera“ durchaus eingehend begutachtet und auch in ihren Ausprägungen bewertet wurde.

Bewertungen der Romane sucht man im Übrigen meist vergebens, weil dies auch nicht unbedingt beabsichtigt war, wie die Herausgeber im Vorwort betonen: „Die Information steht dabei über der kritischen Bewertung.“ Das ist in Ordnung, aber andererseits auch schade. Ich hätte sehr gerne einige sicherlich nicht unsüffisante Bemerkungen von Ronald M. Hahn gelesen, bei dem ich eine eher kritische Haltung zur Fantasy erwarte. Wie amüsant etwas Derartiges sich dann liest, beweist „Das neue Lexikon des Horrorfilms“ …

Viele Portraits zieren Fotos der Autoren, aber nach meinem Geschmack hätten die besonders bei den zeitgenössischen Vertretern etwas reicher an Land gezogen werden können. Insbesondere bei den deutschen Autoren sollte dies doch möglich sein. Es lockert ja nicht nur auf, sondern untermalt auch das Bild vom Autor, das sich beim Leser aufbaut und das sich hinter der Biographie verbirgt.

Und warum Robert Jordan ein Schattendasein mit einer mageren Randnotiz fristet, obwohl seine „Wheel of Time“-Serie ohne Frage internationale Relevanz für die Fantasy besitzt (und wovon die unzähligen Internetseiten beredt Zeugnis ablegen, die sich speziell mit der Welt beschäftigen), Wolfgang Hohlbein dagegen 2 ½ Seiten in Beschlag nimmt, das ist eines der großen Mysterien der Fantasy-Literatur. Na ja, es veranschaulicht eben, dass manche Beiträge auch sehr von den Vorlieben oder Nachforschungen der Lexikon-Verfasser abhängig sind.

Und: Der Redaktionsschluss ist mir entweder durch die Lappen gegangen – oder er fehlt als Angabe doch tatsächlich. Der gehört aber in ein solches Werk, um den Stand der Aktualität erfassen zu können.

Natürlich sind das Peanuts, die unter den Tisch fallen, wenn das Lexikon in seiner Gesamtheit betrachtet wird. Und dabei gibt es nichts zu deuteln, das „Lexikon der Fantasy-Literatur“ ist ein bedeutendes Stück Sekundärliteratur, das sich zwischen Tolkien und Leiber so richtig wohl fühlt –am liebsten aber durchgeblättert werden will. Diejenigen Fantasy-Leser, die über das reine Konsumieren hinaus Interesse an der Literatur haben, etwas erfahren wollen über die Autoren und ihr Schaffenswerk, Nachschlagen möchten, wer wann welche Bücher beim Verlag publizierte, der wird bestens verköstigt. Ein dicker Prachtband, der rundum satt macht.

Und bitte keine Ausflüchte von wegen „teuer“: Dieses Lexikon gehört einfach in jeden Bücherschrank.

_Karl-Georg Müller_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|