Nievo, Ippolito – Ein Engel an Güte

_Kabale und Liebe in der alten Republik Venedig_

Die junge Morosina, der buchstäbliche Engel an Güte, fiebert im Jahr 1749 ihrer Entlassung aus dem venezianischen Kloster der Seraphinerinnen entgegen, in dem sie, finanziert vom Gönner ihrer Familie Inquisitor Formiani, „einem Mann, der ausnahmslos alle Gaben des großen Staatsmannes und ausnahmslos alle Laster des venezianischen Edelmanns in sich vereinte“, sechs Jahre erzogen wurde. Nun hofft sie, endlich zu ihren Eltern auf das heimatliche Landgut zurückkehren zu können. Doch was der italienische Autor Ippolito Nievo (1831-1861) zu Anfang des Romans in einer Klosterszene als gängiges Laissez-faire, das zu dieser Zeit in allen Bereichen der Republik Venedig herrscht, beschreibt, gleicht mehr einem herrschaftlichen Salon zur Karnevalszeit. Ströme von jungen Herren und Familienmitgliedern drängen unablässig in die ohnehin überfüllten Klosterräume. Aufgeputzte Menschen, deren Kleidungsstil so detailliert beschrieben wird, dass man sie förmlich vor Augen hat, vergnügen sich bei Smalltalk und Musik. Es wird geflirtet, was das Zeug hält, und natürlich gelästert.

Schnell lernt der Leser Morosinas Vater kennen, der in Aufmachung und Verhalten sofort deplatziert aus der Masse heraussticht, von ihr jedoch trotz seiner Erscheinung als „ausgefallenes Exemplar“ bedingungslos geliebt wird. Allerdings ist er nicht gekommen, um sein Kind nach Hause zu holen und ihr unter anderem endlich, wie lange von ihr gewünscht, ihre Stiefmutter vorzustellen. Sie erfährt, dass sie zunächst beim greisen Formiani leben soll, der sie kurz darauf zu seiner Frau erwählt. Aus Dankbarkeit für die Unterstützung ihrer Familie und aus Gehorsam ihrem Vater gegenüber kommt es ihr gar nicht in den Sinn, sich gegen diese Heirat zu stellen, obwohl sie seit ihren frühen Kindertagen den Cavaliere Celio liebt.

Im Kloster von Ränken und Sittenlosigkeit umgeben, hat sie sich dennoch ihr reines Wesen erhalten, welches sich in ihren Kindertagen unter den wachsamen Augen des Gerichtsschreibers Chirichillo herausgebildet hat. Dieser hatte die Vaterrolle an ihr übernommen und „für ihn war Herzensgüte der Dreh- und Angelpunkt jeder moralischen Vollkommenheit. Daher waren Lieben, Trösten, Glauben, Verzeihen, Gehorchen seine Lieblingsverben, und alles, was er sagte, war dazu angetan, Morosina deren praktische Anwendung einzuprägen. Sodann folgte in seinem Wertesystem die Seelenstärke. … und auf diesem Weg gelangte er zur Notwendigkeit der Sittlichkeit.“ Sowohl der Vater als auch Chirichillo erscheinen als einfach gestrickte komische Charaktere vom Land in der Tradition der Comedia del’Arte. Sie kontrastieren stark mit den berechnenden Stadtmenschen, und auch Morosina, die im Kloster zahlreiche gegenteilige Erfahrungen gemacht hat, besticht mit ihrer Herzensgüte, die teilweise an Einfalt grenzt, dadurch, dass sie das Spiel, in welchem sie Formiani zur Weiterführung seines Stammbaumes auserkoren hat, nicht als solches durchschaut. Statt mit Celio, der nicht ganz so reinen Herzens wie Morosina ist, ihrem Gatten untreu zu werden und die Kinder zu zeugen, die Formianis Neffen um den Zugriff auf dessen Erbe bringen sollen, ist sie fest entschlossen, Formiani eine treue Ehefrau zu sein und auf ein späteres Glück mit Celio zu hoffen. So viel Lauterkeit wirkt schließlich ansteckend und zwing die Männer, ihren Plan aufzugeben. Der 74-jährige Inquisitor stirbt glücklicherweise nach nur vier Monaten, und so steht dem märchenhaften Ende mit der Hochzeit der Liebenden und einer großen Kinderschar nichts mehr im Wege.

Ippolito Nievo ist neben Alessandro Manzoni der bedeutendste italienische Romancier des 19. Jahrhunderts und wird vor allem wegen seiner zahlreichen Gedichte und des Romans „Bekenntnisse eines Italieners“ geschätzt. Der |Manesse|-Verlag hat 2010 den Roman „Ein Engel an Güte“ in der Reihe „Bibliothek der Weltliteratur“ in einer vielbeachteten Neuübersetzung herausgebracht, die 2011 den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis gewann. Die Geschichte um Morosina und Celio dient dem Autor dabei als Leitfaden, an dem er auf unterhaltsame Weise die politischen und gesellschaftlichen Zustände der bei der Entstehung des Romans längst untergegangenen venezianischen Republik des 18. Jahrhunderts beschreibt und mit der Hoffnung der Entwicklung eines vereinten italienischen Staates spielt. Der Bildungsaspekt des Romans in Form von abschweifenden Beschreibungen der Kultur, der Lebensart, der politischen Intrigen und der Querelen zwischen Lagunenstadt und Festland verlangen dem Leser ein wenig Geduld ab, aber das pralle Sittengemälde und die komischen Szenen machen alles wieder wett. Ippolito Nievo selbst war es leider nicht vergönnt, das unabhängige und vereinte Italien zu erleben, das er erhofft hatte. Er kämpfte zwar an der Seite des italienischen Nationalhelden Garibaldi im zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg, starb jedoch einen Monat nach der Vereinigung Italiens unter der Herrschaft des Hauses der Savoyen mit nur 29 Jahren bei einem Schiffsunglück.

Dass der |Manesse|-Verlag den Roman „Ein Engel an Güte“ in sein sorgfältig aufgemachtes Weltliteraturprogramm aufgenommen hat, gilt als Zeichen, dass man ihn gelesen haben sollte. Wer Literatur mag, die mehr als nur unterhalten will, ist damit bestens bedient, und auch Nievos lesenswerter Roman „Bekenntnisse eines Italieners“ ist in dieser Edition in der Übersetzung von Barbara Kleiner erschienen.

|Originaltitel: Angelo di Bontà, 1856
Deutsche Erstveröffentlichung 1877 als „Ein Engelsherz“
Neuübersetzung aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Mit Nachwort von Lothar Müller
Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag, 560 Seiten|
[Manesse-Verlag]http://www.manesse-verlag.de

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