J. G. Ballard – Kristallwelt. Phantastischer Roman

Das Innere Afrika ist von seltsamen Kristallen überzogen. Im Dschungel herrscht der Leuchtende Mann.

Wie schon in „The Drowned World“ und „The Drought“ hat Ballard die Welt, wie wir sie kennen, transformiert und sie mit seinen gewaltigen sprachlichen Mitteln zu einem fremden Planeten gemacht, in dem sich neue Wesen tummeln. „Kristallwelt“ zu lesen, verwandelt den Leser selbst: nicht etwa durch die kaum vorhandene Handlung, sondern durch die Konfrontation mit eben jener transformierten Wirklichkeit. In seinen besten Passagen erinnert das Buch an Joseph Conrads „Heart of Darkness“.

Handlung

Doktor Edward Sanders, ein Fachmann auf dem Gebiet der Leprakrankheit, kommt im westafrikanischen Hafen von Port Matarre an. Er wurde von einem Freund zum Kommen aufgefordert, der ihm hin und wieder fragmentarische Berichte geschickt hatte, dass der Dschungel sich in Kristalle verwandle.

Bevor er sich auf die Fahrt den Fluss hinauf macht, begegnet Dr. Sanders einer Reihe von bemerkenswerten, um nicht zu sagen: merkwürdigen Gestalten, darunter einem Priester, der offenbar von einer unbestimmten Schuld gemartert wird, und einem trübsinnigen Architekten, der eine Pistole bei sich trägt. Sie alle werden aus unterschiedlichen Gründen von der geheimnisvollen Transformation angezogen, die sich weiter landeinwärts vollzieht.

Ein Militärkordon umgibt die betroffene Region, doch schließlich wird es Dr. Sanders erlaubt, das Gebiet zu betreten, um selbst zu sehen, was da vor sich geht. Er stellt fest, dass das Pflanzen- und Tierleben des Waldes durch eine Art „Krankheit der Zeit“ heimgesucht wird, die dazu führt, dass das Leben ebenso wie die Zeit praktisch einfriert. Der Wald ähnelt nun einer riesigen Kristallgrotte, die funkelt und blitzt. Die Beschreibungen, die Ballard für diese Phantasielandschaft gefunden hat, sind von geradezu hypnotischer Macht.

So weit der erste Teil des Buches mit dem Titel „Äquinoktium“ (d. i. Tagundnachtgleiche). Im zweiten Teil taucht ein Wesen namens |Der Leuchtende| auf. Beide Teile charakterisiert folgendes Zitat, das dem Buch vorangestellt ist und einen Eindruck von der Prosa vermittelt: |“Am Tage flogen phantastische Vögel durch den erstarrten Wald, und edelsteinbesetzte Krokodile glitzerten wie heraldische Salamander an den Ufern des kristallinen Flusses. Nachts jagte der leuchtende Mann unter den Bäumen hin, die Arme wie goldene Wagenräder, der Kopf wie eine gespenstische Krone …“| (Das englische Wort „spectral“ ist hier doppeldeutig gebraucht: Es bedeutet sowohl ‚in Spektralfarben schillernd‘ als auch ‚gespenstisch‘.¹)

Die Landschaftsbeschreibung erinnert mich an Coleridges berühmtes Gedicht „Kubla Khan“, das er im Opiumrausch erfunden haben will und in dem er unter anderem das wunderbare Xanadu in glühenden Farben malt.

Sprachmagie

Die Handlung, so viel dürfte schon klar geworden sein, ist von geringer Bedeutung. Die Stärke des Buches liegt in seiner visuellen Bildkraft, den Szenen, bei denen Ballard sein Können ausspielen kann.
Man erinnere sich nur an eine der vielen bizarren Szenen in Spielbergs Verfilmung seines Romans „Das Reich der Sonne“: Die enteigneten und deportierten westlichen Ausländer kommen durch ein Stadion, das mitten in der Steppe steht und in dem die japanischen Besatzer all die enteigneten Besitztümer der Westler als Beute gelagert haben: Die Flüchtlinge verhungern neben ihren Rolls-Royces.

Genau diese Symbolkraft eines bizarren Bildes ist in „Kristallwelt“ bis zum Maximum gesteigert. Allein schon der einleitende Absatz stapelt Bilder, Farben und Symbole des Todes übereinander, dass der Leser weiß: Dies ist das Tor zur Hölle. Die ihr hindurchgeht, lasst alle Hoffnung fahren! (Dante, „Inferno“)

Transformation ist das Ziel von Ballards zersetzender Sprache: Da wird ein abgestürzter Helikopter zu einem kristallen funkelnden Fabeldrachen; ein juwelenüberzogenes Krokodil; ein Mann, der aus dem Dschungel in halbkristallisiertem Zustand gezogen wird, rennt blutüberströmt zurück in das betroffene Gebiet; der Priester Balthus nimmt die Form eines Gekreuzigten an, als das Schiff seiner Kirche allmählich kristallisiert; Dr. Sanders findet Leprakranke, deren Körper ihn nun an farbenfrohe Harlekins erinnern; ein eingeborener Krieger, in Krokodilshaut gekleidet, ist teils Mensch, teils Tier.

Der Zyklus

„Die Kristallwelt“ ist Teil einer Trilogie von Katastrophenromanen, deren andere Teile ich schon oben genannt habe: The Crystal World, The Drowned World, The Burning World (Alternativtitel von „The Drought“) sind die Opfer der Ur-Elemente Erde, Wasser und Feuer. „The Wind from Nowhere“ gehört mit zum Zyklus und ist auch in dem |Heyne|-Sammelband „Zeit endet“ (1991) enthalten. Dieses Buch ist thematisch dem Element Luft zugeordnet.

Hinter dem Zyklus steckt noch mehr, wenn man den Worten des Autors glauben darf (wem sonst?). Drowned World steht für die Vergangenheit, Crystal World für die zeitlose Zeit und Burning World für die Zukunft. Ihnen sind die Metaphern Wasser, Diamant und Sand zugeordnet. In späteren Romanen wie „Highrise“ und „Concrete Island“ kommt noch die Gegenwart hinzu, vertreten durch die Metapher Beton (concrete).

David Pringle ist der Ansicht, dass es sich bei „Kristallwelt“ um einen metaphysischen Thriller handelt, über den menschlichen Drang, eine Welt jenseits der Gesetze der Zeit zu suchen. Es geht aber auch um die Notwendigkeit, dabei das eigene bisherige Ich zu verneinen, um eine solche Welt betreten zu können – siehe oben Dantes Motto. Der Protagonist verhält sich in keiner Weise wie die Helden herkömmlicher Katastrophenromane vor allem britischer Provenienz: Er kämpft nicht gegen das Unglück an, um Neues aufzubauen, sondern lässt sich von ihm im Unterbewusstsein anziehen.

Bezeichnenderweise ist für Doktor Sanders seine Weiterreise flussaufwärts keine Niederlage, sondern seine Erfüllung, wenn er in dem kristallisierten Gebiet aufgeht: Die Verschmelzung mit der Natur ist sein Ziel. Möglicherweise um sowohl die Getrenntheit von der Natur wie auch die Unterwerfung unter die Zeit zu überwinden. Die religiösen Untertöne dürften deutlich sein. Anders als Marlow bei Joseph Conrad in „Heart of Darkness“ findet Sanders nicht das Grauen, sondern die Transzendenz, die Transformation.
Eine mögliche Fortsetzung ließe sich in Ballards viel späterem Roman „The Day of Creation“ sehen: Hier findet ein Afrikaforscher die wichtigste Quelle auf Erden und verändert so das Antlitz der Welt.

Der Autor

Ballard war der Ansicht, dass das wichtigste Gebiet, das es zu erforschen gelte, nicht die Weiten des Weltalls seien, sondern der Inner Space: die Erde und die Seelen der Menschen, die sich auf ihrem sich wandelnden Antlitz bewegen. So hat er unter anderem das Kriegsgebiet Beirut, die überwachte Vorstadt, Cape Canaveral nach dem Ende des Raumfahrtzeitalters beschrieben. Amerikaner würden ihm darob Pessimismus, wenn nicht sogar Ketzerei vorwerfen, aber das stimmt nicht: Sein Anliegen gilt nicht äußerlichem Erfolg, um Zufriedenheit zu erlangen; sein Streben gilt der Untersuchung der künftigen Bedingungen für die Existenz des Menschen – und diese Bedingungen liegen allzu oft in dessen Seele, im Inner Space.

Wer beachtet, dass 1966 das Buch zu einer Zeit erschien, als der Vietnamkrieg schon in vollem Gange war, der liegt wohl nicht ganz falsch, wenn er meint, dass dieses Buch auch jenen Kriegern etwas zu sagen hat, die dort im Dschungel einer transformierenden Realität begegnet sind.

James Graham Ballard wurde 1930 als Sohn eines englischen Geschäftsmannes in Schanghai geboren. Während des Zweites Weltkrieges, nach der japanischen Invasion, war seine Familie drei Jahre in japanischen Lagern interniert, ehe sie 1946 nach England zurückkehren konnte. Diese Erlebnisse hat Ballard in seinem von Spielberg verfilmten Roman „Das Reich der Sonne“ verarbeitet, einem höchst lesenwerten Buch (s. o.).

In England ging Ballard zur Schule und begann in Cambridge Medizin zu studieren, was er aber nach zwei Jahren aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen. Bevor er dies hauptberuflich tat, war er Pilot bei der Royal Air Force, Skriptschreiber für eine wissenschaftliche Filmgesellschaft und Copywriter (was auch immer das sein mag) an der Londoner Oper Covent Garden.

Erst als er Science-Fiction schrieb, konne er seine Storys verkaufen. Ab 1956 wurde er zu einem der wichtigsten Beiträger für das Science-Fiction-Magazin „New Worlds“. Unter der Herausgeberschaft von Autor Michael Moorcock wurde es zum Sprachrohr für die Avantgarde der „New Wave“, die nicht nur in GB, sondern auch in USA Anhänger fand.

Ballard und die New Wave propagierten im Gegensatz zu den traditionellen amerikanischen Science-Fiction-Autoren wie Heinlein oder Asimov, dass sich die Science-Fiction der modernen Stilmittel bedienen sollte, die die Hochliteratur des 20. Jahrhunderts inzwischen entwickelt hatte – zu Recht, sollte man meinen. Warum sollte sich ausgerechnet diejenige Literatur, die sich mit der Zukunft beschäftigt, den neuesten literarischen Entwicklungen verweigern?

Doch was Ballard ablieferte und was Moorcock dann drucken ließ, rief die Politiker auf den Plan. Seine Story „The Assassination of John Fitzgerald Kennedy considered as a Downhill Motor Race“ (1966) rief den amerikanischen Botschafter in England auf den Plan. Ein weiterer Skandal bahnte sich an, als er Herausgeber von „Ambit“ wurde und seine Autoren aufrief, Texte einzureichen, die unter dem Einfluss halluzinogener Drogen verfasst worden waren. Seine härtesten Texte, sogenannte „condensed novels“, sind in dem Band „The atrocity exhibition“ (1970) zusammengefasst, dessen diverse Ausgaben in den seltensten Fällen sämtliche Storys enthalten … Seither hat Ballard über 150 Kurzgeschichten und etwa zwei Dutzend Romane geschrieben.

Mein Eindruck

„Kristallwelt“ bietet weder noch Action noch Abenteuer, aber dennoch reihenweise Aha-Effekte, wenn man so platt formulieren will. Dieses Aha! entsteht allein durch die Sprache. Und diese ermöglicht erst die erstaunlichen Verwandlungen, die sich dem geistigen Auge des Lesers bieten. „Kristallwelt“ ist ein Trip! Dieser Trip mag sich ein wenig hinziehen, doch man ist stets neugierig auf weitere Wunder und schließlich darauf, wie die Reise endet. Und sie endet nicht mit einem Absturz, sondern mit einem Abflug. Und deshalb erinnere ich mich immer noch gerne an dieses Buch, das ich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal gelesen habe.

¹: Das Zitat stammt aus der |Heyne|-Ausgabe. Die |Suhrkamp|-Ausgabe schreibt „spektralfarben“ statt „gespenstisch“. Hier hat sich der Übersetzer für die andere Bedeutung entschieden.

Taschenbuch: 176 Seiten.
ISBN-13: 978-3518373187.

www.suhrkamp.de