Philip Kerr – Die Adlon-Verschwörung [Bernhard Gunther 6]

Detektiv Gunther kommt im Berlin der 1930er Jahre kriminellen Machenschaften auf die Spur, mit denen die Nazis einen Boykott der Olympischen Spiele verhindern wollen; zwei Jahrzehnte später gerät er auf Kuba unter andere Verbrecher … – Mit gut recherchiertem aber in ihrem ersten Teil dick aufgetragenem Lokalkolorit erzählt Autor Kerr eine Geschichte, die zu sehr an einschlägigen Nazi-Klischees hängt, während der zweite, später spielenden Teil deutlich spannender und überzeugender geraten ist.

Das geschieht:

Im Deutschland des Jahres 1934 haben die Nationalsozialisten buchstäblich die Macht ergriffen. Seitdem verlieren sie keine Zeit in dem Bemühen, ihre verquasten Ansichten über „Volk“ und „Rasse“ in die Tat umzusetzen. Nachdem die politischen Gegner ausgeschaltet sind, widmen sich die Nazis nun verstärkt der Eliminierung der Juden.

Bernhard Gunther gehört zu denen, die mit den neuen Herren über Kreuz sind. Seine Stellung als Polizist bei der Kriminalpolizei von Berlin hat er verloren. Gunther ist als Hoteldetektiv im vornehmen Hotel Adlon untergetaucht. Dort langweilt sich der fähige Ermittler zwar, doch er ist in einem blinden Winkel des nationalsozialistischen Blickfeldes.

Nazideutschland hat sich als Austragungsstätte der Olympischen Spiele von 1936 beworben. Eine allzu offensichtliche Diskriminierung der Juden könnte einen Boykott provozieren, was das Regime, das auf weltweite Anerkennung hofft, durch Täuschung und Bestechung der angereisten Beobachter und Mitglieder des internationalen Olympia-Komitees zu verhindern versucht. Als einer von ihnen tot in seinem Bett im Hotel Adlon liegt, beginnt Gunther zu ermitteln. Er findet mehr heraus, als den Eingeweihten lieb ist: Olympia-Geld versickert in einem Gewirr eigens gegründeter Scheinfirmen, deren ‚Eigentümer‘ sich Unsummen in die Taschen stecken.

Gunther lernt die US-amerikanische Journalistin Noreen Charalambides kennen, die hinter die Nazi-Kulissen blicken möchte. Als Gunther ihr hilft, erregt er das Aufsehen skrupelfreier Regime-Funktionäre, die auf keinen Fall dulden, dass ihnen ein Strich durch die Rechnung gemacht wird. Mit einem Bein bereits im Konzentrationslager und im Visier der Gestapo setzt Gunther seine Suche nach der Wahrheit fort, die zwanzig Jahre später und jenseits des Atlantiks eine unerwartete Wendung und Fortsetzung nehmen wird …

Braver Mann im braunen Sumpf

Für jene, die nicht auf der braun beschienenen Sonnenseite standen, brachen 1933 mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten finstere Zeiten an. Die triumphierenden Herren begannen sogleich mit der „Gleichschaltung“, die den Start in ein „neues Deutschland“ vollkommen machen sollte. Gesetz und Recht wurden ganz in den Dienst der Sache gestellt, d. h. den geänderten Erfordernissen bei Bedarf notfalls nachträglich angepasst oder gleich mit Füßen getreten. Vor allem begann die Eliminierung „undeutscher Elemente“. Ganz oben standen auf der Liste der wirren Regimeherren die Juden, aber sie erfasste auch Sozialisten, „Ostvölker“, „Zigeuner“, Homosexuelle, Zeugen Jehovas u. a. Gruppen, die entweder nicht ins halluzinierte Nazi-Weltbild passen oder sich ihm nicht unterordnen wollten.

Irgendwo dazwischen stand der deutsche Durchschnittsbürger, der entweder froh war, von den Segnungen dieser neuen Zeit zu profitieren oder sich glücklich schätzte, nicht unter die Nazi-Räder zu geraten. Bernhard „Bernie“ Gunther ist scheinbar ein Exemplar dieser schweigenden Masse, deren Mitglieder rasch lernen, den Mund dort zu halten, wo die Schergen der Regimes ihre Ohren offenhalten.

Ein deutscher Mitläufer wäre eine interessante Romanfigur, aber Philip Kerr will auch und offenbar sogar vor allem einen sympathischen (Anti-) Helden. Also stilisiert er Gunther zum Modell des „guten Deutschen“ – und schafft damit ein ernstes Problem.

Holzhammer für historienschwache Leser

„Die Adlon-Verschwörung“ bietet als Historienkrimi einen soliden Plot, der gut im zeitgenössischen Ereignisgefüge verankert ist. Die Olympischen Spiele waren für die Nazi-Machthaber ein wichtiges Instrument zur positiven Selbstdarstellung vor einer Welt, die zumindest misstrauisch das stetig lauter werdende Säbelrasseln aus Deutschland vernahm. 1936 sollte das Ausland sehen, dass die neuen Herren ihr Reich in einen Musterstaat verwandelt hatten. Siege in der Arena waren ebenfalls süß aber nicht so wichtig wie das mediale Echo.

Doch nazi-üblich gründete sich Olympia 1936 auf Pump, Ausbeutung und Lüge. Dieser primär den Historikern bekannte Aspekt bildet das Gerüst für die Krimi-Handlung der „Adlon-Verschwörung“. Der deutsche Titel ist schlecht gewählt und weist höchstens darauf hin, dass die geschilderten verbrecherischen Aktivitäten innerhalb einer gar nur vorgeblich vornehmen Oberschicht stattfinden; zudem geschieht dies ‚zufällig‘ dort, wo Bernie Gunther sich aufhält und ins Geschehen geraten kann.

Kerr selbst geht etwas gelehrter (oder pompöser) an die Sache heran: Der Originaltitel „If the Dead Rise Not” verweist auf den (im Vorspann zitierten) ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther und dort auf folgende Stelle: „Habe ich nach menschlicher Meinung zu Ephesus mit wilden Tieren gefochten, was hilft’s mir? Wenn die Toten nicht auferstehen, lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!“ Paulus tadelte so die Bürger von Ephesus, die einem falsch verstandenen Glauben anhingen und deshalb sündigten. Diesen Vorwurf macht sich auch Bernie Gunther, was ihn im Kuba-Teil dieser Geschichte seine über Jahrzehnte perfektionierte Deckung zu verlassen und sich im Namen der Menschlichkeit in Lebensgefahr zu begeben.

Ein Nazi-Krimi-Märchen

Deutschland war auch unter den Nazis keineswegs der von Kerr geschilderte Rund-um-die-Uhr-Überwachungsstaat. Die manchmal peinlichen und auf die Dauer in ihrer Häufung lästigen Klischees fallen zwar unter die Rubrik „dichterische Freiheit“: Kerr übertreibt, wo er ohnehin die Realität verkürzen muss, um Anschaulichkeit und leserliche Emotionen zu generieren. Dabei geht ihm Penetranz vor Andeutung. „Die Adlon-Verschwörung“ wäre als Buch vermutlich nur halb so dick, würde Kerr seinen Bernie Gunther nicht ständig zwingen, Stellung zu beziehen. Wo dieser steht & geht, gilt es Nazi-Roheiten zu beobachten und zu kommentieren.

Dabei versteckt Gunther seinen Weltschmerz mehr schlecht als recht hinter (vielleicht nur hölzern übersetzten) sarkastischen aber nie originellen Äußerungen. Er kann trotzdem einfach den Mund nicht halten, bis ihm der Leser zurufen möchte: „Bernie, es reicht – wir wissen, dass du einer von den Guten bist! Kümmere dich endlich um deinen Fall.“ Der ist vermeintlich verwickelt, entpuppt sich aber als simpel genug, dass ein kaltgestellter Ermittler wie Bernie Gunther im Alleingang den bösen Nazis und ihren gierigen ausländischen Verbündeten auf die Schliche kommen kann.

Unerwartete Wende zum Spannenden

Ohnehin entwickelt sich Gunthers Suche nach der Wahrheit schon vor dem Saulus/Paulus-Moment auf Kuba immer mehr zur Selbsttherapie. Was würde es ihm auch nützen, die schmutzigen Details der Olympia-Verschwörung ans Tageslicht zu bringen? Wir Leser sind ohnehin schlauer und wissen, dass die Olympiade 1936 in Berlin stattgefunden hat. „Die Adlon-Verschwörung“ erzählt damit zwangsläufig vom Scheitern jener, die den Betrug offenbaren wollten. Damit ließe sich lesen, wenn Kerr den Weg dorthin spannender gestalten würde. Doch der braune Sumpf legt sich schwer um Bernie Gunthers Knöchel. Er kommt schrecklich langsam vom Fleck, zumal er ja – s. o. – seine Anmerkungen zum Unrechtsstaat machen muss.

Somit droht sich diese Episode der Bernie-Gunther-Serie nur träge ins Finale zu schleppen. Dass doch noch Thriller-Stimmung aufkommt, liegt an einem zweiten Teil, der 1954 auf der Insel Kuba kurz vor der Revolution spielt. Hier wirft Gunther das Büßergewand ab, in das Kerr ihn in Nazi-Deutschland zwang, und wird zum gewieften Ermittler und Überlebenskünstler in einem neuen Sumpf. Dieses Mal bekommt er es mit prominenten US-Gangstern, korrupten Militärs und rücksichtsarmen Revolutionären zu tun.

Hinzu kommen unerfreuliche Wiederbegegnungen mit Personen aus Gunthers Vergangenheit sowie die genretypischen Verwicklungen im Zusammenhang mit einer schönen aber undurchsichtigen Frau. Sogar ein Soap-Opera-Sahnehäubchen setzt Kerr dem turbulenten Geschehen auf, das ohne den mahnend erhobenen Zeigefinger aus dem ersten Teil endlich auch in seinen tragischen Momenten funktioniert: Der Bernie Gunther der 1930er Jahre ist ein Schwätzer. Auf die weiteren Abenteuer des alten Bernie Gunther darf der Leser hingegen mit Recht gespannt sein.

Autor

Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh, Schottland, geboren. Anfang der 1970er Jahre zog seine Familie ins englische Northampton. Ab 1973 studierte Kerr Jura und Rechtsphilosophie in Birmingham. 1980 ging er, den Abschluss in der Tasche, zu einer Werbeagentur. Nach seinem Tagwerk schrieb er in der Nacht Romane.

Talent wurde durch die kluge Wahl des Debüt-Themas unterstützt: Kerr veröffentlicht 1989 „March Violets“ (dt. „Feuer in Berlin“), einen Thriller um den Detektiv Bernhard Gunther, der im Deutschland der Nazi-Zeit spielt – stets ein unfehlbares Mittel, die Kritik aufhorchen zu lassen. Auch die Verkaufszahlen waren achtbar, sodass Kerr dem Auftaktband zwei weitere Gunther-Abenteuer folgen ließ.

Seinen Job konnte Kerr aufgeben. Er erweiterte sein Repertoire und verfasste in rascher Folge Science-Fiction- und Science-Thriller. Erfolgreich waren auch weitere Historien-Thriller. „The Shot“ (1999; dt. „Der Tag X“) bietet eine fiktive ‚Aufklärung‘ des Kennedy-Mordes, „Dark Matters“ (2002, dt. „Newtons Schatten“) spielt Ende des 17. Jahrhunderts in London. Mit „Hitler’s Peace“ (dt. „Der Pakt“) kehrte Kerr 2005 ins Nazi-Milieu zurück und ließ im folgenden Jahr die Bernhard-Gunther-Serie mit „The One from the Other“ (dt. „Das Janusprojekt“) aufleben.

Philip Kerr ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in dem Londoner Vorort Wimbledon. Inzwischen hat er sich auch als Jugendbuch-Autor (unter dem ‚Pseudonym‘ P. B. Kerr) versucht. „The Akhenaten Adventure“ (dt. „Das Akhenaten-Abenteuer“) erschien 2003 als erster Teil des Zyklus‘ „Children of the Lamp“ (dt. „Die Kinder des Dschinn“), war (selbstverständlich) überaus erfolgreich und wurde mehrbändig fortgesetzt.

Taschenbuch: 573 Seiten
Originaltitel: If the Dead Rise Not (London : Quercus 2009)
Übersetzung: Axel Merz
www.rowohlt.de