Philip Kerr – Das Janus-Projekt [Bernhard Gunther 4]

Nach dem II. Weltkrieg versucht Privatdetektiv Gunther einen beruflichen Neuanfang, doch einer seiner ersten Aufträge führt ihn zurück in die nazibraune Vergangenheit, deren kriminelle Vertreter und Seilschaften sich in der jungen Bundesrepublik etabliert haben und Gunther für einen perfiden Plan missbrauchen… – Der neue Roman der Bernhard-Gunther-Reihe fesselt mit Zeitkolorit, ärgert durch seinen schwachen Plot und scheitert mit dem Versuch, das Phänomen des deutschen Verdrängens & Vergessens der Nazi-Jahre fassbar zu machen: lesbar, aber keine Offenbarung.

Das geschieht:

Im Jahre 1949 gehört Bernhard Gunther, einst Polizist und später Privatdetektiv, nicht zu denen, die nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ wieder zum Alltag übergehen. Das Schicksal hat ihn ausgerechnet nach Dachau verschlagen, wo er ein marodes Hotel führt. Die Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers ist dem Geschäft wenig zuträglich, und Gunther genießt in der auf Verdrängung und Neuanfang gepolten Bürgerschaft keinen guten Ruf, weil er mit der Nazi-Vergangenheit keinesfalls abgeschlossen hat.

Der Tod seiner Gattin lässt ihn in München den Neuanfang als Detektiv versuchen. Vor allem Kunden, die nazibraune Familienangehörige und Freunde reinwaschen möchten, wenden sich an Gunther, der ihnen Belege für eigentlich blütenweiße Westen beschaffen soll. Wohl oder übel beugt sich der Detektiv den Realitäten seines Jobs. Auch der aktuelle Auftrag fällt offenbar in diese Sparte: Britta Warzok bittet ihn, Beweise für den Tod ihres Gatten, eines Kriegsverbrechers, zu beschaffen, damit sie wieder heiraten kann.

Seine Nachforschungen führen Gunther in das gefährliche Milieu ehemaliger Nazi-Größen, die sich mit Unterstützung der Kirche diverse „Rattenlinien“ in fremde Länder geschaffen haben, die nicht ausliefern. Gunther wagt sich zu weit vor, wird übel zusammengeschlagen und verdankt seine Gesundung nur einem freundlichen Arzt, der ihn in sein Landhaus unweit der Alpen einlädt. Dort lernt Gunther den kriegsversehrten Erich Grün kennen und freundet sich mit ihm an. Als dessen Mutter in Wien stirbt, bietet ihm der Detektiv an, die Erbschaft für ihn anzutreten; die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern macht dies möglich.

In Wien merkt Gunther freilich, dass man ihn betrogen und in eine diabolisch geschickt eingefädelte Verschwörung gelockt hat. Der Detektiv tritt die Flucht nach vorn an – und gerät in ein Gemenge alter Nazis, korrupter Besatzer und jüdischer Todeskommandos, die ihm alle ans Leben wollen …

Leichte Unterhaltung in schwerem Gelände

Philip Kerr gehört zu den zuverlässigen Produzenten spannender Unterhaltungsromane, die immer dann besonders gut funktionieren, wenn sie an exotischen Orten oder in vergangenen Zeiten spielen. Dies verschleiert zudem die Tatsache, dass der Verfasser womöglich die Realität ein wenig zu stark verbiegt, um sie der Story anzupassen.

Das Eis ist in diesem Fall besonders dünn, denn das Thema ist ein prekäres: Die Nazi-Vergangenheit stellt ein historisches Erbe, über das sich viele kluge Männer und Frauen in den vergangenen Jahrzehnten geäußert und gewichtige Theorien entwickelt haben, die erklären helfen, wieso der braune Spuk, der millionenfachen Mordterror über die Welt gebracht hatte, nach 1945 scheinbar spurlos verschwand und sich Hitlers Untertanen in „Deutsche“ und „Nazis“ differenzierten, wobei Letztere eine verschwindend kleine Minderheit zu bilden schienen.

Die Erklärung ist ebenso simpel wie deprimierend aber menschlich: Die Mehrheit der Deutschen ging zur Tagesordnung über, und die trug das Motto „Neuanfang“. Eine Bewertung der Rolle, die das Individuum in der Nazi-Maschinerie gespielt hatte, entfiel weitgehend. Philip Kerr zwingt nunmehr Bernhard Gunther dazu, und das bekommt weder der Figur noch der Handlung.

Objektiv betrachtet ist diese verzwickt aber spannend. Kerr lässt die seltsame Zeit von 1949 einfühlsam aufleben. Deutschland und Österreich sind immer noch von den alliierten Siegermächten besetzt. Vier Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion könnten schon unter ’normalen‘ Umständen schwer miteinander kooperieren. Hier kommt die Unvereinbarkeit der Staatssysteme hinzu: Der Kalte Krieg der nächsten Jahrzehnte zeichnet sich bereits deutlich ab. Vor allem den USA gilt der Kommunismus als eigentliche Gefahr der Zukunft, während das Thema Nazis abgehakt ist. So kommt es zu der absurden Situation, dass echte Kriegsverbrecher nicht bestraft, sondern als nützliche Mitstreiter im Kampf gegen die ‚Roten‘ in die eigenen Reihen integriert werden.

Nachkriegsgeschichte auf TV-Niveau

Diese Parodie auf Recht & Ordnung bildet das Fundament dieses Romans. Die bitteren Konsequenzen weiß Kerr für die Geschichte zu nutzen. Leider ist sein Ehrgeiz jedoch größer als sein Talent. Kerr setzt die Fakten nicht ein, sondern reibt sie seinen Lesern unter die Nasen, bis sie dieselben voll haben. Er will den Dualismus der gewählten Epoche erläutern, doch dabei allen Seiten möglichst gerecht werden. Das funktioniert nicht, sondern lässt ihn als naiven Gutmenschen dastehen, der verzweifelt zwischen ‚guten‘ und ’schlechten‘ Deutschen sowie ‚guten‘ und ’schlechten‘ Amerikanern, israelischen Juden u. a. didaktisch definierten Gruppen zu differenzieren versucht, was misslungen muss.

Die Handlung selbst erinnert in ihrem Hauptplot fatal an Graham Greenes „The Third Man“ (dt. „Der dritte Mann“) bzw. an Carol Reeds Verfilmung von 1949 (wobei gepantschtes Penicillin als Beweggrund wesentlich plausibler wirkt als Kerrs Experimente mit verseuchten Moskitos). Sogar der Schauplatz Wien ist identisch und konserviert die bekannten Klischees, die US-Amerikaner mit der Nachkriegszeit in Europa verbinden.

Ansonsten übt König Zufall seine Herrschaft über die Handlung aus. Er muss hart arbeiten, damit die Geschichte so, wie Kerr sie uns präsentiert, überall ablaufen kann; man denkt beim Lesen lieber nicht darüber nach. Auf 450 großzügig bedruckten Seiten ist Bernhard Gunther ausgesprochen reiselustig und erlebt dabei viele Abenteuer, die vom Verfasser anschaulich in Szene gesetzt werden. Lokalkolorit muss viel ersetzen, wozu leider ein überzeugendes Finale gehört. Kerr setzt auch hier auf das Sprichwort, wonach jede gute Tat bestraft wird. Damit nicht der Hauch eines Happyends die daraus resultierende Tragik beschädigt, verzichtet er auf die finale Konfrontation zwischen Gut und Böse bzw. ersetzt sie durch eine ziemlich lächerliche ‚Ersatz-Revange‘: Fortsetzung folgt.

„The Good German“

Schlimm wird’s, sobald zwischendurch Ruhe einkehrt, denn das gibt Gunther die gern und ausgiebig genutzte Gelegenheit zur Reflexion. Er muss nach Kerrs Willen den Atlas geben, der auf seinen Schultern die Last des „Tausendjährigen Reiches“ weitgehend allein stemmen muss. Während links und rechts die Deutschen, ihre einstigen Kriegsgegner und sogar die meisten Juden damit beschäftigt sind, die Gegenwart zu meistern und die Zukunft zu sichern, wirkt Gunther geradezu selbstgerecht, wie er an der Zeit von 1933 bis 1945 klebt. Seiner Figur tut Kerr damit keinen Gefallen. Gunther wirkt unglaubwürdig und lächerlich, weil er jedes Gegenüber in die Büßerrolle zwingen möchte.

Gunther soll der ‚gute‘ Deutsche sein, der aus der Vergangenheit gelernt hat. Damit das auch dem dümmsten Leser klar wird, konstruiert Kerr eine Kriegsepisode, die seinen tragischen Helden dabei zeigt, wie er ein jüdisches Partisanenkommando liquidieren lässt. Gunther hat sich die Hände ebenfalls schmutzig gemacht, soll dies suggerieren, doch diesen Weg bis zum Ende zu gehen, traut sich Kerr dann lieber doch nicht: Diese Juden waren ‚böse‘ und haben abtrünnige russische Kriegsgefangene umgebracht, was Gunther bestrafen wollte, während ihm gleichzeitig nicht einmal bewusst war, dass er Juden vor sich hatte.

Solche scheinheiligen Zimperlichkeiten erlaubt sich Kerr viel zu oft. Er weiß, dass eine Schwarz-Weiß-Sicht der Situation von 1949 nicht gerecht werden kann, hat aber kein Gespür für Grautöne und ist folgerichtig überfordert, wenn er ihnen Gesichter geben möchte. Kerrs Figuren sind keine Menschen, sondern spielen Rollen: der unverbesserliche tritt neben den geläuterten Nazi, der integrierte neben den rächenden Juden, der fraternisierende Amerikaner neben den kollaborierenden Kirchenmann usw. Letztlich passt Gunther wieder ins Gewirr dieser Pappkameraden. Den alltäglichen Wahnsinn der Kriegs- und Nachkriegsjahre glaubhaft nachzuzeichnen, fällt – kaum verwunderlich – selbst wirklich klugen, mit der Materie vertrauten Köpfen schwer.

Wir basteln uns einen deutschen Titel

Wie üblich hat der deutsche Titel nichts mit dem Inhalt des Romans zu tun. Mit dem „Janus-Projekt“ ist offenbar das einerseits gut gemeinte, aber andererseits verbrecherische Vorhaben der Verschwörer gemeint, die Gunther in die Zange nehmen. Kerr hatte sein eigentliches Anliegen eleganter in Titelform gebracht: „The One from the Other“ ist das Fragment eines Gebets: „God, give us grace to accept with serenity the things that cannot be changed, courage to change the things which should be changed, and the wisdom to distinguish the one from the other.“ – „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Die Herkunft ist apokryph, aber der Sinn klar: Gunther verfügt über die erforderliche Weisheit oder wenigstens über die Kraft, seine Entscheidung zu treffen.

Unterhaltung ja, Anspruch nein, Thema weitgehend verfehlt – zu dieser Entscheidung kommt der Rezensent, der sich teilweise durch das „Janus-Projekt“ kämpfen musste und sich dort durch den Geschichtsfluss treiben lassen konnte, wo der Verfasser erzählt statt zu dozieren. Das schlechte Gewissen der schlechten Welt wird Bernhard Gunther wohl bleiben und in seinem südamerikanischen Exil reuevollen Umgang mit Altnazis pflegen.

Autor

Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh, Schottland, geboren. Anfang der 1970er Jahre zog seine Familie ins englische Northampton. Ab 1973 studierte Kerr Jura und Rechtsphilosophie in Birmingham. 1980 ging er, den Abschluss in der Tasche, zu einer Werbeagentur. Nach seinem Tagwerk dort schrieb er in der Nacht Romane.

Talent wurde durch die kluge Wahl des Debüt-Themas belohnt: Kerr veröffentlicht 1989 „March Violets“ (dt. „Feuer in Berlin“), einen Thriller um den Detektiv Bernhard Gunther, der im Deutschland der Nazi-Zeit spielt – stets ein unfehlbares Mittel, die Kritik aufhorchen zu lassen. Auch die Verkaufszahlen waren achtbar, so dass Kerr dem Auftaktband in kurzem Abstand zwei weitere Gunther-Abenteuer folgen ließ.

Seinen Job konnte Kerr nun aufgeben. Er erweiterte sein Repertoire und verfasste in rascher Folge Sciencefiction („A Philosophical Investigation“, 1992; dt. „Das Wittgenstein-Programm“; „The Second Angel“, 1998; dt. „Der zweite Engel“) und (Techno)-Abenteuer à la Michael Crichton („Gridiron“, 1995; dt. „Game Over“, „Esau“, 1996; dt. „Esau“). Daneben schrieb er weitere ’normale‘ Thriller wie „Dead Meat“ (1993; dt. „Gesetze der Gier“) oder „The Five Year Plan“ (1997, dt. „Der Plan“).

Seit einigen Jahren versucht sich Kerr mit dem üblichen Erfolg auch als Autor historischer Thriller. „The Shot“ (1999; dt. „Der Tag X“) bietet eine fiktive ‚Aufklärung‘ des Kennedy-Mordes, „Dark Matters“ (2002, dt. „Newtons Schatten“) ist ein Historienthriller, der Ende des 17. Jahrhunderts in London spielt. Mit „Hitler’s War“ (dt. „Der Pakt“) kehrte Kerr 2005 in die Nazi-Zeit zurück und ließ im folgenden Jahr die Bernhard-Gunther-Serie mit „The One from the Other“ (dt. „Das Janusprojekt“) wieder aufleben.

Philip Kerr ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in dem Londoner Vorort Wimbledon. Inzwischen hat er sich auch als Jugendbuch-Autor (unter dem „Pseudonym“ P. B. Kerr) versucht – „The Akhenaten Adventure“ erschien 2003 als erster Teil des Zyklus‘ „Children of the Lamp“ und ist (selbstverständlich) überaus erfolgreich.

Taschenbuch: 448 Seiten
Originaltitel: The One from the Other (London : Quercus Publishing Plc 2007)
Übersetzung: Cornelia Holfelder-von der Tann
http://www.rowohlt.de

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