J. G. Ballard – Der Garten der Zeit. Die besten Erzählungen

Vom Totenkutscher und der Marswüste in Florida

Diese Auswahl versammelt 14 Erzählungen des britischen Erzählers J.G. Ballard. So manche bekannte Story ist darunter, aber auch weniger gute, bei denen sich der Kenner fragt, was sie hier zu suchen haben. Texte aus der „Atrocity Exhibition“ sucht man hier vergeblich, und das lässt sowohl auf Selbstzensur wie auch Berücksichtigung des Massengeschmacks schließen.

„Ich glaube an den Tod von morgen, an die Erschöpfung der Zeit, an unsere Suche nach einer Zeit, die im Lächeln der Kellnerinnen in Autobahnraststätten liegt, in den müden Augen der Fluglotsen aus verlassenen Flughäfen. „Ich glaube an das Nichtvorhandensein der Vergangenheit, den Tod der Zukunft und die unerschöpflichen Möglichkeiten der Gegenwart.“ (Klappentext)

Der Autor

James Graham Ballard wurde 1930 als Sohn eines englischen Geschäftsmannes in Schanghai geboren. Während des Zweiten Weltkrieges, nach der japanischen Invasion, war seine Familie drei Jahre in japanischen Lagern interniert, ehe sie 1946 nach England zurückkehren konnte. Diese Erlebnisse hat Ballard in seinem von Spielberg verfilmten Roman „Das Reich der Sonne“ verarbeitet, einem höchst lesenswerten Buch.

In England ging Ballard zur Schule und begann in Cambridge Medizin zu studieren, was er aber nach zwei Jahren aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen. Bevor er dies hauptberuflich tat, war er Pilot bei der Royal Air Force, Skriptschreiber für eine wissenschaftliche Filmgesellschaft und Copywriter (was auch immer das sein mag) an der Londoner Oper Covent Garden.

Erst als er Science-Fiction schrieb, konne er seine Storys verkaufen. Ab 1956 wurde er zu einem der wichtigsten beiträger für das Science-Fiction-Magazin „New Worlds“. Unter der Herausgeberschaft von Autor Michael Moorcock wurde es zum Sprachrohr für die Avantgarde der „New Wave“, die nicht nur in GB, sondern auch in USA Anhänger fand.

Ballard und die New Wave propagierten im Gegensatz zu den traditionellen amerikanischen Science-Fiction-Autoren wie heinlein oder Asimov, dass sich die Science Fiction der modernen Stilmittel bedienen sollte, die die Hochliteratur des 20. Jahrhunderts inzwischen entwickelt hatte – zu Recht, sollte man meinen. Warum sollte ausgerechnet diejenige Literatur, die sich mit der Zukunft beschäftigt, den neuesten literarischen Entwicklungen verweigern?

Doch was Ballard ablieferte und was Moorcock dann drucken ließ, rief die Politiker auf den Plan. Seine Story „The assassination of John Fitzgerald Kennedy considered as a downhill motor race“ (1966) rief den amerikanischen Botschafter in England auf den Plan. Ein weiterer Skandal bahnte sich an, als er Herausgeber von „Ambit“ wurde und seine Autoren aufrief, Texte einzureichen, die unter dem Einfluss halluzinogener Drogen verfasst worden waren. Seine härtesten Texte, sogenannte „condensed novels“, sind in dem Band „The atrocity exhibition“ (1970) zusammengefasst, dessen diverse Ausgaben in den seltensten Fällen sämtliche Stories enthalten…

Seither hat Ballard über 150 Kurzgeschichten und etwa zwei Dutzend Romane geschrieben. Die ersten Romane waren Katastrophen gewidmet, aber derartig bizarr und andersartig, dass sie mit TV-Klischees nicht zu erfassen sind. Bestes Beispiel dafür ist „Kristallwelt“ von 1966, das ich hier aber nicht darlegen möchte, sondern ich verweise auf meine entsprechende Rezension. Äußere Katastrophen (wie die Kristallisierung des Dschungels) wirken sich auf die Psyche von Ballards jeweiligem Helden aus und verändern sie.

Dabei stehen die vier Romane „The Wind from Nowhere (1962), „The Drowned World“ (1962), „The Drought“ (Die Dürre, 1964) und schließlich „The Crystal World“ (1966) sinnbildlich für Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, ausgedrückt durch die Metaphern Luft, Wasser, Feuer und Erde/Diamant (Kristall). (Zur Symbolik siehe den Essay von David Pringle in diesem Band.)

J. G. Ballard war der Ansicht, dass das wichtigste Gebiet, das es zu erforschen gelte, nicht die Weiten des Weltalls seien, sondern Inner Space: die Erde und die Seelen der Menschen, die sich auf ihrem sich wandelnden Antlitz bewegen. So hat er unter anderem das Kriegsgebiet Beirut, die überwachte Vorstadt, Cape Canaveral nach dem Ende des Raumfahrtzeitalters beschrieben. Amerikaner würden ihm darob Pessimismus, wenn nicht sogar Ketzerei vorwerfen, aber das stimmt nicht: Sein Anliegen gilt nicht äußerlichem Erfolg, um Zufriedenheit zu erlangen; sein Streben gilt der Untersuchung der künftigen Bedingungen für die Existenz des Menschen – und diese Bedingungen liegen allzu oft in dessen Seele, im Inner Space. Ballard starb 2009.

Die Erzählungen

1) Prima Belladonna (1971)

Steve hat in Vermilion Sands einen ganz besonderen Musikladen: Bei ihm singen Pflanzen die Musik. Die sind natürlich speziell gezüchtet. Die Promadonna unter seinen Pflanzen ist eine Khan-Arachnid Orchidee, die eigentlich von der gleichnamigen Spinnen befruchtet wird. Steves Freunde Harry und Tony halten die Orchidee für brünstig, weil sie so kapriziös ist.

Eines Tages taucht die Sängerin Jane Ciracylides in der Künstlerkolonie auf. Jane hat hat eine goldene Haut, die sie gerne freizügig zeigt. Sie trägt nur einen Metallhut und hat nicht mal ihr Radio an: Sie singt ja selbst – und wie! Ihr Gesang ruft – zumindest in den männlichen – Zuhörern Halluzinationen hervor. Harry und Tony glauben, Steve vor einem Kaiserskoprion retten zu müssen. Das Merkwürdigste an Jane ist nicht die Tatsache, dass sie beim i-Go-Spiel mogelt, sondern dass ihre Augen aus Insekten bestehen.

Kaum bemerkt sie in Steves Laden die Arachnid-Orchidee, verliebt sie sich auf der Stelle in sie. Die fatalen Folgen bleiben nicht aus …

Mein Eindruck

Der Autor bedient sich des Konzepts der Synästhesie, um mehrere Phänomene innovativ zu verknüpfen. Janes Gesang etwa ruft optische Erscheinungen hervor. Pflanzen erzeugen akustische Klänge für Musik. Er geht noch weiter: Frauen wie Jane sind in Wahrheit Insekten, und ihre natürliche Bestimmung ist die Vereinigung mit einer Orchidee. Das ist eine sehr erotische Vorstellung. Das wiederum ist für Ballard nicht ungewöhnlich, wenn man an seinen Roman „Crash“ denkt. Die Ironie in der Story – Janes Gesang verursacht Steve hohe Pflanzenverluste – macht sie jedoch nicht nur sinnlich, sondern auch amüsant.

2) Der illuminierte Mann (1964)

„Am Tage flogen phantastische Vögel durch den erstarrten Wald, und edelsteinbesetzte Krokodile glitzerten wie heraldische Salamander an den Ufern des kristallinen Flusses. Nachts jagte der leuchtende Mann unter den Bäumen hin, die Arme wie goldene Wagenräder, der Kopf wie eine gespenstische Krone …“

Diese zwei Sätze sind dem Text vorangestellt und enthalten Berits die Essenz. Obacht: Das englische Wort „spectral“ ist hier doppeldeutig gebraucht: es bedeutet sowohl ‚in Spektralfarben schillernd‘ als auch ‚gespenstisch‘!

Ein astronomisches Phänomen, genannt eine „Doppel-Galaxie“, führt in sumpfigen, waldreichen Gegenden der Erde zu einem sonderbaren Phänomen: die Kristallisierung. Die US-Regierung lädt eine internationale Kommission zur Beobachtung des Phänomens in den Everglades von Florida ein. James, der Brite, ist unser Chronist. Er wird begleitet von mitunter eindeutigen, aber auch zwielichtigen Gestalten.

Florida musste bereits fast vollständig evakuiert werden: 3 Mio. Einwohner sind fortgezogen, um der sich ausbreitenden Zone der Kristallisierung zu entkommen. Und den massenhaft auftretenden Polizisten, Soldaten und Ministerialbeamten. Einer so flapsig und bezeichnet die Zone als „Hubble bubble, double trouble“.

Ein Militärkordon umgibt die betroffene Region, doch schließlich wird es James erlaubt, die Zone zu betreten, um selbst zu sehen, was da vor sich geht. Er stellt fest, dass das Pflanzen- und Tierleben des tropischen Sumpfwaldes durch eine Art „Krankheit der Zeit“ heimgesucht wird, die dazu führt, dass das Leben ebenso wie die Zeit praktisch einfriert. Der Wald ähnelt nun einer riesigen Kristallgrotte, die funkelt, blitzt und blendet. Die Beschreibungen, die James findet, sind von geradezu hypnotischer Macht.

Doch es bleibt nicht beim passiven Funkeln. Dieser Effekt überträgt sich auf die Besucher. Es beginnt mit harmlos aussehenden Sprenkeln, doch dann …

Mein Eindruck

Diese Erzählung bildet den gesamten zweiten Teil des Romans „Die Kristallwelt“. Es ist die Symbolkraft eines bizarren Bildes, die der Autor bis zum Maximum gesteigert. Transformation ist das Ziel von Ballards zersetzender Sprache. Da wird ein abgestürzter Helikopter zu einem kristallen funkelnden Fabeldrachen; ein juwelenüberzogenes Krokodil; ein Mann, der aus dem Dschungel in halbkristallisiertem Zustand gezogen wird, rennt blutüberströmt zurück in das betroffene Gebiet; der Priester Balthus nimmt die Form eines Gekreuzigten an, als das Schiff seiner Kirche allmählich kristallisiert; Dr. Sanders findet Leprakranke, deren Körper ihn nun an farbenfrohe Harlekins erinnern; ein eingeborener Krieger, der in eine Krokodilshaut gekleidet ist, besteht teils aus Mensch, teils aus Tier.

Der Literaturkritiker David Pringle ist der Ansicht, dass es sich bei „Kristallwelt“ um einen metaphysischen Thriller handelt, über den menschlichen Drang, eine Welt jenseits der Gesetze der Zeit zu suchen: zeitlose Zeit, also Ewigkeit. Den Hinweis liefert im Text der Protagonist James selbst, indem er aus Wordsworths Kindheitserinnerungen zitiert. Das Kind Wordsworth erlebt die Welt in „prismatischem Licht“ (durch ein Prisma gebrochen) und andere Menschen erscheinen ihm daher „illuminiert“.

Das ist der Ursprung des Titels „Der illuminierte Mann bzw. Mensch“. In vielen Übersetzungen wird fälschlicherweise von einem „erleuchteten Mann“ gesprochen, als habe das etwas mit „Aufklärung“ (enlightenment) zu tun. Das ist nicht der Fall.

Es geht aber auch um die Notwendigkeit, dabei das eigene bisherige Ich zu verneinen, um eine solche Welt betreten zu können. Der Protagonist verhält sich in den Episoden des Gesamtromans in keinster Weise wie die Helden herkömmlicher Katastrophenromane: Er kämpft nicht gegen das Unglück an, um Neues aufzubauen, sondern lässt sich von ihm im Unterbewusstsein anziehen. Die Kristallzone ist nicht körperlich, sondern ein geistig-seelischer Zustand, ein „inner space“.

Ballard war der Ansicht, dass das wichtigste Gebiet, das es zu erforschen gelte, nicht die Weiten des Weltalls seien, sondern Inner Space: die Erde und die Seelen der Menschen, die sich auf ihrem sich wandelnden Antlitz bewegen. Die literarische Reise dorthin bietet weder noch Action noch Abenteuer, aber dennoch reihenweise Aha-Effekte, wenn man so platt formulieren will. Dieses Aha entsteht allein durch die Sprache. Und diese ermöglicht erst die erstaunliche Verwandlungen, die sich dem geistigen Auge des Lesers bieten.

Das bedeutet keineswegs, dass es in dieser Erzählung keine Handlung gäbe. Das Gegenteil ist der Fall. Neben all den Wundern der Kristallisierung muss ja auch die Titelfigur auftreten. Dies ist Charles Foster Marquand, einer der Expeditionsmitglieder. Er weill seine Frau Esmeralda zurückgewinnen, die zu dem Sheriff des betroffenen Bezirks geflohen ist, weil Marquand viel zu besitzergreifend war. Es fliegen blaue Bohnen, und es gibt Opfer zu beklagen.

3) Der finale Strand (The Terminal Beach, 1964)

Der frühere Bomberpilot Traven hat seine Frau und seinen Sohn bei einem Unglück verloren. Etwas treibt ihn dazu, das verlassene Eniwetok-Atoll zu besuchen, wo er strandet. Das Atomversuchsgelände ist eine gespenstische Szenerie, in der er sich notgedrungen einrichten muss. Kameratürme ragen wie Obelisken in den verstrahlten Himmel, und hunderte von Betonblöcken säumen die Seen um den Bodennullpunkt.

Zwischen ihnen richtet er sich ein, wird schwächer, halluziniert seine Familie. Zwei Biologen besuchen ihn, doch die Erholung durch ihre Medikamente ist nur zeitweilig. Vor einem Navy-Suchtrupp versteckt er sich erfolgreich. Mit der Leiche eines japanischen Bomberpiloten – Dr. Yosuda – verständigt er sich über Familien im Osaka des Jahres 1944, vor exakt 20 Jahren. Die Leiche leistet ihm stille Gesellschaft, bis es mit Traven auf dem Endzeitstrand zu Ende geht.

Mein Eindruck

Diese Condensed Novel verschmilzt auf faszinierende Weise Metaphern aus Natur, Philosophie und Physik. So ist etwa von „quantaler Zeit“ die Rede. Die zentrale Metapher aber ist der Endzeitstrand selbst: Er ist das in die Gegenwart geworfene Menetekel eines künftigen Post-Atomkrieg-Szenarios, den Lebenden zur Warnung. Doch da Traven alles Lebenswerte genommen worden ist, begibt er sich freiwillig in den psychischen Sog dieser Todeszone.

Dort nimmt er einerseits das Schicksal der Strahlentoten eines Atomkriegs vorweg, wiederholt aber auch das Schicksal der Ermordeten von Hiroshima, die von Dr. Yosuda verkörpert werden. Das Bild eines zyklischen Geschichtsverlaufs welches auch in Millers „Lobgesang auf Leibowitz“ gezeichnet wird – ist der reine Horror: Der Mensch ist offenbar unfähig, aus seinen Fehlern zu lernen und gezwungen, sie zu wiederholen.

4) Der tote Astronaut (1976)

Das Raumfahrtzeitalter ist vorüber. Die Startrampen von Cape Canaveral steht da wie tote Mahnmale. Doch die Sumpfgegend ist alles andere als leer, wie die Groves wohl wissen: Reliquienjäger schnappen sich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, um es zu verscherbeln. beispielsweise Leichen von abgestürzten Astronauten.

Wegen eines ganz bestimmten Astronauten, der in wenigen Tagen hier abstürzen wird, sind die beiden Groves hergekommen. Die Jäger schmuggeln sie ins Sperrgebiet, gegen einen saftigen preis, versteht sich. Sie wollen hier Judiths Sohn Robert Hamilton in Empfang nehmen, wenn er aus seiner jahrelangen Umlaufbahn endlich runterkommt. Robert ist schon seit Jahren, als er diesen Unfall hatte, tot.

Doch der Absturz seiner Kapsel und die anschließende Bergung der Überreste, verfolgt von Wachmannschaften der Regierung, verlaufen anders als geplant. Es gibt eine riesige Explosion, alle gehen in Deckung. Nur eine Schuhschachtel voll bleibt von den Überresten. Diese Schuhschachtel hat es in sich. Wenig später fallen Judith die Haare büschelweise aus und ihre Haut beginnt, sich silbern zu verfärben …

Mein Eindruck

Mit seiner Geschichte von Leichenfledderei, einer tragischen Verehrung und eines fiesen Verrats zerstört der Autor jede Romantik, die dem Raumfahrtzeitalter noch angehaftet haben mag. Die Story ist sehr stimmungsvoll, wenn auch auf bedrückende Weise. Eine zutiefst humane Spannung baut sich auf, als die Erwartung der makabren Landung steigt. Statt langatmiger Wehleidigkeit besticht die Geschichte durch ein Gleichgewicht von Aktion und Betrachtung. Der finale Horror wird lediglich dezent angedeutet, und der Leser muss sich einbringen, um alles zu verstehen.

5) Die Kommsat-Engel (The Comsat Angels, 1976)

Ein freischaffender BBC-Redakteur stößt auf eine sehr merkwürdige Verschwörung. Seit Anfang der fünfziger Jahre wurde etwa alle zwei Jahre über ein neues Wunderkind mit einem IQ über 200 berichtet. So wie er jetzt selbst über das französische Wunderkind Georges Duval berichtet. Aber aus der Sendereihe wird nichts, weil alle diese Wunderkinder in der Versenkung verschwunden sind. Kein einziges steht für ein Interview zur Verfügung.

Sein BBC-Redakteur Charles Whitehead zeigt ihm, was aus den jungen Männern geworden ist: Sie stehen hinter den Schalthebeln der Macht, aber nicht an ihnen: In der Sowjetunion, der US-Regierung, im Vatikan, so als seien sie geschätzte Berater der Mächtigen. Überall verhinderten sie Kriegsausbrüche.

Es sind genau ein Dutzend. Als in Israel der neueste Fall eines Wunderkindes gemeldet wird, ist für unseren Reporter der Fall klar. Die verheißene Rückkehr des Messias steht an. Am Himmel suchen Astronomen nach Zeichen und Wundern …

Mein Eindruck

Diese packende Story über das Second Coming von Jesus ist so detailgenau und glaubwürdig geschrieben, dass es dem Leser nicht schwerfällt, die unglaubliche Pointe zu schlucken. Der Autor kennt das Geschäft des Fernsehens offenbar genau, ebenso auch die politische Landschaft der Welt um 1968. Aber haben die zwölf Apostel oder „Kommsat-Engel“ wirklich ihre friedenstiftenden Finger im Spiel? Der Leser muss selbst entscheiden.

6) Billennium (1976)

John Ward und Peter Rossiter machen in der Welt, auf der sich 20 Milliarden Menschen maximal vier Quadratmeter pro Nase teilen, eine umwerfende Entdeckung: ein völlig leeres Zimmer mit den ungeheuren Dimensionen von 4,5 x 4,5 qm! Es liegt hinter einer Art Tapetentür, vor der sie sich ihre Wohnnische geteilt haben. Das ist natürlich jetzt nicht mehr nötig: das Paradies liegt sozusagen direkt vor ihrer Nase.

Doch ihre zwei Bekannten, Judith und Helen, sitzen – mal wieder auf der Straße. Der Maximalwohnraum ist von der Regierung auf 3 qm herabgesetzt worden, und die Vermieter schlagen Kapital daraus. John und Peter laden die beiden ein, bei ihnen einzuziehen. Aber Judiths will, dass auch ihre Tante … null problemo! Und dann kommt auch noch Helens Vater hinzu, und im Handumdrehen fühlt sich alles wieder richtig „normal“ an…

Mein Eindruck

Auf ihre dezent satirische Weise verarbeitet die bekannte, vielfach abgedruckte Erzählung die Vorhersage des Club of Rome, wonach bei einer jährlichen Wachstumsrate von 3% das Bevölkerungswachtum beängstigende Ausmaße annehmen werde. Genau diese Ausmaße schildert die Geschichte auf ganz konkrete, unaufgeregte Weise. Merke: So schockierend es auch erscheinen mag, so kann sich der Mensch doch daran gewöhnen, auch in einem Besenschrank zu wohnen.

7) Die Stimmen der Zeit (1960)

Nach den oberirdischen Atomversuchen auf dem Eniwetok-Atoll breitet sich in der Welt eine seltsame Krankheit aus, der immer mehr Menschen zum Opfer fallen. Es handelt sich um eine schlafähnliche Betäubung. Die Dauerschläfer müssen in Regierungseinrichtungen untergebracht und von Neurochirurgen untersucht werden. Einer von diesen Ärzten ist Dr. Powers in Oak Ridge, dessen Tagebuch wir lesen und dessen Werdegang wir verfolgen.

Er trauert ein wenig seinem Kollegen Whitby nach, der Selbstmord beging. Whitby schrieb über Eniwetok und ritzte in den Boden eines Schwimmbecken ein vierstrahlige Sonne wie eine Mandala. In genau diesem Schwimmbecken findet Powers einen mutierten Frosch: Er hat zum Schutz vor den radioaktiven Strahlen einen bleihaltigen Panzer entwickelt.

Powers wird von drei Menschen mit Sorge beobachtet. Dr. Anderson rät ihm kürzerzutreten, was Powers schwerfällt, obwohl er zunehmend mehr Schlaf benötigt – seine Tage werden kürzer. Die anderen beiden sind ein ehemaliger Powers-Patient namens Kaldren und dessen Freundin, die er Coma nennt. Der von Powers am Gehirn operierte, völlig schlaflose Kaldren sammelt Endzeitphänomene, darunter auch die Countdown-ähnliche Botschaften, die Observatorien von bestimmten Sternen aufgefangen haben: die „Stimmen der Zeit“. Nähert sich das Universum seinem Ende?

Whitby hat einen ausgefeilten Apparat, das Maxitron, gebaut, um das im Erbgut gesperrte Genpaar verschiedener Lebewesen zu „befreien“. Powers setzt das Maxitron u. a. an einem Schimpansen ein, der so klug wird wie ein fünfjähriges Kind – und an sich selbst. Mit einem bemerkenswerten Ergebnis: In einer Art Apotheose nimmt er parapsychologischen Kontakt mit den Sternen auf und hört ihre Stimmen ganz direkt. Klar, dass das nicht gut geht.-

Mein Eindruck

Diese Story habe ich mir zum Schluss aufgehoben, aus gutem Grund: Sie erweist sich als ziemlich lang, sehr komplex und recht sperrig. Wer zum ersten Mal Ballard liest, wird an ihr verzweifeln. In sie hat der Autor alles Mögliche hineingepackt, und alles aufzuführen, würde zu weit führen. (Gut möglich, dass auch die uralte Übersetzung von anno 1973 das Ihre dazu beiträgt.) Aber das optimistische Ende verleiht der ansonsten reichlich resignativen Endzeitstimmung eine positive Wendung, die auch all die Rätsel beantwortet, die der Autor dem Leser stellt.

8) Der Sandkäfig (1967)

Ende des 21. Jahrhunderts ist das Raumfahrtzeitalter längst traurige Vergangenheit. Vielmehr hat sich ganz Florida aufgrund von eingeschleppten Mars-Viren und Tonnen von Marssand in eine Wüste verwandelt, die vom vorrückenden Atlantik zurückerobert wird. Auf einem schmalen Streifen Land zwischen dem Meer und dem Golf überleben drei Menschen in einem von der Seuchenbekämpfungsbehörde der UNO abgesperrten Areal, dem Sandkäfig.

Paul Bridgman ist der frühere Chefarchitekt für die erste Marssiedlung – die von der Konkurrenz gebaut wurde. Travis ist ein Astronaut, der beim Start die Nerven verlor und aus dem Satellitengeschäft ausstieg. Louise Woodward ist die Witwe eines Astronauten, der seit Jahren in seiner Kapsel die Erde umrundet und wahrscheinlich schon längst tot ist. Er und die anderen toten Kosmonauten sind die letzten Satelliten der vom Marssand und den Viren verwüsteten Erde.

Das Trio wohnt in einem der letzten Hotels von Cape Canaveral, das noch nicht gänzlich von roten Marssand begraben worden ist. Es ist stets auf der Hut vor den Menschenfängern der Seuchenbekämpfungsbehörde, die mit ihren Wächtern in dieses letzte Reservat von Infizierten vordringt. Doch wie lange wird das noch gutgehen? Schon wächst der Zaun um das Reservat immer höher; schon bald gibt es kein Entkommen mehr.

Als einer der fliegenden Särge just in der verbotenen Zone auf die Erde kracht, spitzen sich die Ereignisse zu …

Mein Eindruck

Diese klassische Raumfahrtstory bildet zugleich den kritisch-melancholischen Abgesang auf diese gewaltige Unternehmung des Menschen. Ja, wir haben den Mars erreicht – aber er auch uns: Die Invasion vom Mars, von H. G. Wells 1897 in Bilder gefasst, hat tatsächlich stattgefunden und die Erde zu einer roten Wüstenei verunstaltet. Die Mikroben, die einst die Marsianer besiegten, sie haben die Menschen besiegt. Was für eine makabre Ironie.

Die Frage ist, warum Bridgman im Reservat geblieben ist. Bei Louise Woodward ist das Motiv klar: Sie wartet auf die Wiederkehr ihres toten Mannes auf die Erde. Travis liebt sie und verbündet sich gegen Bridgman mit ihr. Doch der Architekt findet endlich heraus, warum er hier auf dem Abstellgleis der Geschichte geblieben ist: Der Mars war der Ort seiner Wünsche. Und als ein Astronauten mit seinem fliegenden Sarg in die Erde kracht, als brächte er diese Wünsche zurück, sieht Bridgman seine Träume erfüllt: „Wir haben es geschafft!“ triumphiert er, als ihn die Menschenfänger einsacken.

Im Anschluss sollte man „Der tote Astronaut“ lesen.

9) Der Garten der Zeit (1962)

Graf Axel lebt mit seiner Klavier spielenden Frau in einer prächtigen Villa, zu der ein See und ein bemerkenswerter Garten gehören: In diesem Garten wachsen die Zeitblumen. Eine Zeitblume speichert in ihrer kristallinen Struktur Zeit und wenn Graf Axel eine Blüte bricht, so dreht er die Zeit ein wenig zurück, mal eine Stunde, mal nur wenige Minuten, je nach der Größe und Reife der Blume.

Diesmal bricht er wieder eine, denn über die Anhöhe des Horizonts drängt eine Lumpenarmee auf die Villa zu, die alles in ihrem Weg zu zertrampeln und zu zerstören droht. Schwupps, ist die Armee wieder auf den Horizont zurückgeschlagen. Aber das nicht ewig so weitergehen. Leider sind nur noch ein halbes Dutzend Zeitblumen im Garten der Zeit verblieben. Seine Frau bittet ihn, die letzte Blüte für sie übrigzulassen …

Als die Lumpenarmee den Garten erobert und die Villa plündert, findet sie nur noch eine Ruine vor, der Garten ist verlassen und verwildert. Nur mit größter Vorsicht umgehen die namenlosen Plünderer ein Dornendickicht, das zwei Steinstatuen umschließt: einen Mann und eine edel gekleidete Frau, die eine Rose in der Hand hält …

Mein Eindruck

Das Szenario des Grafen und seiner Gräfin in ihrem Garten aus konservierter Zeit sind eine elegische Metapher auf die gesellschaftliche Überholtheit der adeligen Klasse. Sie huldigt Idealen von Schönheit, die dem „Lumpenproletariat“ – ein begriff von Marx & Engels – völlig fremd sind. Dieses sucht lediglich materielle Werte, zerstört Bilder und Musikinstrumente ebenso wie Bücher, um Heizmaterial zu erhalten. Der Gegensatz ist klar: Bei den Adeligen bestimmt das Bewusstsein das Sein, bei den Proleten ist es umgekehrt: der Materialismus triumphiert. Die hinfort gespülte Klasse existiert nur noch als Statuen, genau wie heutzutage.

Ein SF-Autor also, der der Revolution das Wort redet? Wohl kaum, denn sonst würde er den zerbrechlichen Zeitblumen solche schönen Worte widmen, die an Poesie nichts zu wünschen übriglassen. Er trauert den vergangenen Idealen nach, doch der Garten macht seine eigene Aussage: Sobald die letzte Blume vergangen ist, bricht die aufgeschobene Zeit mit aller Macht über die Adeligen ehrein und lässt sie zu Stein erstarren. Wie immer bei Ballard ist dieser abrupte Übergang überhaupt nicht kommentiert oder gar einer Erwähnung wert. Der Leser muss ihn sich dazudenken.

10) Jetzt: Null (1967)

Der Ich-Erzähler hat eine mysteriöse Macht über Leben und Tod entdeckt – und das ohne einen Teufelspakt eingehen zu müssen. Er selbst hat eine ganze Weile dafür gebraucht herauszufinden, worin sie besteht, wie sie wirkt und welche Grenzen ist gesetzt sind. Das Beste daran: Sie ist kinderleicht auszuüben.

Er hatte genug davon, ständig von seinem Chef gedemütigt zu werden, also schrieb er eines Tages im Tagebuch seinen Frust von der Seele und setzte in einem Anfall von Wunschdenken ein Todesdatum für seinen Chef fest. Zu seiner eigenen Verwunderung starb dieser zur bezeichneten Stunde auf die bezeichnete Weise. Doch statt nachrücken zu dürfen, wird er übergangen – zweimal. Beide Nachfolger finden ein vorzeitiges Ende. Allmählich wird die Polizei auf ihn aufmerksam und beginn herumzuschnüffeln, nachdem auch seine Vermieterin, die hässliche alte Schachtel, den Löffel abgegeben hat.

Statt ins Direktorium usw. aufzusteigen, macht seine Firma dicht. Na, so was! Das war nicht geplant, doch in seiner neuen Firma stehen die Chancen für den Aufstieg nicht schlecht – wenn er ein klein wenig nachhilft. Auch sonst – in der Einflugschneise, in der Heimatstadt – sieht unser Mann noch viele Betätigungsfelder durch gewisse Notizen. Das Beste hat er sich aber für diese GESCHICHTE aufgehoben …

Mein Eindruck

„Die Feder ist mächtiger als das Schwert“ – dieser alte Wunschgedanke wird in dieser Erzählung wahr, und zwar auf eine sowohl schwarzhumorige als auch gruselige Weise. Die Briten, das ist bekannt, frönen dem schwarzen Humor, und je mehr Leichen sich in einer Geschichte stapeln, umso besser finden sie sie. Doch unser Autor und sein Erzähler drehen de Spieß um: Diesmal wird die Geschichte selbst zur Tatwaffe – und wer möchte Motiv und modus operandi nachweisen? Eine Story mit einer sehr treffenden Pointe.

11) Die tote Zeit (1982)

August 1945 in der Umgebung von Shanghai, das die Japaner selbst noch nach der Kapitulation ihrer Streitkräfte besetzt halten. Über fliegen die amerikanischen Bomber und Jäger. Der Chronist, eine Brite aus der ausländischen Kolonie der Stadt, hat drei Jahre im japanischen Internierungslager verbracht und erlebt nun eine sehr sonderbare Stunde Null.

Die Internierten sollten zwar eigentlich frei sein, doch die japanischen Soldaten sehen das nicht ein. Unser Chronist wird in einem Stadion dazu abkommandiert, fünfzig erschossene Internierte nach Sutschau in ein protestantisches Lager zu fahren. Er und Hodson, ein internierter Tankstellenbesitzer, transportieren eine grausige Fracht durch ein Land, das keinem mehr gehört … Werden sie ihr Ziel je lebend erreichen oder enden wie wie ihre Fracht?

Mein Eindruck

Der geschichtliche Hintergrund dieser Erzählung ist der gleiche wie in Ballards Roman „Das Reich der Sonne“ von 1982, den Stephen Spielberg verfilmte. Aber die Entwicklung der Hauptfigur geht weit über eine „realistische“ Darstellung hinaus und es wäre ein Fehler, sie an Maßstäben des realistischen Erzählens zu messen.

Zunächst dachte ich, der Kutscher der Toten sei eine moderne Version des antiken Totenschiffers Charon aus der griechischen Unterwelt. Dies stellte sich bald als Irrtum heraus. Er gesellt sich den Toten hinzu und überlebt dadurch den Überfall von Banditen. Nun sind die Toten seine Gefährten, er wird einer von ihnen. Die letzte Zutat, die noch fehlt, um ihn übermenschlich zu machen, ist, dass er sein Fleisch einem (toten?) Kind als Nahrung gibt und seinen Samen bald dem Gemeinwesen der Toten zur Verfügung stellen wird. Mit seiner Ankunft erstehen die Toten wieder auf, und die Zukunft des Landes ist gesichert.

Letzten Endes also hebt die Metapher der Geschichte, die den Totenkutscher zu einer Erlöserfigur werden lässt, die Handlung auf eine religiös-metaphysische Ebene. Der Übergang ist fast unmerklich, und darin liegt die Kunst des Autors. Zugleich macht er eine humanistisch-politische Aussage: China wird erst leben, wenn er es seiner Toten gedacht hat – und zwar aller, auch der der Ausländer.

12) Der ewige Tag (1967)

Die Erde hat ihre Rotation fast eingestellt. Daher hat jede Weltgegend ihre eigene fest zugewiesene Tageszeit. In Afrika westlich von Tunis ist es höllisch heiß, doch östlich von Finnland wachsen die Gletscher. Dazwischen gibt es einen schmalen Korridor, die Dämmerungszone um den Terminator herum, der tag und Nacht trennt. Hier leben noch Menschen.

Halliday kommt aus dem norwegischen Trondheim. Weil er aber bei ewiger Mitternachtssonen nicht schlafen und träumen kann, reist er ins tunesische Columbine Sept Heures. Wie der Name schon sagt, ist es hier immer sieben Uhr abends. Nachdem er den Arzt Dr. mallory und die Malerin Leonora Sully kennengelernt hat, rückt die Nacht vor und seine träume beginnen. Sie handeln alle von einer Ruinenstadt, durch die eine rätselhafte Frau schreitet.

Kaum sind Mallory und Sully der Dämmerungszone nach Westen gefolgt, taucht eben jene rätselhafte Dame aus Hallidays Träumen in Columbine auf. In ihrem weißen Mercedes wird Gabrielle Szabo von einem buckligen Chauffeur herumgefahren, der, wie sich herausstellt, eine Pistole besitzt. Nun vollzieht sich ein Drama, in dem sich die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt auflöst …

Mein Eindruck

Wie sich am Schluss herausstellt, gibt es eine Vorgeschichte zwischen Dr. Mallory und Gabrielle – eine weitere Dreiecksgeschichte, die an die Plotkonstruktionen der Vermilion-Sands-Geschichten Ballards erinnert. Aber wichtiger ist die Ausarbeitung der Begriffe Schlaf/Traum/Wachen, innen/außen, Stillstand/Bewegung, Zeit/Raum/Zeitlosigkeit.

Dies ist wie „Der illuminierte Mann“ eine Story, in der der Autor Kategorien entgrenzt und aufhebt. Er setzt etwas Neues an ihre Stelle, ein Umschreiben des gewohnten Paradigmas also. Dabei spielt die Frage keinerlei Rolle, ob der Stillstand eines Himmelskörpers physikalisch möglich ist oder nicht. (Tatsächlich gibt es Theorien, dass der Erdtag vor Jahrmillionen wesentlich länger war, so wie die Rotationsachse der Erde vor Jahrmillionen auf Sigma Draconis zeigte statt auf Polaris.)

13) Der unterbewusste Mann (The Subliminal Man, 1967)

Der Konsumterror hat seinen Höhepunkt erreicht, als der Psychiater Dr. Franklin alle drei Monate ein neues Auto kauft. Dass er unterschwelligen Kaufbefehlen gehorcht, merkt er erst durch seinen Patienten Hathaway. Der ist den Geräten auf die Spur gekommen, die diese Botschaften verbreiten: rieisige elektrisch betriebene Schilder. Er selbst will sie zerstören.

Als Franklin eines Tages die zwölfspurige Schnellstraße entlangschleicht, gerät er in einen Stau, der sich vor einem der neuen Schilder gebildet hat. Autofahrer gaffen einen Mann an, der an einem Seil von einem der Riesenschilder herabhängt. Es ist Hathaway, erkennt Franklin, als er aussteigt und nähertritt. Das Schild zeigt jetzt einen eindeutigen Kaufbefehl. Als die Polizei eintrifft, fällt ein Schuss und Hathaway stürzt in die Tiefe …

Mein Eindruck

Die Story verbindet eine konkrete, dramatisch aufgebaute Handlung mit einer durchdachten Argumentation gegen die Mechanismen des in den sechziger Jahren aufkommenden Konsumterrors. Die Werbung übernimmt das Fernsehen und beginnt, ihre unterschwelligen Tricks anzuwenden (z. B. mehr oder weniger nackte Frauen zu zeigen, um Seife zu verkaufen). Später arbeitete Ballard solche Kritik breiter aus, etwa in seinem Roman „Die Betoninsel“ (1974), in dem ein Autofahrer auf einer Grüninsel auf einem Autobahnkreuz strandet und nicht mehr entkommt.

14) Die Konzentrationsstadt (Concentration City, 1967)

Franz Matheson muss verrückt sein. Davon sind zumindest die Polizei und deren Arzt überzeugt. Wie sonst wäre es zu erklären, dass nach zwei Dingen suchen, die es in der STADT nicht geben kann: freier Raum und Fortbewegung durch Fliegen. Da die Stadt die ganze Welt bedeckt und somit weder Anfang noch Ende hat, sollte man meinen, dass auch ein Typ wie Franz M. sich überzeugen ließe, dass seine zwei Ideen sinnlos sind.

Doch nein. Er hat, ganz legal, den Schlafzug genommen und ist zehn Tage nach Westen gefahren – um dann festzustellen, dass sich der Zug auf einmal nach Osten bewegt. Sehr merkwürdig. Seine Aufregung führte denn auch zu seiner Festnahme. Nur dass er nichts weiter verbrochen hat, als von unmöglichen Dingen zu träumen.

Doch Franz M. weiß, dass es möglich ist, an nur einem Tag die halbe Stadt zu durchqueren und am selben Tag und am selben Ort wieder anzulangen. Mit anderen Worten: Es gibt kein Entkommen aus der Hölle, und so etwas wie freien Raum wie es allenfalls in den toten Zonen unten am Fuß der Stadt …

Mein Eindruck

Der Autor hat scheinbar eine Idee von Isaac Asimov aufgegriffen, die dieser in seinen drei FOUNDATION-Romanen (1950ff) verarbeitete: die planetenweite Stadt Trantor. Die Weiterentwicklung ist typischer Ballard, denn er hat Kafka darauf angewendet: Franz M., der auch K. heißen könnte, tut etwas Absurdes, indem er „freien Raum“ sucht, um dort zu „fliegen“.

Ballards Beschreibung der STADT erinnert an Terry Gilliams Film „Brazil“ oder an „Blade Runner“: Die Wohnebenen – so etwas wie Straßen gibt es schon längst nicht mehr – rangen ewig hinauf, und die Qualität einer Umgebung wird nach dem Preis des Kubikfußes bemessen, nicht etwa nach Quadratmetern. Wie in „Brazil“ gibt es Polizeiaktionen gegen Verbrecher. Hier werden sie „Pyros“, also Pyromanen, genannt. Die Aktionen demolieren Häuser so gründlich, dass sie abgerissen und ersetzt werden müssen. Das ist kostengünstige Stadtentwicklung unter dem Deckmantel der Verbrechensbekämpfung. Klar, dass dabei auch die Preise steigen. Die Stadt ist also ein einziges großes KZ.

Die Übersetzung

Es gibt Unmengen von Druckfehlern. Diese werde ich daher nicht auflisten. Aber die Ausdrucksfehler kann ich nicht unkommentiert stehen lassen.

S. 84: „Mißgeburt“ statt „Fehlgeburt“, eine unkorrekte Eins-zu-eins-Übersetzung von „miscarriage“.

S. 186: „Circuswolken“ statt „Cirruswolken“

S. 263: „Discount“ statt Rabatt, Sonderangebot

Anmerkung zur Liste auf S. 97: Mit „Robert Silverberg“ und Arturo Bandini“ befinden sich zwei bekannte Buchautoren unter den „Genies“.

Unterm Strich

Die 14 ausgewählten Text bieten einen halbwegs guten Überblick über Ballards Werk zwischen 1960 und 1982. Dass Ballard, der führende Autor der New Wave in der SF, natürlich auch davor und fast 30 Jahre danach noch Stories veröffentlichte, sollte der Leser vielleicht beachten. Das Story-Gesamtwerk findet man in den Heyne-Bände „Die Stimmen der Zeit“ und „Vom Leben und Tod Gottes“.

Tiefpunkt

Die Qualität der hier gesammelten Texte ist recht unterschiedlich, und wer genau hinschaut, der bemerkt auch, dass manche Erzählungen nicht so ganz mit den anderen mithalten können. Den absoluten Tiefpunkt stellt für mich „Jetzt: Null“ dar. Dies ist im Grunde eine Fantasystory mit Schauerelemente. Ihr Niveau entspricht dem heutiger Fanfiction und die Handlung, eine boshafte Wunscherfüllungsphantasie, entspricht heute der gewohnter Dutzendware auf Story-Plattformen im Internet. Ein bekanntes Beispiel dafür ist „50 Shades of Grey“.

Highlights

Die Höhepunkte sind dünn gesät und dementsprechend anspruchsvoll. „Der illuminierte Mann“ ist ein Romanauszug aus „Die Kristallwelt“, und „Der finale Strand“ stellte eine „condensed novel“ dar, einen „verdichteten Roman“. Beide Texte sind durchaus stilistisch, sprachlich und inhaltlich anspruchsvoll.

Durchweg sollte sich der Leser bereits mit Phänomenen wie verzerrter bzw. aufgehobener Zeit, Raumfahrt, Kriegsführung und dem 2. Weltkrieg beschäftigt haben. Auch Erscheinungen wie Übervölkerung, Platznot und unterschwellige Werbebotschaften spielen eine Rolle. Ballard ist im Unterschied zu viele seiner zeitgleichen US-Kollegen viel näher dran an der Gegenwart. Siehe dazu sein oben zitiertes Credo, seinen Glauben an die „unerschöpflichen Möglichkeiten der Gegenwart.“

Lücken

Was völlig fehlt, sind fast alle Erzählungen aus „Vermilion Sands“ und sämtliche aus „The Atrocity Exhibition“, deutscher Titel „Liebe und Napalm: Export USA“. Vielleicht waren die Kunstvisionen aus „Vermilion Sands“ zu anspruchsvoll? Dass die Erzählungen aus „Atrocity Exhibition“ fehlen wundert mich nicht. Geschichten mit dem Titel „Warum ich Ronald Reagan ficken will“ oder „Plan für die Ermordung von Jacqueline Kennedy“ könnte durchaus Anstoß erregen. Heute ist der moralische Sprengstoff kaum noch vorhanden, und den surrealistischen Stil à la Alfred Jarry dürften heute nur noch wenige Leser verstehen bzw. zu würdigen wissen.

Ich habe die Texte mit gemischten Gefühlen gelesen. Die meisten sind leicht verständlich und auf Handlung ausgerichtet, andere wieder auf bizarre Eindrücke, mit einerm Schuss makabrer Ironie. Die zahlreichen Druckfehler und fehlerhaften Ausdrücke haben mir aber den Spaß verdorben.

Broschiert: 298 Seiten
Info: Suhrkamp, 1990, Frankfurt/Main
>us dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3518382523

www.suhrkamp.de

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