Philip Kerr – Der Tag X

Das geschieht:

1960 geht der Wahlkampf der beiden US-Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy und Richard Nixon seinem Höhepunkt entgegen. Tom Jefferson interessiert sich wenig für Politik. Zwar arbeitet Mary, seine Ehefrau, als Wahlhelferin im Kennedy-Tross, doch das lässt ihn kalt. Das ist sein üblicher Gemütszustand, denn Tom ist ein Auftragskiller. Mary weiß von seinem Job und billigt ihn; die Eheleute konnten in Fernost (Mary ist Asiatin, Tom war im Koreakrieg) vom russischen Geheimdienst KGB rekrutiert werden und tragen jeder auf seine Weise dazu bei, den Kapitalisten möglichst viel Schaden zuzufügen.

Tom wird für den „Hit“ seines Lebens angeheuert: ein Attentat auf Fidel Castro, der auf der Insel Kuba die Macht an sich gerissen hat. Seither ist Kuba sozialistisch und Castro, „der Bart“, in den USA der Staatsfeind Nr. 1. Noch stärker hassen ihn jene, die lange Jahre gutes Geld in den Casinos und Lasterhöhlen der Insel gescheffelt haben, die nun verstaatlicht wurden: Die Mafia hat ein Vermögen verloren, und sie fackelt nicht lange: Der Bart muss weg, und Tom soll ihn abrasieren. Sam Giancana, der gefürchtete Boss der Mafia, setzt sich höchstpersönlich mit dem misstrauischen Attentäter in Kontakt: CIA und FBI arbeiten mit der Mafia und kubanischen Rebellen zusammen. Darüber hinaus ist die Mafia einen Deal mit dem Kennedy-Clan eingegangen: Sie wird JFK zum Wahlsieg verhelfen, und er wird im Gegenzug den Mob zukünftig in Ruhe lassen.

Damit Kennedy spurt, lässt ihn Giancana abhören. JFK ist ein notorischer Fremdgänger und Schürzenjäger, der sogar Marilyn Monroe auf sein Lotterbett gelockt hat. Dieses Band möchte Tom sich gern anhören, doch die erotische Vorfreude verwandelt sich in blanken Horror: Das Band wird verwechselt, und Tom muss vernehmen, wie es der geile Kandidat mit der Wahlhelferin Mary treibt. Zu einer der Eheleute kommt es nicht mehr, denn noch in derselben Nacht kommt Mary ums Leben. Tom disponiert um. Mit der Anzahlung der Mafia taucht er unter und will nun Kennedy statt Castro töten. Der wütende Ciancana fürchtet um den teuer gekauften Präsidenten und heuert den korrupten, mit allen Wassern gewaschenen Polizisten Jimmy Nimmo an, um Tom aufzuhalten, der den Tag X vorbereitet, der JFKs letzter werden soll …

Bittere Wahrheiten & spannende Ideen

… und der Bart lebt immer noch. Er hat sie alle überlebt, die ihm ans Leben wollten; sollte uns das zu denken geben, da doch angeblich jeden Bösewicht irgendwann die gerechte Strafe trifft, wie uns das die alttestamentarisch eingestellten Vordenker unserer Gesellschaft weismachen wollen? John F. Kennedy, den strahlenden Lügenkönig von Camelot, wie das Weiße Haus unter seiner Regentschaft gern genannt wurde, deckt dagegen schon lange der kühle Rasen von Arlington. Dafür ist er in die Legende eingegangen und mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Ende lebendiger denn je.

Dies ist aus gutem Grund der Stoff, aus dem die Thriller-Träume sind: der Kalte Krieg mit seinen unübersichtlichen Fronten; der bizarre, völlig missglückte Feldzug gegen Castro; der Pakt mit dem organisierten Verbrechen, geknüpft vom Präsidentenvater Joe Kennedy, den man wohl einen der größten unbestraften Gauner der US-Geschichte nennen darf; der Mord von Dallas, scheinbar das Attentat eines verstörten Einzelgängers, womöglich aber der Höhepunkt einer Verschwörung des US-Geheimdienstes, der Mafia und der Exil-Kubaner, die Kennedy nach seiner Wahl vor den Kopf gestoßen hatte: Wissen, Halbwissen und Spekulation, mal mehr, mal weniger wüst vermischt. Das sind auch für Philip Kerr die Elemente eines Romans, der sich damit auf ein tief ausgefahrenes Gleis begibt.

Tatsächlich bietet „Der Tag X“ zunächst keine Überraschung (und im Mittelteil einigen Leerlauf), die uns Oliver Stone, der Komplott-König von Hollywood, im Monumental-Filmepos „JFK“ von 1991 nicht bereits beschert hätte. Es ist schon erstaunlich, in welchem Maße die zahlreichen Theorien über die (angeblichen) Hintergründe des Kennedy-Attentats seither Allgemeingut geworden sind: Wir kennen die Guten und die Bösen dieses Spiels (und das ist es geblieben, denn echte Beweise für eine Verschwörung gibt es nach wie vor nicht) und die ihnen zugedachten Rollen; die Eckdaten stehen fest, auch die Kulissen sind bekannt.

Geschichte aus einem Guss

Daher fällt es leicht, der recht komplexen Handlung von „Der Tag X“ zu folgen. Zudem ist Kerr ein famoser Unterhaltungskünstler, der seinen Stoff fest im Griff behält. Weil dem so ist, lässt sich sein Werk ohne Abstriche als spannender Thriller genießen, der nicht den Anspruch erhebt, das vermeintliche Rätsel zu lösen. Doch Kerr hat so gut gearbeitet, dass ihm jeder Leser gern bestätigt: Jawohl, so könnte es immerhin gewesen sein. Damit hat der Verfasser die wichtigste Voraussetzung für einen gelungenen Lektürespaß erfüllt – sogar wenn wir wissen, dass Kennedy noch einmal davonkommen wird!

Dass harte Arbeit dahinter steht, merkt der Leser nicht – muss er (oder sie) auch nicht, denn wen interessiert es schon, wie ein Rolls Royce unter der Motorhaube funktioniert: Man will ihn schnurren hören, während er einen sänftengleich dem Ziel entgegenträgt. Nur unsichere und schwatzhafte Schriftsteller protzen mit ihrem Recherchewissen, das sie ihrem Publikum aufdringlich unter die Nase reiben.

„Der Tag X“ ist dagegen ein Roman, der im Jahre 1960 spielt. Zeitkolorit kommt dort ins Spiel, wo es die Handlung fordert. Ansonsten wird eine spannende Geschichte erzählt. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist leider eher selten, sodass es hier unbedingt lobend hervorgehoben werden sollte.

Nüchtern im Ton, realistisch im Zweifel

In diesen politisch korrekten Zeiten ist es leider fast schon gewagt, als Hauptfigur eines Romans einen Mörder zu wählen. Noch schlimmer: Tom Jefferson ist kein Mörder, den malerisch jene Selbstzweifel plagen, die später einen Tom Hanks oder Cruise oder einen anderen Filmstar locken könnten, ihn auf der Kinoleinwand Gestalt annehmen zu lassen. Er ist auch kein Psychopath, der gern tötet oder von Stimmen dazu getrieben wird, sondern ein Mann, der tut, was er gelernt hat, am besten kann und ihm den höchsten Lohn einbringt. Wen solche Amoralität abstößt, greife zu einem der politisch wertvollen Wallander-Thriller des Henning Mankell (für Intellektuelle und jene, die sich gern dafür halten), oder zum modischen Krimi-Surrogat à la Donna Léon oder Elizabeth George (für den Freizeitleser, der sich nicht aufregen will).

Er (oder sie) muss sich dann auch nicht darüber aufregen, dass dieser Tom Jefferson ein recht sympathischer Charakter ist. Dafür muss er sich nicht einmal sehr ins Zeug legen, denn er trifft ausschließlich auf Lügner, Heuchler und Strolche. Jeder hat Dreck am Stecken in Kerrs Welt, und das schließt Ordnungshüter und Präsidenten keineswegs aus. Im Gegenteil: Stets wird unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit besonders heftig betrogen, gefälscht und gemordet. Dabei wirkt „Der Tag X“ nie zynisch, sondern einfach nur realistisch.

Das trifft auch dann zu, wenn Kerr reale Personen der Geschichte auftreten lässt – immer heikel, weil es gilt, Schein und Wirklichkeit so zu mischen, dass es dem Bild gerecht werden kann, das man vor Augen hat: John F. Kennedy, J. Edgar Hoover oder Sam Giancana sind noch heute dank der Medien bekannte Persönlichkeiten. Wer sich mit ihnen allzu große Freiheiten gestattet, zerstört die Illusion. Kerr trifft dagegen den Ton. So bizarr es klingen mag: Die unschuldigste Figur in Kerrs Hexenkessel ist ausgerechnet Fidel Castro, denn der ahnt in keiner Sekunde, welche Rolle ihm im Trauerspiel um den Kennedy-Mord zugedacht wurde. Stattdessen erleben wir aus der Ferne einen übereifrigen Idealisten, der sich gern reden hört. Solche Pointen zeugen von echtem Witz, und sie unterstreichen Kerrs erzählerisches Talent, das er hier abermals und vollauf unter Beweis stellt.

Autor

Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh, Schottland, geboren. Anfang der 1970er Jahre zog seine Familie ins englische Northampton. Ab 1973 studierte Kerr Jura und Rechtsphilosophie in Birmingham. 1980 ging er, den Abschluss in der Tasche, zu einer Werbeagentur. Nach seinem Tagwerk schrieb er in der Nacht Romane.

Talent wurde durch die kluge Wahl des Debüt-Themas unterstützt: Kerr veröffentlicht 1989 „March Violets“ (dt. „Feuer in Berlin“), einen Thriller um den Detektiv Bernhard Gunther, der im Deutschland der Nazi-Zeit spielt – stets ein unfehlbares Mittel, die Kritik aufhorchen zu lassen. Auch die Verkaufszahlen waren achtbar, sodass Kerr dem Auftaktband zwei weitere Gunther-Abenteuer folgen ließ.

Seinen Job konnte Kerr aufgeben. Er erweiterte sein Repertoire und verfasste in rascher Folge Science-Fiction- und Science-Thriller. Erfolgreich waren auch weitere Historien-Thriller. „The Shot“ (1999; dt. „Der Tag X“) bietet eine fiktive ‚Aufklärung‘ des Kennedy-Mordes, „Dark Matters“ (2002, dt. „Newtons Schatten“) spielt Ende des 17. Jahrhunderts in London. Mit „Hitler’s Peace“ (dt. „Der Pakt“) kehrte Kerr 2005 ins Nazi-Milieu zurück und ließ im folgenden Jahr die Bernhard-Gunther-Serie mit „The One from the Other“ (dt. „Das Janusprojekt“) aufleben.

Philip Kerr ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in dem Londoner Vorort Wimbledon. Inzwischen hat er sich auch als Jugendbuch-Autor (unter dem ‚Pseudonym‘ P. B. Kerr) versucht. „The Akhenaten Adventure“ (dt. „Das Akhenaten-Abenteuer“) erschien 2003 als erster Teil des Zyklus‘ „Children of the Lamp“ (dt. „Die Kinder des Dschinn“), war (selbstverständlich) überaus erfolgreich und wurde mehrbändig fortgesetzt.

Taschenbuch: 507 Seiten
Originaltitel: The Shot (London : Orion Books Ltd. 1999)
Übersetzung: Cornelia Holfelder-von der Tann
www.rowohlt.de

eBook: 687 KB
ISBN-13: 978-3-644-21121-6
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