Lev Tolstoi / Sofia Tolstaja – Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Rosenkrieg im Haus Tolstoi

„Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ (Matthäus 5,28) – Schon die als Vorwort gewählten Bibelzitate Tolstois für seine Erzählung „Kreutzersonate“ machen deutlich, dass es im Folgenden um die Auseinandersetzung mit der Sexualität und der Ehe gehen wird, die man am besten gar nicht erst eingehen sollte, da das Himmelreich nur durch Enthaltsamkeit erreicht werden kann (Matthäus 19, 10-12).

So trifft der Leser in einer Rahmenhandlung auf eine kleine Gesellschaft in einem Eisenbahnabteil, deren Plaudereien vom Erzähler nicht ohne Spott und Ironie wiedergegeben werden. Ein alter Kaufmann mit antiquierten Vorstellungen von der Ehe diskutiert beispielsweise mit einer „emanzipierten“ Frau, die ihre Überzeugung von freier Partnerwahl durch Liebe und aus geistiger Verbundenheit heraus vertritt, während er Ehen preist, in denen die Frau Furcht vor dem Mann hat, dieser sie an kurzen Zügeln hält und Liebe gelernt werden muss. Solchermaßen entspinnt sich ein Gespräch über Liebe, Ehe und Scheidung, das vom mitreisenden Posdnyschew nach Weggang des Kaufmanns wieder aufgenommen wird. Dieser vertritt die Meinung, dass Liebe nur eine vorübergehende körperliche Anziehung und die Ehe ein großer Selbstbetrug sei. Posdnyschew legt dem fragenden und kommentierenden Erzähler daraufhin seine Lebensbeichte ab. Er berichtet von seiner im Rausch flüchtiger Verliebtheit stattfindenden Heirat, von zunehmender und schließlich in Hass umschlagender Gleichgültigkeit seiner Frau und seiner Familie gegenüber und schließlich von seiner Eifersucht, die ihn zum Mörder werden lässt.

Die „Kreutzersonate“ gilt als einer der Höhepunkte des Alterswerks Tolstois und wurde durch sein persönliches Leben angeregt. Wer von seiner Altersweisheit zu profitieren hofft, der findet in der „Kreutzersonate“ jede Menge Thesen zu Ehe, Liebe, Moral und Sitten, bei denen man sich allerdings fragen muss, ob er der Einzige ist, der den Durchblick hat, oder doch nur ein wirrer alter Pessimist, der diese Fragen in seinen Meisterromanen rückblickend nicht deutlich genug angesprochen wähnte. Posdnyschew als Sprachrohr Tolstois beklagt die Sexualisierung der Gesellschaft, die Abkehr von der durch religiöse Vorschriften geprägten Vorstellung vom Zusammensein von Mann und Frau, die Mitschuld der Mediziner am Verfall der Sitten und zeigt das Sexuelle „mit einer nie dagewesenen Vorstellungskraft als ein ungeheuerliches Werkzeug des Todes“ (Oleg Jurjew).

Wie Olga Martynova im Nachwort treffend bemerkt, gibt es zu den meisten, wenn nicht gar zu jeder These auch eine Antithese. Wird die Frau zum Beispiel zunächst noch durch die Familie und den Mann selbst, durch dessen Schule sie gehe, zum Verführen – ja geradezu zum Prostituieren – erzogen und von den unredlichen Gefühlen der Männer wissend geschmäht, wird kurz darauf ihre von Romanen herrührende romantische Vorstellung von der Reinheit des Mannes verspottet. Mode, Kunst und Musikstücke, wie die feurige „Kreutzersonate“ Beethovens, trügen zur Sexualisierung und Veröffentlichung von Leidenschaften maßgeblich bei. Die Ehe wird als Falle für beide Partner dargestellt, in der man sich schließlich so benebele, dass man zum Schluss nicht mehr begreife, dass man in einem falschen Leben aus Familie und Zerstreuungen gefangen ist, während man die gottgewollten Regeln des Zusammenlebens vernachlässige. Während Posdnyschew es immer wieder so schildert, als sei das moderne Leben auch schlecht für die Frauen, führt jedes Argument doch unweigerlich dahin, dass er seine Tat zu begründen versucht. Seine Frau hat in der Schilderung dieser Ehe erst eine Stimme, als sie auf dem Sterbebett liegt. Alles, was er zu wissen glaubt, hat er aus Gesten, Blicken und Verhaltensweisen geschlossen, denn über Erwartungen und Schwierigkeiten in der Ehe wird nicht mit dem Partner gesprochen. Seine emotionslose und distanzierte Beschreibung des Tathergangs liest sich mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Alles ist so didaktisch idiotensicher ausgearbeitet, dass auch der Letzte begreift, dass es endlich so hatte kommen müssen.

Betrachtet man Tolstois schriftstellerische Entwicklung, führt die „Kreutzersonate“ bereits bestehende Strömungen im Werk des Autors zum extremen Höhepunkt. In „Krieg und Frieden“ (1868/69) sind Helden wie Andrej Bolkowski oder Pierre Besuchow wie der Autor selbst auf der Such nach ethischen und moralischen Idealen und dem wahren Sinn des Lebens. Pierres Frau geht dabei ganz in Ehe und Mutterschaft auf und weist damit voraus auf die Familie Levin in „Anna Karenina“ (1875-77), die als Gegenentwurf zum leidenschaftlichen aber tragischen Leben Annas gezeichnet wurde und auf einem idyllischen Landgut lebt. Konstantin Levin lebt für die Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Selbstvervollkommnung und der Suche nach Gott. Seine Frau Kitty findet ihre Bestimmung in der Mutterschaft und dem Leben für ihre Familie, während Anna Karenina für ihren Ehebruch und ihren bedingungslosen Glauben an die leidenschaftliche Liebe mit dem Tod bestraft wird.

Glücklicherweise hat |Manesse| in seiner 2010 erschienen Edition in der „Bibliothek der Weltliteratur“ nicht nur zahlreiche Anmerkungen, sondern auch mehrere Essays hintangestellt, die sich angesichts Tolstois radikaler Ansichten des perplexen Lesers annehmen. Olga Radetzkaya beleuchtet die Neuübersetzung der Erzählung. Olga Martynova rückt mit biografischer Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen in den zerrissenen Autor die Verwirrung, die man als Leser angesichts der pessimistischen Weltanschauung und der Bedeutung dieser Erzählung verspürt, wieder etwas zurecht. Es empfiehlt sich, diese Nachwörter schon vor der eigentlichen Erzählung zu lesen.

Dass |Manesse| die „Kreutzersonate“ in einem Band mit dem Antwortroman Sofja Tolstajas „Eine Frage der Schuld“ herausgebracht hat, ist Kennzeichen für das besondere literarische Gespür des Verlages und seine Sorgfalt im Hinblick auf Editionen. Wenn man sich in Tolstois Lebensgeschichte nicht auskennt, sollte man auch an dieser Stelle das Nachwort von Oleg Jurjew zuerst lesen. Versteht man, welchen Anteil Tolstois Ehefrau am „literarischen und wirtschaftlichen Tolstoi-Imperium“ hatte, und dass sie sich eine auf Partnerschaft und Respekt basierende Gemeinschaft mit ihrem Ehemann vorgestellt hat, wird ganz klar, dass die „Kreutzersonate“ Sofja Tolstaja wie ein Schlag ins Gesicht getroffen haben muss; zumal sie auch von der Öffentlichkeit und der Familie als Plauderei aus dem privatesten Nähkästchen und damit als persönliche Beleidigung empfunden wurde.

In ihrer literarischen Replik, die zu ihren Lebzeiten jedoch nie veröffentlicht wurde und nur für ihre Familie gedacht war, zeichnet sie ein differenzierteres Bild der gleichen Konstellation. Der ältere, gut situierte Fürst Prosorski heiratet ein frisches junges Mädchen, welches von der Liebe nur aus der Literatur weiß und auch von der Realität in einer Ehe und den Verpflichtungen, die auf sie zukommen, keine Ahnung hat. Enttäuschungen, die bereits mit der fehlenden Hochzeitsnacht beginnen, sind auf beiden Seiten vorprogrammiert, denn mangelndes Vertrauen, fehlende Kommunikation und fehlendes Einfühlungsvermögen von Seiten des Ehemannes treiben die Heldin Anna geradezu in die Nähe dessen, der an ihren persönlichen Belangen Anteil nimmt. Aus heutiger Sicht ist es bewundernswert, wie loyal Anna zu ihrem Ehemann steht und bereits bloße Gedanken an eine wie auch immer geartete Beziehung zu Bechmetew weit von sich weist, obwohl deutlich wird, dass er dem Ideal des Seelenverwandten, mit dem sie durchs Leben gehen möchte, viel näher kommt als ihr Ehemann. Damit bezieht sich Tolstaja auch auf den kleinen Roman „Familienglück“ (1859) ihres Mannes, von dem sie damit quasi eine Negativfassung geschrieben hat, die deutlich macht, dass „die Frage der Schuld“ sich nicht auf den Mord Posdnyschews oder Prosorskis an der Ehefrau bezieht, sondern darauf, wer das durch die Ehe versprochene Familienglück zerstört hat. Auch Sofja Tolstaja hat damit ausgeteilt, aber subtiler als ihr Mann.

Die somit in einem Band vorliegenden Werke der Eheleute Tolstoi eröffnen die Möglichkeit, sich mit den Auswirkungen der inneren Zerrissenheit des erfolgreichen adligen Schriftstellers auseinanderzusetzen, der in seinem Leben alles an Ruhm, Ehre und Geld erreicht hat, was man sich vorstellen kann, und dennoch seinen eigenen extremen Ansprüchen nicht gerecht geworden und damit von Matthäus‘ Himmelreich meilenweit entfernt ist. Sie eröffnen auch den Blick darauf, was es bedeutet, die Ehefrau eines solchen Mannes zu sein; das alles in gewohnter |Manesse|-Qualität mit Lesebändchen, Leineneinband, Schutzumschlag, Anmerkungen und für das Verständnis der Werke unerlässlichen Nachbemerkungen.

Kreutzersonate; Novelle von 1889
Deutsche Erstveröffentlichung 1890

Eine Frage der Schuld; Roman von 1893
Russische Erstveröffentlichung 1994
Deutsche Erstveröffentlichung 2008

432 Seiten, gebunden, Leinen mit Schutzumschlag
ISBN-13: 978-3-7175-2260-7
www.manesse-verlag.de