Philip Kerr – Newtons Schatten

Das geschieht:

Um die Jahreswende 1696/97 herrscht nicht nur in London, sondern in ganz England Unruhe. Nicht der Krieg gegen Frankreich erregt die Gemüter: Die Regierung hat den Einzug der alten Silber- und Goldmünzen befohlen, deren Edelmetallgehalt inzwischen ihren Nominalwert überschreitet. Sie sollen neu geprägt werden: ein normaler Vorgang, der hier jedoch völlig planlos umgesetzt ist, denn während ein Großteil des ‚alten‘ Geldes bereits einkassiert wurde, kommt die königliche Münzanstalt im Tower zu London mit dem Prägen der neuen Geldstücke einfach nicht nach. Es sind zu wenige Münzen im Umlauf, was der Wirtschaft stark schadet. In der Münze selbst herrschen Unfähigkeit und Korruption. Diebe und Falschmünzer stehlen Prägestöcke und füllen sich die Taschen.

Die Regierung hat deshalb einen neuen Aufseher über die Münzanstalt gesetzt: Der Physiker und Astronom Dr. Isaac Newton musste den Posten übernehmen. Mit dem ihm eigenen Elan hat er sich auf die Aufgabe gestürzt und entpuppt sich wider Erwarten als richtiger Mann am rechten Ort. Aber Newton macht sich viele Feinde. Rigoros räumt er mit Schlendrian und Schurkerei in der Münze auf und verdirbt vielen Strolchen das Geschäft. Auch die „Ordnance“, die eigentliche Festungsbesatzung, hasst die Münzbeamten, die man ihr im Tower vor die Nase gesetzt hat. Newton heuert deshalb einen Gehilfen an, der ihm gleichzeitig als Leibwächter dient. Als solcher bekommt der junge Christopher Ellis, ein verkrachter Jurastudent, bald viel zu tun. Sein unlängst verschwundener Amtsvorgänger wird ertränkt im Wassergraben des Towers entdeckt.

Newton und Ellis finden mysteriöse Symbole und aufwändig chiffrierte Botschaften an den Tatorten anderer Verbrechen. Sie deuten auf eine Verschwörung gegen Krone und Vaterland hin, deren Hintermänner unbedingt dingfest gemacht werden müssen, bevor sie England erst wirtschaftlich und dann politisch in den Untergang treiben …

Vergangenheit – schaurig-schön

Ein Mord in vergangener Zeit ist ein recht einfaches aber wirksames Mittel, einem ehrwürdigen Genre wie dem Kriminalroman neues Leben einzuhauchen. „Newtons Schatten“ erzählt wahrlich keine neue Geschichte, doch vor dem Hintergrund einer pittoresken Großstadt London Ende des 17. Jahrhunderts gewinnt die Handlung umgehend an Leben. Dabei liegt nicht die historische Rekonstruktion dieser Kulisse um ihrer selbst in Philip Kerrs Absicht. Zwar hat er umfassend recherchiert, aber er bedient sich primär jener Elemente der Vergangenheit, die seiner Geschichte dienlich sind.

Deshalb ist es in ‚seinem‘ London kalt, eng und finster, herrschen Schmutz und (malerisches) Elend, treiben Alchimisten und Magier ihr Unwesen, flicht der Verfasser Hinrichtungs- oder Bordellszenen (plus eine wahrlich schräge Sexkapade) ein, obwohl sie mit der Handlung nichts zu tun haben.

Macht man sich frei von diesen reizvoll verkommenen Bildern (was schade wäre und nur diesem Rezensenten praktiziert wird), bleibt ein Krimi, wie wir ihn in Kino und Fernsehen oft gesehen haben: grell, laut, schnell. Auf der anderen Seite gelingt es Kerr trotzdem, uns einen Eindruck davon zu geben, was „Vergangenheit“ auch bedeutet: die selbstverständliche Gegenwart für die Menschen, die in ihrer Zeit leben (müssen). Daher kommt den Protagonisten dieser Geschichte das, was uns exotisch vorkommt und/oder abstößt, völlig normal vor. Auch der Kriminalfall wird durch die zeitgenössischen Gesetze und Konventionen bestimmt. Er könnte sich so heute gar nicht ereignen.

Zuviel Gepäck im Handlungsranzen

Zusätzlich denkt Kerr sich als Plot eine ziemlich wüste Verschwörung aus, die der genauen Betrachtung durch den Historiker schwerlich standhalten würde. Dem ‚normalen‘ Leser fällt das nicht auf; er (und sie) haben großen Spaß haben, der auch über die nicht wirklich befriedigende Auflösung unserer Geschichte hinwegtrösten dürfte.

Nachdem Kerr eifrig vielversprechende Spuren ausgelegt hat, schnüren sich diese zu einem eher enttäuschenden Finale. Natürlich war der Autor durch die reale Historie gebunden, gegen die er nicht gar zu offen verstoßen durfte. Trotzdem irritiert zunächst seine Entscheidung, der eigentlichen Zerschlagung des Komplotts noch eine lange Coda folgen zu lassen, die sich primär um Newtons inneren Kampf zwischen Wissenschaft und Glauben rankt.

Aber hier darf man nicht zu streng urteilen: „Newtons Schatten“ ist auch eine unterhaltsame Erinnerung daran, dass Isaac Newton nicht ‚nur‘ bemerkenswerte wissenschaftliche Entdeckungen gelangen. Für diese Erfolge musste ein hoher Preis entrichten werden: Auf den Prüfstand kam ein ganzen Weltbild, seit vielen Jahrhunderten akzeptiert von den Menschen, die nun gezwungen wurden, grundsätzliche Werte neu zu überdenken – eine geistige Revolution, gegen die der gerade noch verhinderte Aufstand der Papisten nur eine kurze historische Episode darstellt.

Wissen ist Macht – und sehr gefährlich

Isaac Newton und Sherlock Holmes: eine Kombination, die naheliegt. Schon der Untertitel spielt darauf an: „The Private Life of Sherlock Holmes“ heißt ein zwar nicht erfolgreicher aber klassischer Kinofilm des großen Billy Wilder von 1970. Auch hier ging es nicht nur um einen Kriminalfall, sondern auch darum, wie der Mensch Holmes ‚funktioniert‘.

Philip Kerr übernimmt dieses Konzept. Isaac Newton (1643-1727) wird gefeiert als Entdecker des Prinzips der allgemeinen Gravitation. Darüber hinaus hat er als Mathematiker, Physiker, Astronom so viele grundlegende Entdeckungen gemacht, dass er völlig zu Recht als eines der raren Universalgenies gilt, welche die Natur in großen Abständen hervorbringt.

Der Mensch Isaac Newton verschwand lange hinter dem Wissenschaftler. Dabei ist das Privatleben dieses Mannes mindestens ebenso interessant wie seine Forscherlaufbahn oder seine Jahre als Münzmeister. Der naturwissenschaftlich messerscharf denkende Forscher war auch ein Anhänger der Alchemie, der viel Zeit in die Suche nach dem Stein der Weisen investierte.

Zwischen beide Pole des Menschen Isaac Newton – Rationalist UND Mystiker – legt Philip Kerr seine spannend erdachte Geschichte. ‚Sein‘ Newton ist ein überaus systematischer Zeitgenosse, ein Mann, der Fakten sammelt und sie auswertet, bevor er sich ein Urteil bildet. Damit wäre er auch heute eine Ausnahmeerscheinung. Im London des Jahres 1697 ist er seiner Zeit ein wenig zu weit voraus: Wer sich hier allzu klug und wissend gibt, gerät leicht in den Ruf, ein Ketzer oder gar Hexer zu sein.

Isaac Holmes …

In einem Rechtssystem, das der Rache den Vorzug vor der Gerechtigkeit gibt, ist das kein Risiko, das ein kluger Mann eingehen möchte. Newton ist zudem – ganz Holmes – ein kühler, manchmal sogar kaltherziger Mann, der wenig Geduld mit denen zeigt, die ihm geistig nicht gewachsen sind. Das trifft eigentlich auf alle seine Mitmenschen zu, was Newtons Beliebtheit ganz sicher nicht steigert.

Obwohl er sich als Münzmeister bewährt, ist Newton doch ein allzu vergeistigter Mensch, als dass er sich in den Niederungen des gemeinen Verbrechens zurechtfände. Hier benötigt er deshalb einen Gehilfen, der mit beiden Beinen im prallen Leben steht: einen Dr. Watson eben. Diese Aufgabe übernimmt der junge Christopher Ellis, der auch als Chronist der beschriebenen Ereignisse auftritt. Er bildet außerdem eine Art Puffer zwischen uns, den Lesern, und dem historischen Isaac Newton, der uns sonst recht fremd bliebe. Höchstens sechs Menschen auf dieser Welt seien in der Lage, Newtons Hauptwerk („Philosophiae naturalis Principia mathematica“ – „Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie“) zu lesen und zu begreifen, heißt es an einer Stelle. Wie sollen wir Zugang zu einem Charakter finden, der so offensichtlich nicht ganz von dieser Welt ist, falls dies zutreffen sollte? Hier zu vermitteln ist Ellis‘ Aufgabe.

… und Christopher Watson

Ellis ist ansonsten der junge Held, der mit Degen und Pistole umgehen kann und daher manche turbulente Szene bestreitet, die zu einem Roman wie „Newtons Schatten“ gehören. Auf Verfolgungsjagden, Duelle oder wüste Bordellszenen müssten wir sonst wohl verzichten.

Außerdem benötigen wir Ellis für die obligatorische Liebesgeschichte. Hier ist Newtons Nichte das Objekt der Begierde. Kerr macht aus Catharine Barton keine anachronistische Vorkämpferin des Feminismus‘, sondern schildert sie als berechnende oder kluge Frau in einer Epoche, als es nur auf Umwegen möglich war, sich einen Platz in der von Männern dominierten Welt zu erlisten. Und wo steht geschrieben, dass die weibliche Heldin stets einen vorbildlichen Charakter besitzen muss?

Ansonsten bewegen sich unsere Helden wie schon angedeutet in einer Welt wahrlich kurioser, farbenfroher Gestalten – grobschlächtige Soldaten, dralle Dirnen, von der Syphilis zerfressene Schurken, trunksüchtige Adlige; eine endlose Galerie fast schon karikierter aber sehr eindrucksvoller Belege dafür, dass London Anno 1697 kein Ort für Weichlinge des 21. Jahrhunderts wäre. Pardon wird nicht gegeben in dieser Vergangenheit, die ein soziales Netz nicht kennt. Das Glück ist mit dem Tüchtigen, der es dem weniger Skrupellosen in der Regel entreißen muss. Außerdem wirken möglichst konturstark geschnitzte Figuren in einer späteren Verfilmung wesentlich plastischer; der kluge Autor muss heutzutage multimedial denken …

Autor

Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh, Schottland, geboren. Anfang der 1970er Jahre zog seine Familie ins englische Northampton. Ab 1973 studierte Kerr Jura und Rechtsphilosophie in Birmingham. 1980 ging er, den Abschluss in der Tasche, zu einer Werbeagentur. Nach seinem Tagwerk schrieb er in der Nacht Romane.

Talent wurde durch die kluge Wahl des Debüt-Themas unterstützt: Kerr veröffentlicht 1989 „March Violets“ (dt. „Feuer in Berlin“), einen Thriller um den Detektiv Bernhard Gunther, der im Deutschland der Nazi-Zeit spielt – stets ein unfehlbares Mittel, die Kritik aufhorchen zu lassen. Auch die Verkaufszahlen waren achtbar, sodass Kerr dem Auftaktband zwei weitere Gunther-Abenteuer folgen ließ.

Seinen Job konnte Kerr aufgeben. Er erweiterte sein Repertoire und verfasste in rascher Folge Science-Fiction- und Science-Thriller. Erfolgreich waren auch weitere Historien-Thriller. „The Shot“ (1999; dt. „Der Tag X“) bietet eine fiktive ‚Aufklärung‘ des Kennedy-Mordes, „Dark Matters“ (2002, dt. „Newtons Schatten“) spielt Ende des 17. Jahrhunderts in London. Mit „Hitler’s Peace“ (dt. „Der Pakt“) kehrte Kerr 2005 ins Nazi-Milieu zurück und ließ im folgenden Jahr die Bernhard-Gunther-Serie mit „The One from the Other“ (dt. „Das Janusprojekt“) aufleben.

Philip Kerr ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in dem Londoner Vorort Wimbledon. Inzwischen hat er sich auch als Jugendbuch-Autor (unter dem ‚Pseudonym‘ P. B. Kerr) versucht. „The Akhenaten Adventure“ (dt. „Das Akhenaten-Abenteuer“) erschien 2003 als erster Teil des Zyklus‘ „Children of the Lamp“ (dt. „Die Kinder des Dschinn“), war (selbstverständlich) überaus erfolgreich und wurde mehrbändig fortgesetzt.

Taschenbuch: 384 Seiten
Originaltitel: Dark Matters: The Private Life of Sir Isaac Newton (London : Orion Books Ltd. 2002)
Übersetzung: Cornelia Hollfelder-von der Tann
http://www.rowohlt.de

eBook: 911 KB
ISBN-13: 978-3-644-21131-5
http://www.rowohlt.de

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