Brian W. Aldiss – Tod im Staub

Ein Hauch von Graham Greene: die Endlösung der Bevölkerungsfrage

Als Kapitän Nolan mit seinem Frachter im 22. Jahrhundert über den Atlantik schippert, fischt sein Maat einen Toten auf, der über die Wellen geht. Damit handelt sich die Besatzung eine Menge Ärger ein. Denn die mit 20 Milliarden Menschen überbevölkerte Welt ist voller Gifte, und die alten Supermächte sind längst auf den Stand von Entwicklungsländer herabgesunken. Währenddessen haben sich die afrikanischen Nationen zu Großmächten aufgeschwungen, die eifersüchtig über ihre Besitzstände wachen. Durch den Toten wird Nolan mitten in diesen Konflikt hineingezogen …

_Der Autor_

Brian W. Aldiss (* 1925) ist nach James Graham Ballard und vor Michael Moorcock der wichtigste und experimentierfreudigste britische SF-Schriftsteller. Während Ballard nicht so thematisch und stilistisch vielseitig ist, hat er auch nicht Aldiss‘ ironischen Humor.

Aldiss wurde bei uns am bekanntesten mit seiner „Helliconia“-Trilogie, die einen Standard in Sachen Weltenbau in der modernen SF setzte. Das elegische Standardthema von Aldiss ist die Fruchtbarkeit des Lebens und die Sterilität des Todes. Für „Hothouse“ („Am Vorabend der Ewigkeit“) bekam Aldiss den HUGO Award. Er hat auch Theaterstücke, Erotik, Lyrik und vieles mehr geschrieben.

_Handlung_

Im 22. Jahrhundert schippert Kapitän Knowle Noland mit seinem vollautomatisierten Frachter „Trieste Star“ gerade auf die südwestafrikanische Skelettküste zu, um dort Sand zu laden, als der Tote auftaucht. Dieser Tote hält sich nicht an die Regeln: Er liegt nicht brav in einem stillen Grab, sondern schwebt über die Wellen des Atlantiks.

Als Nolans erster Maat den Toten an Bord holt, zeigt sich, dass dieser einen Antigrav-Anzug umgeschnallt trägt, die sein Gewicht auf etwa zehn Kilo reduzierte. Dr. Thunderpeck weiß Bescheid: So etwas können sich nur sehr reiche und herzkranke Leute leisten, und der feine Anzug des Toten spricht dafür. Wahrscheinlich machte er eine Erholungskur an der Küste, in einer Luxusferienanlage. Von dort wehte ihn vielleicht der Wind aufs Meer hinaus, wo er verhungerte. Und jetzt haben sie den Salat, denkt Noland.

Genau. Als sei der Tote ein Geist seiner schuldbeladenen Vergangenheit, balgt sich Noland mit ihm – und entdeckt die Briefe. Es sind Liebesbriefe von einer gewissen Justine an einen gewissen „Peter“. Sie muss einen Geheimauftrag im Umkreis des afrikanischen Präsidenten El Mahasset haben und der Adressat, den sie „Peter“ nennt, ein hohes Tier aus Großbritannien sein. Der letzte Brief datiert erst zwei Tage zuvor. Justines Worte verzaubern den seit 19 Monaten pausenlos auf See schippernden Kapitän. So entgeht ihm eine verhängnisvolle Entwicklung an Bord.

Der Autopilot ist ausgefallen. Noch während er mit dem Maat die unheilbringende Leiche – der Maat hat bereits rote Flecken im Gesicht – über Bord wirft, erkennt der Kapitän, dass das Land der klippenstarrenden Küste bereits in unmittelbarer Nähe ist. Jede Kursänderung kommt zu spät, wird ihm klar. Vollgas gebend lacht Noland auf: „Jetzt erst recht, Justine!“ Und rammt seinen 80.000-Tonnen-Kahn mit Karacho in die Felsen der Skelettküste, die ihren Namen vollauf verdient. Unzählige Wracks liegen hier. Und schon ist die „Trieste Star“ eines von ihnen.

|Rückblende|

In seinem Bericht blickt Noland zurück auf die Ereignisse, die ihn hierhergebracht haben. Wegen seines speziellen geistigen Zustands, der ihn unter Stress in Halluzinationen mit Schreikrämpfen verfallen lässt, war er vor zwölf Jahren aufs Land verschickt worden. Dort befinden sich nur scharf bewachte Strafkolonien in der mechanisierten Landwirtschaft. Als er per Zufall auf die vogelfreien „Wanderer“ stieß, verriet er deren Anführer und wurde von seinem Boss, dem Farmer, dafür mit dem Posten auf der „Trieste Star“ belohnt. Seit jenem Tag vor zwölf Jahren fühlt sich Noland an der Ermordung der „Wanderer“ schuldig.

|Odyssee|

Der Atomreaktor der „Trieste Star“ gerät just in dem Moment außer Kontrolle, als eine Militärpatrouille von Neu-Angola an Bord gehen will, um die leckere Prise in Besitz zu nehmen. Die Atomexplosion verschont lediglich das Leben von Noland, doch keinen sonst (ein Irrtum, wie sich herausstellt). Auf der Suche nach Nahrung wendet sich der Schiffbrüchige nach Süden und wird von einer anderen Patrouille gefangen genommen.

In dem Freistaat Walvis Bay geht etwas vor sich: Überall wird gebaut und dekoriert. Hier lernt Noland endlich seine Traumfrau kennen, die Justine aus den Briefen. Er kann nicht anders, als ihr seine Liebe anzubieten. Voll Verachtung schiebt sie diesen ahnungslosen „Plebejer“ beiseite. Aufgrund der Briefe, die man ihm abnimmt, verdächtigt sie Noland natürlich, etwas mit dem Tod jenes Mannes zu tun haben, der mit seinem Antigravgerät auf das Meer hinausgetrieben worden – er war ein Spion. Ergo muss auch Noland ein Spion sein, oder? Vergeblich beteuert er seine Unschuld, was ihn nur umso erbärmlicher wirken lässt.

Seine Häscher wollen ihn zu Justines Verbündetem bringen, der natürlich ebenfalls in den unheilvollen Briefen erwähnt wird: Es ist der Adressat Peter Mercator. Zu seinem Entsetzen stellt sich Mercator als sein früherer Boss heraus. Welche Rolle Justine und Peter an diesem schicksalhaften Vorabend spielen wollen, soll Nolan nur zu bald herausfinden. Denn sie haben ihm eine zentrale Rolle dabei zugedacht …

_Mein Eindruck_

Dieser SF-Klassiker war einer der Ersten, der sich ernsthaft und konsequent mit dem schon Anfang der sechziger Jahre absehbaren Problem der Überbevölkerung auseinandersetzte. Ein halbes Jahrzehnt später beschäftigte sich John Brunner in „Schafe blicken auf“ mit den daraus entstehenden Schwierigkeiten, die die Menschheit zu bewältigen hat. In dieser Thematik sind die britischen Autoren, zu denen auch J. G. Ballard zu zählen ist, den meisten ihrer amerikanischen Kollegen um Jahre voraus.

Aldiss schildert ein 22. Jahrhundert, in dem sich nicht weniger als 24 Milliarden menschliche Wesen in Städten drängen, die inzwischen auf Plattformen über der völlig ausgebeuteten und automatisierten Landwirtschaft gebaut werden. Die Macht der Nationen hat sich inzwischen umgekehrt: Der Westen und Asien schauen neidisch auf die vergleichsweise noch fruchtbaren Ebenen Afrikas. Deshalb spielt jenes Afrika, in dem Noland strandet, eine so entscheidende Rolle.

Und er landet hier am Vorabend eines Tages, der über die Zukunft Afrikas und somit der Erde entscheidet: Der afrikanische Präsident El Mahasset soll in Walvis Bay, einer winzigen Exklave, praktisch einen neuen Staat gründen. Gelingt ihm dies, so wäre dies eine Demonstration für den Frieden in Afrika. Scheitert er, so wird er Krieg mit Algerien und Neu-Angola führen, die nur darauf warten, ihn zu ersetzen.

Fatalerweise steht mit dieser Entscheidung auch das Problem der Überbevölkerung auf der Kippe: Die Maßnahme der Enthaltsamkeit, der sich die Abstinezler-Sekte hingibt, fruchtet nichts. Nun sinnt die Sekte auf eine weitaus radikalere Maßnahme, um die zunehmende Überbevölkerung nicht nur zu stoppen, sondern sogar zu verringern: Krieg ist das patentierte und erprobte Mittel zur Dezimierung von Menschenmassen. Und Krieg wird es geben, sobald El Mahasset in aller Öffentlichkeit ermordet wird.

Dies haben Justine und Peter Mercator im Sinn, als Noland auftaucht. Da Mercator todkrank ist, soll Noland für ihn einspringen. Und was soll er bitteschön davon haben, fragt er hartnäckig. Das ist eben die knifflige Frage, die er in intensiven Dialogen mit Mercator und Justine erörtert. Was gewinnt er, was gewinnt die Welt, wenn er El Mahasset tötet? Die Frage sei doch vielmehr, ob es mindestens einen Gewinner geben wird, erwidert Justine: die Wanderer, die Noland selbst so schnöde verraten hat. Und mit ihnen hätte die Erde eine Überlebenschance. Wird Noland schießen?

_Die Übersetzung_

Die Übersetzung, die der Lichtenberg-Verlag 1970 unter der Leitung von Günther Schelwokat anfertigen ließ, zeichnet sich durch hohes sprachliches Niveau und das Fehlen jeglicher Druckfehler aus. Das erlaubt ein höchst erfreuliches Leseerlebnis. Erst 1973 und erneut 1983 veröffentlichte Heyne diese Übersetzungsfassung.

Lediglich zwei Wörter fielen mir auf. Auf S. 37 ist von einer „Sprue“-Krankheit die Rede. Der Ausdruck war mir nicht geläufig. Das englische Wort bezeichnet eine fiebrige Erkrankung. Auf Seite 53 wird das Wort „Garage“ wieder mal im alten Sinn „Autowerkstatt“ verwendet.

_Unterm Strich_

Die Imitation des offensichtlichen Vorbilds Graham Greene, bekannt für Romane wie „Der stille Amerikaner“ und „Der Honorarkonsul“, rechtfertigt noch nicht, dass dieser Roman einen Status als Klassiker erreicht hat. Nein, es reicht nicht, einen Engländer in eine Agentensituation à la James Bond zu schicken, auch wenn die Action noch so packend ist. Es ist daher die zweite Komponente, die den Ausschlag gibt: die Figur des Knowle Noland selbst.

Er ist nicht nur das hilflose Produkt der Zustände auf einer übervölkerten, ausgepowerten Erde. Vielmehr ist er obendrein ein höchst unzuverlässiger Chronist. Er leidet an einer seltenen Geisteskrankheit, die ihm Visionen und Halluzinationen vorgaukelt, die mal poetisch, mal horrormäßig anmuten. Und einer dieser Trancezustände verzerrt seinen Geisteszustand derart, dass er eine lange „Fugue“ von Visionen erlebt. Wir können zwar annehmen, er sei zu Tode gestürzt, und er selbst nimmt das ebenfalls an, doch ist das objektiv nicht der Fall – der Leser wird genarrt.

In dieser Fugue findet ein fundamentaler Wandel in Nolands gequälter Seele statt. Die Begegnung mit dem Tod, mit Toten, mit weisen Männern voll ironischer Sprüche – all dies ermöglicht erst, dass Noland verändert zu Mercator und Justine zurückkehren kann – um mit ihnen zu kollaborieren. So eine seelische Transformation sucht man in konventionellen SF-Abenteuern vergeblich. Dieser Inner Space hebt das Buch, ebenso wie die Problematik, weit über den Durchschnitt hinaus.

Entgegen meiner Erwartung – ich war abgestoßen vom scheußlichen Titelbild – erlebte ich also einen spannenden Roman, der politisch relevant ist, eine kritische Vision der Zukunft aufweist und zudem so gut erzählt ist, dass einem die Figur des Knowle Noland unweigerlich in Erinnerung bleibt. Hinzukommt die hohe Qualität der Übersetzung. Sammler greifen am besten zur weißen Ausgabe aus der Heyne SF Bibliothek, die 1983 erschien.

Taschenbuch: 144 Seiten
Originaltitel: Earthworks (1965)
Aus dem Englischen von Evelyn Linke
ISBN-13: 978-3453309050
www.heyne.de