Anna Gavalda – 35 Kilo Hoffnung

Mit „35 Kilo Hoffnung“ begibt sich die französische Bestsellerautorin Anna Gavalda auf für sie eher ungewohntes Terrain. Kennt man sie hierzulande vor allem wegen ihrer beiden Romane „Ich habe sie geliebt“ und „Zusammen ist man weniger allein“ sowie aufgrund des Erzählbandes „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“, so hat sie 2004 mit „35 Kilo Hoffnung“ ein nicht minder bemerkenswertes Kinderbuch vorgelegt, das der WDR als Hörspiel produziert hat.

Zweisprachig

Beachtenswert ist dieses 51-minütige Hörspiel schon deswegen, weil es zweisprachig produziert wurde. CD 1 enthält die deutschsprachige Fassung, CD 2 die französische. So bekommt die schöne und herzliche Geschichte um den dreizehnjährigen David eine zusätzliche praktische Seite. Man wird ganz nebenbei dazu ermuntert, seine Französischkenntnisse ein wenig aufzupolieren.

Handlung

„35 Kilo Hoffnung“ dreht sich um den Schulversager David. David hasst die Schule wie nichts anderes in seinem Leben. Von Anfang an war die Schule ihm eine Gräuel. Seine Leidenschaft gilt eher dem Basteln. Schon seine Vorschullehrerin bescheinigt ihm in seinem Zeugnis: „Dieser Junge hat ein Gedächtnis wie ein Sieb, Finger wie eine Fee und ein riesengroßes Herz.“ Damit trifft sie den Nagel auf den Kopf. David bastelt mit viel Geschick und Liebe, während er in der Schule auf ganzer Linie versagt – in den Sprachen, in den Naturwissenschaften und vor allem beim Sport.

Niemand nimmt die kindliche Bastelleidenschaft von David so recht ernst, mit Ausnahme seine Großvaters Léon. Zusammen verbringen die beiden viel Zeit im Werkzeugschuppen des Großvaters – für David die schönsten Momente seines Lebens. Opa Léon versteht David. In den gemeinsamen Bastelstunden kann David seine Schulsorgen für eine Weile vergessen. Doch die Probleme lassen sich nicht immer verdrängen. Als David mit dreizehn wieder einmal von der Schule fliegt und kaum eine andere Schule Interesse daran zeigt, den Versager aufzunehmen, wird die Lage ernst.

David kann sich keine Schule vorstellen, in der er sich wohlfühlen würde, außer vielleicht das technische Internat, dessen Broschüre David in die Finger bekommt. Aber das ist viel zu weit weg. Noch bedrückender wird die Lage, als Opa Léon plötzlich schwer krank wird. Wie soll es für David nur weitergehen?

Mein Eindruck

Mit ihren bisherigen Romanen hat Anna Gavalda bereits sehr viel Gespür für ihre Figuren und deren Gefühlswelt bewiesen. Diese Feinfühligkeit wird auch beim Hören von „35 Kilo Hoffnung“ sehr greifbar. Anna Gavalda beweist erneut, dass sie ein Händchen für ihre Figuren hat und ein nicht minder ausgeprägtes Talent, Geschichten auf so menschliche Art und Weise zu erzählen, dass einem warm ums Herz wird. Wie so oft bei Anna Gavalda, geht es um einen Menschen in einer Problemsituation. Im Falle des dreizehnjährigen David drückt der Schuh in Sachen Schule, und die Art, wie Anna Gavalda dies dem Leser/Hörer vermittelt, wirkt sehr überzeugend und plastisch.

Davids Probleme mit der Schule werden sehr greifbar. Er ist nicht dumm, nur interessiert ihn das ganze Treiben in der Schule einfach nicht. In der Vorschule war er noch recht glücklich – kein Wunder bei einer Lehrerin, die sagt, dass jeder Tag, an dem man etwas mit seinen Händen erschafft, ein guter Tag ist. Für David gilt diese Philosophie schon, seit er denken kann, und so wirkt der rührende Moment, in dem David sich von seiner Vorschullehrerin verabschieden muss, wie eine Offenbarung an die erste große Liebe.

Danach geht es für David bergab. Er fügt sich nicht in die Klassengemeinschaft ein und flüchtet sich in die Rolle des Klassenclowns. Mit den Lachern auf seiner Seite, will er sich wenigstens ein Mindestmaß an Respekt verschaffen, denn wirklichen Respekt bekommt er sonst nur von Opa Léon. Die Eltern sind ratlos im Umgang mit David. Sie suchen nach Gründen für Davids Schulprobleme, gehen mit ihm von Arzt zu Arzt und versuchen ihm verzweifelt mit Druck Arbeitsmoral beizubringen – erfolglos.

Davids Gedanken in all diesem Chaos vermittelt Anna Gavalda sehr eindringlich. David wirkt wie mitten aus dem Leben gegriffen. Er hat Probleme, mit denen sich viele Kinder identifizieren können, so dass Anna Gavaldas Erzählung gerade auch für Kinder eine echte Bereicherung darstellt.

David nimmt sein Schicksal schließlich selbst in die Hand, anstatt sich weiter treiben zu lassen, und diese Entwicklung wirkt bis ins Mark glaubwürdig. Davids Geschichte ist weniger eine, die durch Problemschilderungen bedrückt, sondern mehr eine, die durch Problemlösungen Hoffnung aufkommen lässt und durch die Authentizität von Geschichte und Figurenzeichnung wird diese Hoffnung besonders greifbar.

Das Besondere an Anna Gavalda ist auch stets ihre Art zu erzählen. „Zusammen ist man weniger allein“ wird im Verlagstext beispielsweise mit „Die fabelhafte Welt der Amélie“ vergleichen. Die Poesie und Detailverliebtheit, die Anna Gavalda in ihrer Erzählweise an den Tag legt, lässt sich in der Tat mit den Darstellungsweisen von Jean-Pierre Jeunet bei „Amélie“ vergleichen. Und genau diese Poesie und Detailverliebtheit macht „35 Kilo Hoffnung“ ebenso wie die übrigen Gavalda-Erzählungen so unglaublich liebens- und lesenswert.

Anna Gavalda beschreibt die banalsten Alltäglichkeiten mit einer solchen Poesie, dass man als Leser ständig in sich hineinschmunzeln muss. Genauso ergeht es einem beim Hören von „35 Kilo Hoffnung“. Auch hier zaubert die Autorin dem Hörer ein fast permanentes Lächeln ins Gesicht. Und ich für meinen Teil muss gestehen, dass ich beim Ansehen von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ jedes Mal genau das gleiche Lächeln im Gesicht trage.

Anna Gavalda unterstreicht die Erzählung mit einem feinen, fast zärtlichen Sinn für Humor und offenbart so ihr großes Herz für die Entwicklung ihrer Figuren. Diese gehen uns im Verlauf der Geschichte wirklich nah. Ich habe bislang kaum eine Autorin erlebt, die mir so zielsicher und ohne Kitsch und Überdramatisierungen ein paar Tränen entlocken kann. Anna Gavaldas gefühlvolle Art zu erzählen, wird auch in der Hörspielproduktion von „35 Kilo Hoffnung“ spürbar.

Das Hörspiel

Die Hörspielproduktion des WDR weiß Anna Gavaldas Erzähltalent sehr schön erlebbar zu machen. Besonders die musikalische Untermalung prägt sich ein. Sie greift wunderbar die Emotionen auf, die die Erzählung mit sich trägt, und macht sie noch greifbarer. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern unterstreicht die Geschichte dezent und mit viel Gefühl. Auch die eingebundene Geräuschkulisse bleibt bei dezenter Untermalung, ohne zu viel Raum einzunehmen. So verbleibt der Erzählung viel Raum, sich zu entfalten und auf den Hörer zu wirken. Auch die Sprecherleistungen bieten keine Gelegenheit zur Kritik. Die Stimmen passen wunderbar zu den Figuren. Das gesamte Hörspiel erscheint ähnlich gefühlvoll inszeniert, wie die Geschichte geschrieben ist.

Was mich etwas verwundert, ist die Tatsache, dass es sich bei diesem zweisprachigen Hörspiel nicht um eine deutsch-französische Koproduktion handelt. Auch der französische Teil wurde vom WDR produziert und in exakt gleicher Weise inszeniert wie die deutschsprachige Variante. Dialoge, Musik, Geräuschkulisse – alles ist komplett analog zur deutschen Fassung, abgesehen davon, dass aus David plötzlich Grégoire wird. Das hat den Vorteil, dass sich das Hörspiel beim mehrmaligen Hören recht gut zum Aufpolieren eingerosteter Französischkenntnisse eignet. Selbst wer nicht bzw. nicht mehr viel Französisch spricht, verliert den roten Faden nicht, wenn er zuvor die deutsche Fassung gehört hat. Der französische Teil wurde mit Muttersprachlern aufgenommen und auch hier passen die Stimmen der Sprecher sehr gut zu ihren Rollen.

Unterm Strich

Bleibt alles in allem ein sehr guter Eindruck zurück. Mit „35 Kilo Hoffnung“ beweist Anna Gavalda auf eindrucksvolle Art, dass ihre feinfühlige und herzliche Erzählweise auch wunderbar für Kindergeschichten funktioniert – Kindergeschichten wohlgemerkt, die auch Erwachsenen ebenso viel Freude bereiten können. Mit der gleichnamigen WDR-Produktion legt der Audioverlag eine Hörspielvariante vor, die die Geschichte sehr schön vermittelt und in der Anna Gavaldas zu Herzen gehende Art zu erzählen ihre Entsprechung findet. Einen besonderen Reiz hat dabei sicherlich auch die zweisprachige Produktion, bietet sie doch genau den verlockenden Anreiz, den ich gebraucht habe, um endlich den jahrelang halbherzig gepflegten Vorsatz, meine völlig eingerosteten Französischkenntnisse wieder ein wenig auf Vordermann zu bringen, in die Tat umzusetzen. Merci beaucoup!

Die Autorin

Traurig, heiter, melancholisch, leicht: Die Titel von Anna Gavaldas Büchern klingen eher schlicht. „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“, hieß z. B. ihr erster Erzählband aus dem Jahre 1999, der sofort ein großer Erfolg wurde. Bis sie sich hauptberuflich dem Schreiben widmete, studierte sie Literaturwissenschaften an der Pariser Sorbonne, arbeitete in diversen Jobs – sie schrieb z. B. fiktive Heiratsanzeigen – und unterrichtete Französisch. Anna Gavalda wurde 1970 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren und lebt heute mit ihren Kindern im Department Seine-et-Marne. Ihr 2005 erschienener Bestsellerroman „Zusammen ist man weniger allein“ wurde – mit Audrey Tautou in der Hauptrolle – verfilmt. (Verlagsinfo)

2 CDs: CD1: Deutsch / CD2: Französisch

Als Audio-Ausgabe derzeit nicht erhältlich! (Stand: Juni 2016)

Als Buch erschienen bei Ars Edition und unter anderem bei Amazon.de zu bekommen.
ISBN-13: 978-3898134262