Dan Simmons – Im Auge des Winters (Elm Haven 2)

Ungewöhnlicher, spannender Geister-Thriller

„Im Auge des Winters“ ist die Fortsetzung des preisgekrönten Horror-Romans „Sommer der Nacht“. Dreißig Jahre nach dem mysteriösen Mord, der seine Jugend überschattet hat, kehrt Dale Stewart, Professor an der Universität von Montana, gealtert in die kleine Provinzstadt Elm Haven in Illinois zurück. Vieles hat sich verändert – doch eines ist gleich geblieben: Das Böse ist immer noch dort.

Diesmal ist die Landschaft winterlich und unsicher. Nicht alle Wesen, denen Dale Stewart, begegnet, sind menschlich, auch wenn ihm das nicht sofort auffällt. Und es ist auch nicht immer eindeutig klar, ob Dale Stewart selbst ein Mensch ist. Möglicherweise ist er nach seinem gescheiterten Selbstmordversuch beides: ein Mensch UND ein Geist. Das würde zumindest einiges erklären…

Der Autor

Dan Simmons ist bekannt geworden mit dem Horror-Roman „Sommer der Nacht“, der auch für „A Winter Haunting“ den Hintergrund bildet. Beide Romane sind in dem Buch „Elm Haven“ vereint. Noch erfolgreicher wurde er allerdings mit Science Fiction-Romanen: „Hyperion“ und Hyperions Sturz“ sowie „Endymion“ und „Endymion – Die Auferstehung“ fanden ein großes Publikum. Diese Tradition setzte er im Herbst 2003 mit seinem Roman „Ilium“ fort, in dem griechische Götter eine wichtige Rolle spielen. (Die Fortsetzung trägt den Titel „Olympos“.)

Außerdem ist Dan Simmons ein Verfasser exzellenter Kriminalthriller (z.B. „Darwin’s Blade/Schlangenhaupt“) und Kurzgeschichten (z.B. „Styx“ bei Heyne oder „Lovedeath“ bei Festa). Mit „Eiskalt erwischt“ hat er eine Krimireihe um den „gefallenen“ Privatdetektiv Joe Kurtz gestartet, die mit „Bitterkalt“ und „Kalt wie Stahl“ fortgesetzt wurde.

Dan Simmons‘ erster Roman „Göttin des Todes“ (Carrion Comfort) wurde mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet (siehe dazu meinen Bericht). Weitere Horror-Romane und zahlreiche –Stories folgten. Für seine Science Fiction-Romane um die Welten Hyperion und Endymion wurden mit Preisen überhäuft.

In den letzten Jahren hat sich Simmons dem Mainstream angenähert. „Fiesta in Havanna“ erzählt von Hemingways Spionageabenteuern auf Kuba, und „Darwin’s Blade“ ist ein waschechter Kriminalthriller. Sein Bestseller „Terror“ wurde zu einer erfolgreichen TV-Serie verarbeitet.

Simmons lebt in Colorado in dem Ort Windwalker in einem Haus namens „Shrike Hill“. „Shrike“ heißt das Monster in den „Hyperion“-Romanen…

Handlung

Der vormals geachtete Uniprofessor und Romancier Dale Stewart, 52, zieht weg von Montana, zurück an den Ort, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte, in den kleinen Ort Elm Haven, mitten in Illinois. Er hat seine Familie ebenso verlassen wie seine Karriere als Dozent für englische Literatur, um hier einen „richtigen“ Roman zu schreiben. Er will die Geschehnisse wieder lebendig werden lassen, die zum Tod seines Freundes Duane McBride führten, der elfjährig angeblich von einem Mähdrescher getötet wurde.

The Jolly Corner

Und so mietet Dale das alte Farmanwesen, das Duanes Tante gehört hatte: „The Jolly Corner“, benannt nach einer Geistergeschichte von Henry James. Während der Keller und das Erdgeschoss gemütlich eingerichtet sind, trifft dies für das Obergeschoss keineswegs zu: Es ist versiegelt, zwar nur notdürftig mit Plastikplanen zugedeckt und vernagelt, aber immerhin. Hier oben spukt es eindeutig: Geräusche, Lichter, ein leerer Raum, der von einem einzigen Gefühl erfüllt ist: Geilheit. Als sich Dale mal hierher wagt, ist der Aufenthalt lediglich peinlich.

Doch Dale kommt zunächst weder zum Schreiben noch zum Geisterjagen, denn die Außenwelt verlangt seine ganze Aufmerksamkeit. Fünf Skinheads haben es auf ihn abgesehen, weil er mal im Internet ein paarmal gegen die antisemitischen Kreise in Montana gewettert hat. Zweimal jagen sie ihn, und immer entkommt er ihnen, wenn auch etwas lädiert.

Alte Bekannte

Außerdem gibt es ein paar Gestalten, die direkt Dales Vergangenheit entstiegen zu sein scheinen. Sheriff C.J. Congden beispielsweise hatte dem jugendlichen Dale mal die Kanone an den Kopf gesetzt und gedroht, ihn in den Fluss werfen zu lassen. Seitdem ist Congden das Schreckgespenst, vor dem Dale jedes Mal Schiss bekommt.

Und da ist Michelle Staffney, die Dale in der Schule angehimmelt hatte und der Traum seiner schlaflosen Nächte war. Nun ist sie mit ihrer lesbischen Freundin Diane aus heiterem Himmel wieder in Elm Haven aufgetaucht, um das Haus ihrer Eltern wieder instandzusetzen, so dass es sich verkaufen lässt. Sagt sie jedenfalls. Aber die 51-jährige TV-Schauspielerin mit dem Silikonbusen hat es eindeutig auf Dale abgesehen.

Wolfshunde

Schon wenige Tage nach seinem Einzug im Oktober beobachtet Dale einen kleinen schwarzen Hund auf seinem Grundstück. Keiner kann ihm sagen, wem der gehört. Doch merkwürdig: Der Hund scheint im Laufe der Zeit zu wachsen und Artgenossen zu bekommen. Nach vier Wochen sind aus dem kleinen schwarzen Hund fünf ausgewachsene Wolfshunde geworden. Dale bekommt es mit der Angst zu tun, denn das sind garantiert keine gewöhnlichen Hunde.

Der Unsichtbare

Auf seinem Laptop-Computer will er seinen Roman über das Jahr 1960 schreiben, das Jahr, in dem Duane McBride starb. Doch jemand oder etwas schreibt auch auf seinem PC! Jedoch nicht unter Windows, sondern auf der Zeile der DOS-Eingabeaufforderung. Und die Sprachen, die der Unsichtbare benutzt, stammen nicht aus Elm Haven, Illinois: Alt-Englisch, Alt-Ägyptisch, sogar Latein und Hethitisch. Aber Dale wäre kein Englischprofessor, wenn ihm nicht sofort die Zitate aus dem altenglischen Heldengedicht „Beowulf“, der altisländischen „Edda“ und dem ägyptischen „Buch der Toten“ auffallen würden. Hätte Duane diese Sprachen kennen können, fragt sich Dale? Durchaus, denn Duane war gelehrt und selbst Schriftsteller, allerdings ein ganz anderer als Dale.

Der Geist, mit dem Dale zu kommunizieren lernt, bezieht sich auf die schwarzen Hunde draußen, die er bei ihren ägyptischen Namen nennt, und auf Anubis, den hundeköpfigen Wächter der Totenwelt und Geleiter der toten Seelen, der die Höllenhunde befehligt. Und der Geist warnt Dale vor dem, was er werden wird: ein „warg“. Anders als bei Tolkien ist damit ein Mensch gemeint, der – wie ein einsamer Wolf – von der Gemeinschaft (wegen eines Verbrechens) ausgestoßen wurde und nun als Vogelfreier von jedermann ungestraft getötet werden darf. Wenn Dale an die Neo-Nazis in seiner Heimatstadt denkt, dann kommt ihm dieser Gedanke nicht ganz unwahrscheinlich vor.

Das Verbrechen

Doch welches Verbrechen hat Dale begangen, dass ihm solches Schicksal droht? Er hat (vergeblich) versucht, sich mit einem Gewehrschuss umzubringen. Das war zwei Monate, nachdem sich seine Geliebte, die Halbindianerin Clare Two-Hearts, von ihm getrennt hatte. (Hat er sie aus Eifersucht umgebracht? Wir erfahren es nicht, aber er hat sie und ihren Lover verfolgt.) Und seine Frau hatte sich von ihm scheiden lassen, er verlor seine beiden geliebten Töchter Mab und Katie.

Schon damals, im Sommer 1999, vor diesem verhängnisvollen Winter, war Clare mit Dale in die Blackfeet-Reservation zu einem alten Begräbnisort gefahren, um ihn in der Gemeinschaft der dortigen Geister zu lieben. Wenig später hatte sie ihm offenbart, dass sie ihn als Liebhaber ausgewählt hatte, weil er aussah, als sei er von einem Geist besessen. Und dieser Geist wachse: Etwas sei kurz davor, geboren zu werden.

Silvesterparty

Als Michelle Staffney, Sheriff Congden und die fünf Skinheads auftauchen, um mit Dale zum Jahresende, dem Vorabend des neuen Jahrtausends, mit ihm abzurechnen, wird es eng für Professor Dale Stewart. Wird er ein zweites Mal versuchen, sich umzubringen oder wird er diesmal kämpfen?

Mein Eindruck

Der Leser könnte befürchten, dass ein Großteil dieses Romans aus nostalgisch-melancholischen Reminiszenzen bestünde. Aber auch wenn Dale sich an das Jahr 1960 erinnert, um mit Duane McBride und allem anderen klarzukommen – diese Geschichte wurde bereits in „Sommer der Nacht“ verarbeitet und auf großartige Weise erzählt. Es handelt sich um den Roman, den Dale in „The Jolly Corner“ angefangen hat. Jemand anderes hat ihn fertiggestellt, jemand, der hier nicht verraten werden darf.

Daher kann sich der Autor diesmal in „A winter haunting“ – „haunting“ bedeutet sowohl Heimstatt als auch geisterhafte Heimsuchung – auf die Action konzentrieren. Und er macht das einfach so unterhaltsam, dass man an keiner Stelle mit dem Lesen aufhören möchte. Ständig ist was los, tauchen neue Figuren auf, zum Teil aus Dales Vergangenheit, teils aus der Gegenwart. Und es ist nicht sicher, ob die aus der Vergangenheit real sind oder Geister. Und wenn es Geister wären, so sähen sie doch verdammt real aus. Mindestens so real wie die großen schwarzen Höllenhunde…

In einer Schicht darunter kommuniziert Dale nicht nur mit dem Unsichtbaren via Computer, sondern erinnert sich auch an seine kürzlich zurückliegende Affäre mit Clare Two-Hearts, die sich ebenfalls mit Geistern auskennt. Nicht nur mit indianischen, sondern auch mit italienischen. Selbst im mondänen Paris kennt sie die gruseligsten Orte: die Katakomben, wo die Gebeine von 6 Millionen Menschen aufgestapelt liegen. Clare mit den zwei Herzen: Sie hat Dales Herz gebrochen.

Verwandlung

Die Konfrontation mit Vergangenheit und Gegenwart verändert Dale. Er wird zu einem „warg“. Das liegt nicht nur an seiner Schlaflosigkeit, seinen Depressionen, seiner Kommunikation mit einem Geist, der Altenglisch beherrscht. Es liegt auch daran, dass er selbst besessen ist und es nicht bemerkt. Der Geist, der uns von Dale bis in alle intimen Details berichtet (so etwa die Affäre mit Clare), geleitet Dale ins Reich der Toten. Schließlich ist Anubis der Gott, den er verehrt. Wird Dale ein Wolf, ein „Höllenhund“ werden? Wer oder was wird ihn retten? Und wird es ihn danach noch geben?

Geisterthriller

„A winter haunting“ ist einer der ungewöhnlichsten Geisterthriller, die ich je gelesen habe. Unmerklich verändert nämlich der Autor durch die Perspektive der zwei „Erzähler“ die Sichtweise des Lesers auf die Dinge, von denen er erfährt. Viele Dinge entpuppen sich als etwas ganz anderes als das, wie man sie zuvor wahrgenommen und interpretiert hat.

Dennoch ist die Sympathie des Lesers stets auf Seiten Dale Stewarts, der nach Hause gekommen ist – angeblich um zu schreiben und sich zu retten, aber in Wahrheit, um endlich zu sterben. Dale tut all die richtigen Dinge, wie es scheint, und doch läuft alles irgendwie schief. Ganz einfach deswegen, weil ihm die richtige, flexible Perspektive fehlt, um das, was ihm an Unglaublichem widerfährt, richtig zu deuten und seine Handlungs- und Denkweise entsprechend anzupassen.

Wir bangen um ihn, aber wir können ihn auch aus anderem Licht sehen, aus dem desjenigen, mit dem Dale per Computer kommuniziert (nicht per Internet oder Mobilfunk). Daher ist Dales Figur relativiert: ein schwacher Mann, der nach den gleichen Dingen strebt wie du und ich: Sex, Komfort, Reichtum, Macht. Am Schluss weiß er, dass all dies nicht wichtig ist, aber er weiß, wohin er zu gehen hat. Und das ist eine Menge mehr wert.

The Jolly Corner

Dan Simmons ist schon so lange im Horrorgeschäft, dass er sie alle kennt, die großen Autoren. Natürlich auch Stephen King und Dean Koontz. Aber er weiß auch, woher diese Erfolgsautoren kommen, auf welcher Tradition sie aufbauen. Einer der wichtigsten Autoren ist der Amerikaner Henry James, der sich mit Herbert George Wells, dem Autor von „Die Zeitmaschine“, ein paar Jahre lang einen berühmten literarischen Streit lieferte.

James schrieb die klassische Gruselgeschichte „The Turn of the Screw/Die Drehung der Schraube“, aber auch „The Jolly Corner“, die Geschichte über ein Haus, in dem ein Amerikaner, der sein Leben in Europa verbracht hat, sein alternatives Ich trifft, das sich so entwickelt hätte, wenn er im Lande geblieben wäre. Für James – wie für Simmons – ist diese Story sehr symbolisch. Dale Stewart kehrt aus der Fremde (Montana) zurück, und in seinem Heimatort (Illinois) begegnet er Gestalten aus seiner Kindheit. Nicht nur lebendige Menschen, auch Geister. Und Michelle Staffney liefert ihm eine überraschend andersartige Interpretation der James-Geschichte…

Anubis

Der Totengott Anubis, die schwarzen Höllenhunde, schließlich Beowulfs Ungeheuer Grendel, das um Heorot, die große Halle des Königs, schleicht. Alle diese literarischen Figuren zeugen von großer Belesenheit, erschlagen aber die Dale-Story nicht, sondern sind ihr integraler Bestandteil und wichtig für ihre Weiterentwicklung. Sie bilden das mystische Unterfutter, die psychologisch relevante zweite Schicht für Dales Existenz in Elm Haven.

Anubis‘ Funktion als Seelengeleiter entspricht Stephen Kings Sperlingen in dessen Roman „Stark – the Dark Half“, in dem es ja auch ums Schreiben geht, allerdings auch um einen gewalttätigen Widersacher, ein alternatives Ego. Dale Stewart hingegen hat keine Perspektive mehr, geschweige denn eine Alternative: Er ist gescheitert, und er weiß es, zumindest ganz tief drinnen.

Unterm Strich

Was hätte wohl ein deutscher Autor aus diesem tiefgründigen Geister-Stoff gemacht? Ich wage gar nicht, mir das auszumalen. Wahrscheinlich wäre ein zäher melancholischer Mist dabei herausgekommen. Nur Michael Marrak hat sich in „Morphogenesis“ an der Unterwelt der alten Ägypter versucht.

Dan Simmons hingegen weiß die Geschichte von Dale Stewart actiongeladen, sexy, temporeich, spannend und verdammt unheimlich zu erzählen. Die Relativität, die durch zwei Erzähler erzeugt wird (der zweite wird hier nicht verraten, aber man kann es sich denken), führt zu zahlreichen ironischen Effekten. Die Ironie macht uns aber Dale Stewart umso sympathischer, und wir sorgen uns um sein Schicksal, so unwahrscheinlich es auch sein mag.

Dies ist allerdings kein Roman, der dem Leser alles haarklein erklärt. Man muss schon gehörig mitdenken, möglicherweise zweimal lesen. Und die Sexszene mit Michelle Staffney ist sicherlich nicht unbedingt für Leser unter 16 geeignet.

Taschenbuch: 400 Seiten
Originaltitel: A winter haunting, 2001
Aus dem Englischen von Friedrich Mader.
ISBN-13: 978-3453521421

www.heyne.de

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