Dan Simmons – Terror

Der Suche nach einer Nordwestpassage, die eine Seefahrt zwischen Europa und Asien entlang der Nordkante des nordamerikanischen Kontinents ermöglicht, hat Sir John Franklin sein Leben geweiht. Er sieht sich als kühnen Entdecker und Eroberer im Dienst des britischen Königreiches, nachdem er bereits mehrfach die polaren Regionen dieses Planeten erkundet hat. Franklin ist ein typisches Produkt seiner Epoche und seines Standes – ein Mann, der fest davon überzeugt ist, einer ‚besseren‘ Klasse Mensch anzugehören, deren Willen sich die Natur zu beugen hat.

Doch die Arktis ist ein unwirtlicher Ort, an dem kein Platz für solchen Dünkel ist. 1845 begibt sich Franklin als Kommandant der Schiffe „Erebus“ und „Terror“ auf eine schlecht vorbereitete und von Pannen begleitete Expedition in den hohen Norden. Die Ratschläge erfahrener Reisender schlägt er in den Wind und bringt die 129-köpfige Besatzung beider Schiffe in Lebensgefahr, als er sie wider besseres Wissen ins Ewige Eis lenkt, das sie einschließt und auch im Sommer 1846 nicht mehr freigibt.

An Rettung ist auf Jahre nicht zu denken, aber solange die Brennstoff- und Nahrungsvorräte reichen, bleibt die Stimmung an Bord ausgeglichen. Dann jedoch taucht aus dem Eis der Tuunbaq, ein riesiges Monster, auf. Es ist der unwirtlichen Umwelt bestens angepasst, scheinbar unverwundbar und bricht mordend immer wieder aus Nacht und Nebel. Die „Erebus“ und „Terror“ verwandeln sich in belagerte Festungen, aber als die Schiffe unter der Gewalt des Eises zerbrechen, müssen sie aufgegeben werden. Ein Wettlauf gegen Kälte und Hunger beginnt, denn die Männer müssen mildere Regionen erreichen. Während sie unmenschliche Strapazen auf sich nehmen, folgt ihnen die Kreatur und pickt sich ihre Opfer nach Belieben aus den Reihen der Erschöpften und Verzweifelten. Es gibt kein Entrinnen, und bald markiert eine lange Reihe durch Hunger gezeichneter oder zerrissener Leichen den Weg der Flüchtenden in den rettenden, unendlich weit entfernten Süden …

Die Geschichte der Franklin-Expedition gehört zu den großen, immer wieder gern aufgerollten Tragödien der Geschichte. 129 Männer brachen 1845 unter gewaltigem Medienrummel auf – und verschwanden scheinbar spurlos. Weil Sir John Franklin zu den A-Prominenten der englischen Gesellschaft gehörte und seine Gattin seine Rettung zu ihrem Lebenszweck erklärte, wurden über viele Jahre immer neue Suchexpeditionen ausgeschickt. Sie fanden Spuren, die von Hunger, Mord und Kannibalismus kündeten, konnten das eigentliche Rätsel aber nicht lösen: Wieso starben ausnahmslos alle Teilnehmer der Franklin-Expedition?

Einen Historienroman mit Horror-Einsprengseln präsentiert der vielseitige Schriftsteller Dan Simmons seinen Lesern dieses Mal. Die Verknüpfung der beiden Genres gelingt leidlich, obwohl sich bald die Frage stellt, ob der Auftritt des Monsters nicht primär jenem Teil des Publikums geschuldet ist, das Simmons als Verfasser phantastischer Geschichten kennt und schätzt. „Terror“ erzählt eine Geschichte, die objektiv betrachtet kein Monster benötigt. Tatsächlich geht der Tuunbaq beinahe unter in der schier endlosen Abfolge von Faktoren, die Franklins Expedition zum Scheitern bringen. Im Grunde ist sie schon misslungen, bevor sie wirklich begonnen hat. Zwar bieten die Schiffe „Erebus“ und „Terror“ nach zeitgenössischen Standards den bestmöglichen Schutz vor der Gewalt des nordpolaren Eismeers, doch man rüstet sie mit viel zu schwachen Dampfmaschinen aus, spart an der notwendigen Kohle und beauftragt einen betrügerischen Fabrikanten mit der Herstellung von Konserven, die entweder verderben oder tödliche Lebensmittelvergiftungen hervorrufen.

John Franklin ist mit seinen mehr als 60 Jahren viel zu alt für die Strapazen einer solchen Reise. Er klammert sich an die Vorschriften ’seiner‘ Marine, ist unflexibel, beratungsresistent und trifft in der Regel die falschen Entscheidungen. Seine Untergebenen sind freilich ebenso fehl am Platze wie er. Wo die einheimischen Inuit oder Eskimos sogar im Polarwinter warm bleiben und satt werden, leiden die Männer der „Erebus“ und „Terror“ unter Erfrierungen, Hunger und Angst. Sie begreifen zu spät, dass sie sich auf die Arktis einlassen müssen, um zu überleben.

In den anderthalb Jahrhunderten, die seit der Franklin-Expedition verstrichen, konnten viele Fragen gelöst werden. Dennoch bleiben Erkenntnislücken, die große Interpretationsspielräume bieten. Dan Simmons hat die bekannten Fakten gesichtet und in den Lücken seine Fantasie spielen lassen. Lassen wir das Monster an dieser Stelle außen vor, gelingt ihm die grandiose Rekonstruktion einer vor allem an sich selbst scheiternden Mission. So wie hier beschrieben, könnte es in der Tat gewesen sein, könnten die wackeren Polarfahrer Nagel um Nagel in ihre eigenen Särge getrieben haben. Die von Simmons beschriebenen Fehler und Versäumnisse sind von anderen Expeditionen belegt. Das eigentliche Drama besteht für den Leser aus dem hilflosen Verfolgen von Ereignissen, die aus heutiger Sicht schierer Wahnsinn sind. Simmons stellt dar, wie sich Fehler zu Fehler addiert, bis das Verhängnis unaufhaltsam seinen Lauf nimmt.

Grundsätzlich bedarf es wie gesagt keines Monsters, um das Grauen plastisch wirken zu lassen: „‚Aber das ganze Leben hier ist doch wie ein einziges großes Ungeheuer‘, sagte Edward Couch schließlich. ‚Und von Anfang an versucht es uns zu verschlingen.'“ (S. 828). Simmons setzt den Tuunbaq vor allem allegorisch ein. „Terror“ heißt eines der Schiffe, mit denen die Expedition in ihren Untergang fährt – ein Name, der von einer Arroganz kündet, die sich gegen die allzu stolzen Entdecker wendet. „Terror“ nennen die Männer auch die Kreatur, die sie erbarmungslos in Stücke reißt. Simmons hat sie nach einem klassischen Polarmonster gestaltet – dem „Ding aus einer anderen Welt“, das John W. Campbell jr., 1938 als in der Arktis gestrandeten Außerirdischen unsterblich machte und dessen Kultstatus durch die gelungenen Verfilmungen von 1951 und 1982 noch unterstrichen wurde. Auch der Tuunbaq ist ein E. T., wobei Simmons ihm freilich eine eigenständige Herkunftsgeschichte entwickelt, die tief in der urzeitlichen Legendenwelt der Inuit wurzelt.

Simmons Terror ist aber nicht nur die Verkörperung der ansonsten schwer fassbaren Schrecken des Eises und der Kälte, die unpersönlich denjenigen töten, der sich ihnen nicht anzupassen vermag. Wie üblich benötigt der Mensch keine Hilfe, um sich selbst das Leben zur Hölle zu machen. Disziplin und Kameradschaft sind menschliche Eigenschaften, die sich unter allzu großem Druck in Nichts auflösen. Wahnsinn, brutaler Egoismus und Mord lauern dichter unter der Oberfläche, als sich der ‚zivilisierte‘ Zeitgenosse albträumen lassen würde.

Ein Roman von knapp 1000 Seiten ist ein Wagnis, denn Quantität ist nicht zwangsläufig identisch mit Qualität. Dank des unerhörten Detailreichtums, mit dem Simmons die Franklin-Expedition aufleben (und untergehen) lässt, wird indes kein Leser diesen Roman bis zum gleichzeitig bitteren und unerwarteten Ende aus der Hand legen. Ausgiebig hat Simmons recherchiert und erzählt seine Geschichte unter sorgfältiger Berücksichtigung der historischen Fakten. Die Arktis weiß er mitreißend sowohl als Ort des Grauens als auch als lebenswürdige Heimat darzustellen. (An dieser Stelle muss die Übersetzung lobend erwähnt werden, die vor einigen Herausforderungen stand, die lesenswert gemeistert wurden.) Das große Rätsel der Franklin-Expedition findet schließlich eine Auflösung, die rational wie fiktional überzeugt.

Simmons lässt seine Geschichte nicht aus der Sicht eines allwissenden Erzählers abrollen. Die Ereignisse werden uns durch diverse Besatzungsmitglieder und Offiziere an Bord der „Erebus“ und „Terror“ berichtet, wobei Überlappungen vorkommen. Auf diese Weise wird die stringente Darstellung aufgebrochen, was die Isolation und Uneinigkeit der Reisenden unterstreicht, die als Eroberer und Entdecker – in dieser Reihenfolge! – kommen und von der Arktis gedemütigt, gebrochen und schließlich getötet werden.

Das Scheitern der Franklin-Expedition lässt sich wie schon angesprochen nicht durch den Tuunbaq, das mysteriöse Wesen aus der Eiswüste, erklären. Auch ohne dessen Attacken hätte sie ein grausames Ende genommen. Die Arktis ist kein Ort für die Männer, die sie 1845 bereisen. Vor allem Sir John Franklin, der Befehlshaber, begreift nie, dass Anpassung der einzige Schlüssel zum Überleben im Ewigen Eis ist. Dennoch ist er keineswegs der Bösewicht unserer Geschichte – im Gegenteil: Franklin ist in den Augen seiner Zeitgenossen ein – oft allzu – weichherziger Mensch, der Gehorsam und Disziplin fordert, aber nie über die Leichen seiner Mannschaften gehen würde, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Die mangelnde Flexibilität wird Franklins Verhängnis, das er, ohne es zu wollen, über seine Expedition bringt. Er begann zu lernen, doch bevor er sein Wissen anwenden konnte, kam das Ungeheuer über ihn.

Francis Crozier ist ein erfahrener Seefahrer, der seinen Job von der Pike auf gelernt hat und durch Erfahrung gereift ist. Freilich ist er auch ein verbitterter, trunksüchtiger Mann, der nicht verwinden kann, dass ihm sein niederer gesellschaftlicher Status die Karriere verwehrt, die er verdient. Crozier ist deutlich tüchtiger als Franklin, der seinen Rat in den Wind schlägt und seinen Kapitän immer wieder vor den Kopf stößt, ohne dies zu bemerken. Als Crozier nach Franklins Tod das Oberkommando erhält, ist es zu spät – für ihn und für seine Männer, denn sie sitzen in einer Falle, aus der sie auch Crozier nicht befreien kann. Nur er selbst findet den Ausweg, doch dies nur für den Preis der Aufgabe seiner Identität: Aus Francis Crozier wird Taliriktuq, der niemals in die Zivilisation zurückkehren kann und will.

Wohltuend unaufdringlich integriert Simmons die Inuit in seine Geschichte. Er verkneift sich die politisch korrekte, aber falsche Idealisierung dieser ‚ökologischen‘ Ureinwohner, die im Einklang mit der Natur leben und vom bösen, weißen Eroberer verdorben wurden. Die Inuit sind Menschen, die sich ihrer Umgebung hervorragend angepasst haben, aber Menschen mit allen positiven wie negativen Eigenschaften geblieben sind. So treten sie hier kitschfrei auf, was ihre Mythologie einschließt. Gerade die religiösen Vorstellungen der Inuit werden als Beispiele für ‚Weisheit‘ und ‚Reinheit‘ gern instrumentalisiert. Simmons schildert die Inuit-Mythen als Spiegel ihrer Lebensweise – nicht mehr, nicht weniger. Er fragt nicht nach ihrer Wahrheit, sondern setzt sie behutsam für die Geschichte ein, die er zu erzählen gedenkt.

Als sich der Vorhang nach 1000 Seiten schließt, ist das Kapitel Franklin-Expedition aus arktischer Sicht abgeschlossen. Die Eiswelt hat die Eindringlinge bezwungen und getilgt. Sie sind und waren nie wichtig in dieser Welt, die ihren eigenen Rhythmus hat. Das hat zumindest Francis Crozier endlich begriffen, und das ist auch die Lehre, mit der Simmons seine Leser aus diesem in jeder Hinsicht phantastischen Roman entlässt.

Dan Simmons wurde 1948 in Peoria, Illinois, geboren. Er studierte Englisch und wurde 1971 Lehrer; diesen Beruf übte er 18 Jahre aus. In diesem Rahmen leitete er eine Schreibschule; noch heute ist er gern gesehener Gastdozent auf einschlägigen Workshops für Jugendliche und Erwachsene.

Als Schriftsteller ist Simmons seit 1982 tätig. Fünf Jahre später wurde er vom Amateur zum Profi – und zum zuverlässigen Lieferanten unterhaltsamer Pageturner. Dass er nicht längst in dieselbe Bestseller-Kategorie aufgestiegen ist wie Dan Brown oder Stephen King, liegt sicherlich auch daran, dass er auf zu vielen Hochzeiten tanzt: Simmons ist einfach zu vielseitig, lässt sich in keine Schublade stecken, versucht sich immer wieder in neuen Genres, gewinnt dem Bekannten ungewöhnliche Seiten ab. Ein flinkfedriger Schriftsteller wie Simmons taucht unter zu vielen Masken auf und kann sich deshalb nicht als Markenzeichen etablieren.

In Deutschland hat dies die stetig wachsende Zahl wissender Fans indes nicht davon abgehalten, den Meister in seinen vielen Verkleidungen zu finden. Immerhin ist Simmons auch hierzulande so erfolgreich, dass die meisten seiner Werke verlegt werden.

Über Leben und Werk von Dan Simmons informiert die schön gestaltete ‚offizielle‘ Website www.dansimmons.com.

Gebundene Ausgabe: 992 Seiten
www.heyne.de