Brian W. Aldiss – Raum, Zeit und Nathaniel. SF-Erzählungen


Classic SF mit Witz und Biss

„Humor ist merkwürdigerweise recht selten zu finden in der Science Fiction, und es gibt wenige Autoren, die witzige SF-Stories schreiben können. Brian W. Aldiss ist sicher der phantasievollste von ihnen – in alter englischer Tradition sozusagen – nur kann es bisweilen passieren, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Hier sind 14 Kostproben…“ (Verlagsinfo)

Der Autor

Brian W. Aldiss (* 1925) ist nach James Graham Ballard und vor Michael Moorcock der wichtigste und experimentierfreudigste britische SF-Schriftsteller. Während Ballard nicht so thematisch und stilistisch vielseitig ist, hat er auch nur selten Aldiss’ ironischen Humor.

Aldiss wurde bei uns am bekanntesten mit seiner Helliconia-Trilogie, die einen Standard in Sachen Weltenbau in der modernen SF setzte. Das elegische Standardthema von Aldiss ist die Fruchtbarkeit des Lebens und die Sterilität des Todes. Für „Hothouse“ („Am Vorabend der Ewigkeit“) bekam Aldiss den HUGO Award. Er hat auch Theaterstücke, Erotik, Lyrik und vieles mehr geschrieben.

DIE ERZÄHLUNGEN

I. RAUM

1) T

Als sich die große Flotte der Menschen der Galaxis der Koax nähert und mit Vernichtung droht, greifen die Koax zu einem letzten verzweifelten Mittel. Sie schicken zwölf Piloten ihrer Rasse durch die Vergangenheit, um den Ursprungsplaneten dieser aggressiven Rasse zu zerstören. Der Zielpunkt geht aus einer erbeuteten Karte des Sol-Systems eindeutig hervor: Es ist der siebte Planet von außen.

Die knapp eine Milliarde Lichtjahre ist binnen 200 Jahren überwunden, und die überlebenden Piloten werden aus ihrem Hyperschlaf geweckt. Systeme fallen aus oder zeigen Fehlverhalten. Nur zwei der Selbstmordattentäter können ihre Nuklearbomben ins Ziel bringen und zünden. Der Asteroidenplanet fliegt ebenso in die Luft wie der fünfte Planet zwischen Mars und Jupiter. Auf Terra, dem nunmehr siebten Planeten, kriecht erstes Leben an Land…

Mein Eindruck

Tja, das kommt davon, wenn man sich auf Fake News verlässt. Mit akribischer Präzision beschreibt der Autor die unfehlbar erscheinenden Vorbereitungen der Koax, lässt aber auch nicht unerwähnt, dass technische Systeme versagen oder falsch funktionieren können. Der Raum, insbesondere bei nahezu einer Milliarde Lichtjahre, ist eben nicht leer, sondern erfüllt von jeder Menge Müll in Gestalt von Stoff und Strahlung. (Dass es „nur“ eine Milliarde Lichtjahre an Distanz zu überwinden gibt, hat mich ziemlich gewundert, denn es wird zuvor erwähnt, dass sich die Koax am „andere Ende des Universums“ befinden, also mindestens 14 Mrd. Lichtjahre entfernt.)

Ganz nebenbei entwirft der Autor eine alternative Evolution des hiesigen Sonnensystems: Dass der Asteroidenplanet irgendwann existiert haben dürfte und dann zerbrach, erscheint folgerichtig. Dass er aber auch nicht einen weiteren Planeten postuliert, ist nicht für jeden Astronomen nachvollziehbar. Aber Spaß muss sein, wird sich Aldiss gesagt haben. Wozu sonst eine Geschichte erzählen? – Der Hintergrund ist indes ernst: Der Kalte Krieg gebar jede Menge horrormäßige Szenarien von Abschreckung und Vergeltung, deren letzte Ausläufer man in Stanley Kubricks Satire „Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ bewundern kann.

2) Unsere Erkenntnis

Eine fünfköpfige Gruppe Naturforscher entdeckt im arktischen Frühling unter dem geschmolzenen Schnee ein altes Raumschiff. Durch Telepathie und Telekinese fällt es ihnen leicht, das alte Ding zum Raumflug zu überreden. Schon bald wird es allerdings von den militärischen Außenposten des Zweiten Imperiums auf Kyra-I entdeckt. Großadmiral Rhys-Barley befiehlt, das alte Ding zu stoppen und die Besatzung mit äußerster Vorsicht zu befragen. Es könnte sich ja um die feindlichen Baux handeln, die als fiese Gestaltwandler eine ständige Bedrohung darstellen.

Zur allgemeinen Konsternation der wackeren Militärs sind die fünf unscheinbaren Fremden allerdings in der Lage, alle Maßnahmen zu ihrer Gefangensetzung auszutricksen. Der Gestank der Angst, den der Großadmiral und seine Mannen ausströmen, bleibt nicht unbemerkt. Ausgerechnet jetzt übernimmt der Defätist Deeping das Gespräch mit den Fremden. Nur der Xenologe bewahrt Deeping davor, auf der Stelle an die Wand gestellt zu werden. Doch Deeping gelingt es, die Wahrheit zu erfahren.

Erschüttert vernehmen die Soldaten, dass die Fremden Nachkommen einer Verbindung aus Menschen des 1. Imperiums und der Baux sind. Das ist der Grund, warum sie über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, wie etwa diese, dass sie den Zentralcomputer von Kyra-I manipuliert haben. Jetzt herrsche Frieden. Zufrieden machen sich die Fremden auf den Weg zurück zur Erde…

Mein Eindruck

Diese Erzählung ist eine eindeutige Zurückweisung des paranoiden US-amerikanischen Imperialismus, den E.E. „Doc“ Smith in seinen Sternenopern um die Lensmen und die Galaktische Patrouille mehr als 30 Jahre lang verbreitete (das war wahre Pulp Fiction). Statt sinnloser Konfrontation stellt Aldiss hier eine Zusammenarbeit, ja, sogar eine genetische Vermischung vor – eine Horrorvorstellung für sämtliche Rassisten der Erde.

Die Besucher hinterlassen ein genmanipuliertes Exemplar der Gattung Sauerklee. Das Bild erinnert an Blumenkinder, die zehn Jahre nach Publikation dieses Buches 1967 Blumen in Gewehrläufe steckten.

3) Psiklopen (Psyclops, 1956)

Das kleine Ich des sechs Monate alten Fötus wird von einer Stimme geweckt. Die Stimme behauptet, sie gehöre seinem Vater. Da sich der kleine Sohnemann im Bauch der Mutter in Gefahr befinde, wolle er ihn warnen – per Telepathie. Denn er, der Vater, sei auf dem Planeten Mirone von blauhäutigen Eingeborenen entführt und verletzt worden, doch der Mutter sei es gelungen, mithilfe der Rakete zu entkommen. Der Haken dabei: Das Flugprogramm basiert immer noch auf dem Zusatzgewicht des verlorenen Vaters und berechnet deshalb den Kurs falsch. Der Flug würde ins Nichts führen.

Der kleine Sohnemann findet all diese Gedanken und Begriffe verwirrend. Er soll sich sogar neben einer Zwillingsschwester im Bauch seiner Mutter befinden. Statt das Universum zu beherrschen, muss er es nun mit jemandem teilen, den er gar nicht kennt. Er beginnt zu stoßen und zu treten…

Mein Eindruck

Dies ist wohl die ungewöhnlichste Familiengeschichte, die man je zu lesen bekommen wird. Mutter und Vater sind getrennt, Tochter und Sohn noch an Bord der Mutter. Allerdings ist nur der Sohn telepathisch begabt und soll, durch einen Kontakt mit der terranischen Telepathiezentrale TTZ alle drei Flüchtigen vor einem schlimmen Ende im Dunkel zwischen den Sternen bewahren. Allerdings reagiert der Sohnemann wie ein Zyklop mit nur einem Auge und beginnt durch sein Treten, alle drei in Gefahr zu bringen. Die Story ist einfallsreich, mit feinem Humor erzählt und doch auch anrührend in ihrer Sympathie für das Ungeborene. Sie lässt sich als Satire auf alle SF-Romane über Psi-Talente und mutierte Telepathen lesen.

4) Das Urteil

Die regierende Elite der Galaxis ist versammelt, als der Terraner David Stevens seinen folgenschweren Auftritt inszeniert. Stevens war der Direktor der Raumkolonie auf dem Jupitermond Ganymed und wurde binnen drei Monaten grundlos hierher expediert, doch wozu, hat man ihm nicht verraten. Es geht um nichts Geringeres als um die Aufnahme der Erde in die galaktische Gemeinschaft – oder um ihre Zerstörung. Alles hängt vom Prozessverlauf ab, sagt man ihm – und er sei Kläger, Angeklagter und Verteidiger in einer Person.

Stevens kommt nicht unvorbereitet zu den Aliens (die übrigens sicherheitshalber nur Hologramme geschickt haben): Er verfügt über Implantate im Kehlkopf und hinter den Ohrmuscheln, um per Subradio mit der Erde zu kommunizieren. Vielleicht kann er die Richter damit täuschen. Die Telepathen unter den Aliens kann er nicht überlisten, und auf Lügen steht die Todesstrafe. Aber der oberste Richter sieht in Lügnern einen Wert, den seine Kollegen nicht erkennen – im Krieg gegen die Elfte Galaxie braucht man unkonventionelle Denker…

Mein Eindruck

Zunächst erinnert das Tribunal in seiner Absurdität an Kafka. Doch es handelt sich um eine abgedroschene Standardsituation des SF-Genres: Ist die Menschheit würdig, in die Gemeinschaft der galaktischen Völker aufgenommen zu werden? Argumentiert man auf emotionaler Ebene, so wird man nichts erreichen, denn Aliens empfinden ganz anders. Argumentiert man logisch, so kann man mit Worten – die natürlich automatisch übersetzt werden – allerlei Tricks ausführen, die der Täuschung dienen. Diese stößt bei Telepathen freilich an ihre Grenzen. Doch die Fähigkeit zur Lüge – jeder Verfechter des Kalten Krieges weiß das – ist für bestimmte Zwecke unerlässlich. Mit einem Augenzwinkern vermittelt der Autor eine wichtige Erkenntnis über Menschen.

II. ZEIT

5) Für alle Zeit (Not for an age, 1955)

Rodney Furnell erwacht wie jeden Tag in einem leeren Bett. Seine Valerie macht schon Frühstück und sein 19-jähriger Sohn rasiert sich bereits. Wie jeden Tag lacht das Publikum, als sich Rod in seinem Schlafanzug zeigt. Im Jahr 2500 kennt man so etwas nicht mehr, aber die AG für Zeitarchäologie zeigt die Familie Furnell gerne als unterhaltsame Kuriositätenschau für das 20. Jahrhundert. Rod ärgert sich natürlich darüber, zur Schau gestellt und verspottet zu werden, andererseits sieht er die Zuschauer nicht und kann sie nicht beschimpfen. Jeder Tag vergeht wie der andere, wie eine Filmvorführung.

Eines Tages reißt der Film. Ein ungeahntes Gefühl von Freiheit und Zuversicht erfüllt Rodney. Er besteigt das nächste Taxi, um sich nach Oxford, England, kutschieren zu lassen. Es ist das Jahr 2500 und alle Taxis werden von intelligenten Robotern gesteuert. Der Roboter erzählt dermaßen niederschmetternde Dinge, dass Rod erkennt, er kann niemals wieder in seine eigene zeit zurückkehren. Er befiehlt volle Kraft voraus. Nach seinem Unfalltod beginnt sein Leben erneut – in einer ewigen Filmschleife…

Mein Eindruck

In dieser kurzen Story kombiniert der Autor zentrale Themen der Moderne: die Wahrnehmung der Absurdität einer repetitiven Existenz, die Selbstentfremdung durch Fremdbestimmung, das Scheitern jeder Befreiungsbewegung in diesem System, die letztendliche Selbstzerstörung. Und doch können wir Mitgefühl für Rodney Furnell aufbringen, diesen Gefangenen einer Filmhandlung, die nur einen Tag dauert: „Täglich grüßt das Murmeltier“ mit einem Sisyphus als Akteur.

6) Das Orakel

Die ferne Zukunft. König Horace von Harkon (Britannien) ist krank, aber keiner seiner Ärzte kann sagen, woran er leidet. Als der Chef seiner Sittenpolizei einen Landstreicher namens Tausch vorführt, fällt es dem Griesgram leicht, diesen ohne Anhörung zum Tode zu verurteilen. Wenig später läuft ihm im Park ein sonderbares Männlein über den Weg, das behauptet, seine Zukunft vorhersagen zu können – in einem kleinen goldenen Medaillon. Horace müsse ihm dazu nur seinen Stock geben. Obwohl es ein höchst exklusiver königlicher Stock ist, willigt Horace ein. Die Neugier hat ihn gepackt. Kaum ist das Männlein verschwunden, öffnet er das Medaillon. Darauf steht auf einem winzigen Zettel: „Auf Globadan gewann ich das Shubshub-Rennen.“ Dann verblasst die Schrift. Horace entsorgt das Medaillon.

Horace begnadigt Tausch, damit er ihn auf seiner Reise nach Upotia begleitet, denn Tausch behauptet, sich mit dem Shubshub-Rennen auszukennen. Shubshubs seien wie Vogel Straße, nur eben mit sechs Beinen – und nichts sei schneller als ein Shubshub. Als sie die Priesterin Colinette Shawl kennenlernen, lassen sie sich gern bekehren, denn sie weiß, wo Globadan liegt: am Rande der Galaxis. Mit dem nächsten Schiff fahren sie dorthin. Denn sie kennt auch die Methode, wie man schneller sein kann als ein Shubshub – durch einen relativistischen Effekt.

Die Fahrt nach Globadan wird aufregend, als Horace zufällig das kleine Männlein wiedersieht und ihm heimlich folgt. Als dieses seine Kabine kurz verlässt und Horace sie unverschlossen vorfindet, tritt er einfach ein. Die Kabine ist leer, dermaßen leer, dass sie für einen Menschen ungeeignet ist. gerade als ihm die Erkenntnis dämmert, was das Männlein in Wahrheit ist, drückt sich ihm ein Pistolenlauf in den Rücken…

Mein Eindruck

Was sich wie die Neufassung des Grimm’schen Märchens „Rumpelstilzchen“ anhört, ist sowohl clever als auch amüsant-ironisch erzählt. Es gibt relativistische Effekte, die den zentralen Satz „Auf Globadan gewann ich das Shubshub-Rennen“ wahr werden lassen. Es gibt mehrere überraschende Entdeckungen und eine vertauschte Identität – kurzum: für Unterhaltung im Märchenstil ist auf amüsanteste Weise gesorgt.

7) Polizeibericht (Criminal Record, 07/1954)

Ein Radiotechniker findet in einem Antiquitätenladen in Cambridge eine sonderbare Schallplatte. Die zweite Seite ist nämlich in Wahrheit eine Videoplatte – und stammt aus der Zukunft. Zusammen mit seinem besten Freund Harry Crossway schaut er die 20 Minuten lange Aufzeichnung an. Der Polizeibericht wurde auf dem Planetoiden Eros erstellt und dokumentiert die Entstehung der Smots und Smoofs aus den Kolonisten, die auf der Venus angesiedelt wurden.

Die Smoofs entwickeln die Fähigkeit, in die Vergangenheit zu reisen und dort Unfug zu treiben. Aufgrund des resultierenden Chaos kam es zu Panik und Sittenverfall, der als Reaktion die denkbar strengsten Gesetze zur Folge hatte. Die Akte stammt aus einem Polizeistaat.

Da unser Techniker sich eine n Scherz erlaubt und eine Suchanzeige nach „Smoof“ in die Lokalzeitung gesetzt hat, kommt es kurz nach Eintreffen der herbeigerufenen Polizei zu einer folgenschweren Begegnung. Wie wird der Smoof aussehen? Haben vier Männer gegen ihn überhaupt eine Chance? Der Bericht bricht ab…

Mein Eindruck

Verbrecher aus der Zukunft – mit denen man sich lieber nicht anlegen. Das Thema der Story ist aber die unkontrollierte Entwicklung der alleingelassenen Siedler, die nach mehreren Generation selbständiger Evolution überlegene Fähigkeiten entwickeln und sich für das erlittene Unrecht zu rächen beginnen. Merke: Man sollte die Siedler immer unterstützen und an ihrer Entwicklung teilhaben, sonst wird sich das nämlich schrecklich rächen. So ist nun mal die menschliche Natur.

Wenn Aldiss hier von Cambridger Antiquitätenläden erzählt, dann spricht er aus eigener Erfahrung. Er war selbst in Oxford Buchhändler, bevor er 1955 mit dem Schreiben begann. Der O-Titel ist ein wunderbares Sprachspiel: Criminal Record bedeutet nicht nur Polizeiakte, sondern auch „kriminelle Schallplatte“.

8) Die Gescheiterten (Ahead, 1959)

Der Raumfahrer Surrey Edmark ist gerade ins Jahr 2388 zurückgekehrt und jammert, dass es hier in Singapur so voll sei. Er verdrückt sich in einer Seitenstraße und landet vor einem Café, in dem eine chinesische Sängerin ein sehnsüchtiges malaiisches Liebeslied trällert. Danach spricht er sie an, indem er gesteht, er komme gerade vom Zeitschiff. Das weckt ihr Interesse und er darf ihr seine Geschichte erzählen.

Die Paulls kamen aus dem 3157. Jahrhundert, um im 24. Jahrhundert für ihre jüngste IRK-Hilfsaktion Helfer zu rekrutieren sowie Hilfsgüter aufzutreiben. Das IRK ist das Intertemporale Rote Kreuz. Dann ging es los in die ferne Zukunft, wo die Gescheiterten Menschen existierten. Existierten, aber nicht lebten, denn sie hatten sich in flache Gräber eingebuddelt, um dort den Rest ihrer Zeit zu verbringen.

Surrey fragte die Paulls und die Gescheiterten nach ihrem Problem, das sie zu diesem absonderlichen Verhalten veranlasst hatte. Die Antwort ergibt keinen Sinn, wahrscheinlich durch die Übersetzungsmaschine oder die fremden Begriffe. Nur ein Wort fällt ihm auf: „Struback“. Er sei ein Struback, erfährt er, ein Dummkopf…

Mein Eindruck

Aldiss musste im Alter von 19 Jahren selbst am Burma-Feldzug in Südostasien teilnehmen, um die japanische Invasion Indiens abzuwehren. In der Zeit nach dem Kriegsende lernte er Südostasien kennen, wo die Briten in Singapur ihre wichtigste Festung hatten. Diese Stadt bildet den Schauplatz dieser Story. Aber nun wird auch klar, warum Aldiss das Problem der Hilfslieferungen (etwa nach Burma) als unlösbar aufgreift und kurzerhand in den Weltraum und die Zeitlandschaft transferiert.

Das Problem ist stets das Gleiche: Wenn die Sprache nicht verstanden wird, bleibt jede Kultur zwangsläufig unzugänglich und jede Hilfsanstrengung nur bedingt sinnvoll. Eine solche Thematik ist in der SF selten, obwohl man meinen sollte, dass bei Xenologie stets das gleiche Problem auftaucht. Am besten haben wohl weibliche SF-Autoren wie Ursula K. Le Guin, Alice Sheldon (= James Tiptree jr.) oder Sydney van Scyoc das Thema verarbeitet.

III. NATHANIEL (und andere)

9) Alles durch nichts

Alastair Mott ist Fürst von Sconn, dem Gebiet von Süd- und Nord-Dakota, und als solcher gewöhnt an wilde Partys mit der galaktischen Schickeria. Doch durch unglücklich verlaufende Liebeshändel verliert er seine Stellung: Vera Manchester, seine jüngste Eroberung, nimmt ihm übel, dass er sie hat sitzenlassen. Als sie Oberste Lady der Weltregierung wird, versetzt sie ihn aus Rache ans andere Ende der Galaxis, genauer gesagt; auf eine unwirtliche Siedlerwelt mit dem schönen Namen Acrostic-I. Alastairs baldige Erkenntnis lautet: Niemand kommt und niemand geht. Dieser Zustand muss ein anderer werden.

Durch das Auftauchen dreibrüstiger Affen in terranischen Hochglanzmagazinen und Touristenbroschüren setzt ein erster Strom (männlicher) Touristen ein. Ein gestohlenes Gedicht sorgt für Glamour, ein neu erfundenes Wort für „auf angenehme Weise die Zeit totschlagen“ erlebt eine steile Karriere im Hipster-Slang. Noch besser ergeht es jedoch Alastairs ausgefüllten Formularen, die die irdische Bürokratie in Verzückung versetzen. Schon bald heißt es aus Acrostic-I alarmierend: „Wir benötigen einen Computer!“ Vera Manchester lässt Menschen und Maschine postwendend ans andere Ende der Milchstraße expedieren (zu enormen Kosten, versteht sich). Dann folgt eine weitere schockierende Nachricht: „Wir haben keine hydroelektrische Energie, um den Computer zu betrieben!“ Nach zwei Jahren Untersuchung schenkt sie Alastair ein Atomkraftwerk, und der Computer bekommt ordentlich was zu tun.

Der Sturz von Vera Manchester, die Alastair so viel Ungemach bereitet hat, ist unvermeidlich, und seine andere Eroberung, Jungfer Rosalynd Staffordshire, wird Oberste Lady. Kommt sie zu ihm oder er zu ihr?

Mein Eindruck

Die Story ist eine herrlich unterhaltsame Parodie auf alle Aufsteigergeschichten, die je in der SF verfasst wurden (und das waren eine Menge). Der märchenhafte Ton, der Ich-Erzähler, der einem gewissen „Nathaniel“ dieses tolle Garn verklickert, und natürlich die Grundthemen von Rache, Bürokratie und „alles durch nichts“ machen richtig Spaß. Fürst Potemkin, der für Zarin Katharina die Große, künstliche Dörfer errichten ließ, kann einpacken. Fazit: Mundus vult decipi – die Welt will getäuscht sein.

Außerdem ist die kleine Geschichte eine Satire auf den Umgang einer Zentralregierung mit ihrer entlegenen Kolonie: Das Hauptquartier ist glücklich, der Kolonie auf jede erdenkliche Weise zu helfen, solange die zu blühen und zu gedeihen scheint. Entwicklungshilfe ist prinzipiell eine feine Sache für die ihre Manager, mit Lob und Lorbeer verbunden. Aber sie lässt sich auch bestens ausnutzen.

10) Die Flut

Im Jahr nach dem Massaker ist es dem Ingenieur Jubal mithilfe eines Staudamms am oberen Kongo gelungen, seinem Dorf Mokulgu die Zivilisation zu bringen: Strom, Hochhäuser, Autos und Klimaanlagen. Stolz führt er seine Werke seinem Halbbruder, einem Dichter, vor. Der Dichter, unser Chronist, hätte lieber ein paar mehr Bäume gedeihen gesehen als dieses Nachäffen des mittlerweile abgeschlachteten weißen Mannes. Aber Jubal ist nicht nur in Mokulgu, sondern auch in seiner Familie ein mächtiger Mann.

Als die Dammaufsicht am Viktoriasee in Uganda meldet, der Pegel des Sees sei drastisch um 10 cm gesunken, macht sich niemand Sorgen, aber der Ingenieur Jubal will der Sache dennoch auf den Grund gehen. Schließlich ist auch der riesige Tanganjika-See in unmittelbarer Nachbarschaft der Quellflüsse des Kongo. Nur Stunden vergehen, dann bricht aus einem der Grenzhügel eine wahre Flut hervor, die Bäume, Dörfer und Boote mit sich reißt.

Die Verwerfungen des Rift Valley, die alle Seen und Quellflüsse nur schwach getrennt haben, brechen auf einmal alle zusammen. Eine gewaltige Flut ergießt sich aus dem Viktoria- und Tanganjika-See in den Kongo und begräbt das westliche Afrika unter sich. Der Norden sieht indes seine Nilquellen versiegen und wird bald unter Dürre leiden. Halb Afrika steht vor dem Untergang…

Mein Eindruck

Der Autor malte sich bereits 1957 die Folgen aus, die die Entlassung der britischen Kolonien in Afrika mit sich bringen könnte. Das Massaker an den weißen Kolonialherren ist vorauszusehen, die Zerstörung der Natur im westlichen Stil vielleicht auch. Dass sich die Natur aber auf derart brutale Weise an den Zerstörungsversuchen der Schwarzen rächen würde, ist ein Menetekel, das sich kein Weißer erlauben dürfte, ohne überheblich zu wirken. Nein, diese Geschichte wird von einem Schwarzen erzählt. Und das Massaker an den Weißen wird in einer der letzten Zeilen als psychischer Tiefschlag erwähnt.

11) Pogsmith

Daisy und Dusty Miller besuchen den Galaktischen Zoo als millionster und millionerster Besucher. Das muss gefeiert werden. Der Zoodirektor selbst gewährt ihnen eine Führung durch die Gehege. Er selbst stammt von Puss II und verfügt über drei sehr hellhörige Ohren. Als sie schließlich eine Kuppel erreichen, wundert sich Daisy, dass dort bloß ein alter Eimer steht. „Das ist der Pogsmith“, erwidert der Zoodirektor. Aus dem Eimer wird eine Nase, der eine Hand entwächst. „Pogsmith ist perfekt in Mimikry.“

Nachdem er die Geschichte von Pogsmiths „Entdeckung“ zum Besten gegeben hat, führt er die Millers zurück zu ihrem Flieger. Doch Dusty stiehlt sich davon und begibt sich in das Gehege von Pogsmith, um herauszufinden, ob das mit der Mimikry wirklich stimmt. Die große Nase verwandelt sich in den Zoodirektor, schlägt Dusty nieder und entkommt aus dem Käfig. Die Suche verläuft ergebnislos.

Der Zoodirektor ist froh, die beiden Erdlinge loszuwerden, als er sie an Bord ihres Schwebers verabschiedet. Auf einmal taucht ein zweiter Zoodirektor auf…

Mein Eindruck

Wieder hat der Autor seinen wilden Spaß an vertauschten und doppelten Identitäten. Er treibt das Prinzip der Mimikry auf die Spitze. Pogsmith ist nämlich der Name des menschlichen Piloten, mit dem ein Erkundungsschiff ein Drei-Sonnen-System anflog. Dessen Xenologe war der jetzige Zoodirektor. Er wurde Zeuge jenes Unglücks, bei dem der echte Pogsmith gegen sein Alien-Double ausgetauscht und aus der Luftschleuse gestoßen wurde. Doch welcher Zoodirektor befindet sich nun an Bord des Miller-Schwebers? Selber lesen!

12) Draußen (Outside, 1955)

Sechs Personen leben in dem Haus, doch nicht alle sind menschlich. Die Erde befindet sich in einem Kalten Krieg mit den Nititern, Gestaltwandlern, die menschliche Gestalt annehmen können. Das weiß Harley, einer der sechs, zwar, aber sein Geist ist sediert und nur ein klein wenig paranoid. Bislang hat er sich in die Hausgemeinschaft eingepasst, doch heute Nacht legt er sich auf die Lauer.

Tatsächlich: Es ist Jagger, der das Haus verlässt und ins unbekannte Draußen geht. Draußen funkeln die Sterne, ein Anblick, der Harley in Schrecken versetzt. Als er einen der anderen wecken will, verwandelt der sich vor seinen Augen in einen Nititer. Also muss Harley selbst draußen nachsehen. Im nächstgelegenen Haus stößt er auf vier bewaffnete Männer, die vor Bildschirmen hocken. Sie haben ihn offenbar erwartet. Was sie ihm erzählen, versetzt sein tiefstes Inneres in Unruhe, und er beginnt sich zu verwandeln…

Mein Eindruck

Eine klassische Kalter-Krieg-Story voller Paranoia, die auch Philip K. Dick oder Jack Finney („Die Körperfresser kommen“) hätten schreiben können. Der Verfolgungswahn gilt den „Anderen“, doch in Wahrheit sind wir es, die andersartig sind, ohne es zu ahnen. Die Geschichte kritisiert auch die Verschlossenheit der Umgebung (lies: der Westen) gegenüber dem Rest der Welt, das als Draußen hier die Paranoia verursacht, und der virtuellen Realität im HAUS, die nichts mit der Wahrheit zu tun hat.

13) Tele-Vision

Rick Sheridan fliegt an Weihnachten mit seinem Helikopter nach Hause zurück, zu seiner süßen Frau Neata und seiner Tochter Goya. Sie sitzen vor den zwei großen Bildschirmen, auf denen Seifenopern gezeigt werden. Seit die Konsumindustrie das Fernsehen gekauft hat, gibt es fast nur noch Seifenopern – oder Spielshows oder Pornos. Es gibt nur sechs Kanäle für Zuschauer der Grünen Konsum-Klasse. Rick träumt davon, in die Weiße Konsum-Klasse aufzusteigen und weitere zwei Bildschirme zu kaufen. Das wäre traumhaft.

Kaum haben Rick und Neata ihre Tochter zu Bett gebracht, klopft es an der Tür. Ein geschniegelter Mann in einem schwarzen Cape stolziert herein: „Black Jack Gabriel!“ nennt er sich. Neata ist hingerissen. Er sei ein entsprungener Häftling, erzählt er, der letzte Premierminister der von der Konsumindustrie abgesetzten Regierung. Wie romantisch! Er bittet lediglich um ein wenig Proviant, um sich nach Spanien oder Indien durchschlagen zu können. Während Rick den Proviant holt, übergibt der Besucher Neata ein kleines Objekt. Danach verabschiedet er sich schwungvoll. Neata beginnt von ihm zu träumen und begutachtet das Objekt.

Vor Frustration schaltet Rick in den Kanal für die Weiße Klasse. Zu seiner Verblüffung tritt Black Jack Gabriel in einer Spielshow auf. Um seinen Rückstand aufzuholen, musste er ein Pfand aus einem Grüne-Klasse-haushalt besorgen und dem Showleiter vor die Füße legen: lachhaft billiges Zeug. Die Show ist von einer Hirnwäsche-Firma gesponsert. Das kleine Objekt, das er Neata gegeben hat, ist ein Anti-Entstörer, der die Hirnwäsche-Wellen aufhebt…

Mein Eindruck

Wie schon in „Für alle Zeit“ kritisiert Aldiss auch mit dieser Story die Volksverdummung durch Konsum-TV und TV-Konsum. Ein kurzes Umschalten auf den Luxus-Kanal offenbart den Zuschauern, wie sehr sie verarscht worden sind. Aber es gibt auch Abhilfe. Immer wieder wird eine Untergrund-Bewegung des Konsum-Widerstands erwähnt. Sie zerstöre Bildschirme und Leitungen.

Wer hätte gedacht, dass „Black Jack Gabriel“ alias Gervaise McByron vor aller Augen – die Monitore haben eingebaute Kameras – Neata ein technisches Hilfsmittel des Widerstands übergeben würde? Darin liegt der eigentliche Witz der Story: Die Macher des Konsum-TV sind Opfer ihrer eigenen Sehweise geworden, die sie für die Wahrheit blind gemacht hat – und das lässt sich weidlich ausnutzen.

14) Pantomime (Dump Show, 1959)

Der Schallkrieg herrscht seit über das Land seit sieben Jahren. Die alte Mrs. Snowden und ihre dreijährige Enkelin Pauline sind beide längst taub. Früher war Mrs. Snowden mal eine Dozentin für Englische Literatur, aber nach Kriegsausbruch wurden alle Fakultäten außer den praktischen Wissenschaften geschlossen. Die Männer sind natürlich längst alle im Krieg. Jüngst wurde Island zurückerobert. Die ganze Sache mit der Vibromotion (VM) fing damit an, dass man das Pflanzenwachstum anregen wollte. Bald stellte sich heraus, dass Schall auch ganze Städte in Staub verwandeln kann.

Heute Morgen steht Mrs. Snowden wegen eines Geräusches früh auf und geht mit Pauline vor die Tür. Alle Häuser, die jüngst ringsum gebaut wurden, sind verschwunden. In der Ferne wanken Riesen – sind es Angreifer? Ja, der Schalldetektor über der Haustür zeigt an, dass ein Angriff im Gange sei. Mrs. Snowden beginnt in die Höhe zu wachsen – die Riesen sind Opfer! Kaum ist sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen, als Pauline ebenfalls zu wachsen beginnt. Sie rennt los, in einen neuen Morgen, wie ein Komet…

Mein Eindruck

Ich glaube, es war Kate Bush, die mal einen Song über den Schallkrieg aufgenommen hat. Die Idee an sich ist also nicht neu, und sicherlich hat irgendeine Armee damit schon experimentiert. Neu ist das Element des menschlichen Körperwachstums, das die Opfer zu Riesen macht, die in einer zu Staub verwandelten Wüste wanken lässt. Nur die Kleinen haben noch eine Zukunft vor sich.

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Birgit Reß-Bohusch ist bemerkenswert gut gelungen und sehr lesbar.

Nur auf einer einzigen Seite stieß ich auf erwähnenswerte Druckfehler, dafür aber auf zwei.

S. 124: „Dies ist…die Geschichte eines Mannes, der das Kunststück fertigbrachte, sich [durch] völlige Nutzlosigkeit unentbehrlich zu machen.“ Meines Erachtens fehlt das Wort „durch“, damit der Satz einen Sinn ergibt.

S. 124: „Zu seinen Pech…“ Es sollte „zu seinem Pech“ heißen.

Unterm Strich

In der Tat steckt in vielen dieser Erzählungen viel ironischer Witz, doch auch der Biss ist nicht zu verkennen. Der Autor nimmt viele Genre-Motive und Klischees, wie etwa die der Space Opera, auf die Schippe, indem er eine unerwartete Wendung als Pointe herbeiführt – in der Dimension der Zeit wie in der des Raums.

Wer dieser Nathaniel des Titels ist, erschließt sich nur aus dem ersten Satz der ersten Geschichte des dritten Teils, die den Titel „Alles durch nichts“ trägt. Nathaniel ist der angeredete Hörer oder Leser, an den sich der Erzähler richtet. In diesem Teil bringt der Autor Themen wie den Schallkrieg unter, der nicht einer gewissen Tragik entbehrt, aber auch „Pogsmith“, das die Darstellung von Alien satirisch wendet: Diese Aliens sind Meister der Mimikry und ihren menschlichen Gegenstücken zum Verwechseln ähnlich – wie soll man noch den „Feind“ bekämpfen? Paranoia findet der Autor zum Schießen.

Diese erste Erzählsammlung, die Aldiss veröffentlichen konnte, bieten dem Einsteiger ins SF-Genre eine optimale und sehr unterhaltsame Gelegenheit, sich mit den Themen der SF in den fünfziger Jahren zu befassen. Hier werden etliche Klischees der amerikanischen SF der 1930er und 1940er Jahre abgeschnitten. Einige der Stories wurden in die Sammlung „Der unmögliche Stern“ des Suhrkamp-Verlags übernommen.

Taschenbuch: 188 Seiten
Info: Space, Time and Nathaniel, 1957;
Aus dem Englischen von Birgit Reß-Bohusch
www.heyne.de

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