James Bradley – Wrack

Ein alter Mann erzählt von einem verschollenen Entdeckerschiff, will aber vor allem Zeugnis über sein Leben und einige düstere Geschehnisse ablegen … – Vorgeblich ist dies eine Abenteuergeschichte mit Krimi-Elementen, was der Verfasser geschickt als Köder für seine Leser einsetzt, denn primär geht es hier tatsächlich um eine Lebensgeschichte, die jedoch sowohl spannend als auch so geschrieben ist.

Das geschieht:

Die Gegenwart: Der australische Historiker David Norfolk jagt seinem Lebenstraum nach. Er möchte das Wrack jenes portugiesischen Schiffes finden, das unbestätigten Berichten zufolge ein Sturm im Jahre 1519 auf den Sand der Küste von New South Wales geworfen hat. Die aktuelle Grabungskampagne ist vermutlich seine letzte Chance, denn das Forschungsinstitut, für das er arbeitet, ist es leid, ihm eine ergebnislose Expedition nach der anderen zu finanzieren. Davids Aufregung ist daher verständlich, als er mit dem Detektor eine unbestimmte, aber große Form unter dem Sand aufspürt. Als er und seine Helfer zu graben beginnen, machen sie allerdings eine makabre Entdeckung: die Leiche eines schon vor Jahrzehnten erschossenen Mannes.

Die Polizei erscheint – und mit ihr Claire Sen, Davids Ex-Geliebte, die ihn einst wegen eines Anderen verlassen hat. Die Beziehung ist in die Brüche gegangen, und nun ist sie zurückgekehrt, um wieder als in ihrem Beruf als Pathologin zu arbeiten. Rasch bemerken sowohl sie als auch David, dass noch Gefühle füreinander existieren, was Anne, Davids derzeitige Gefährtin, mit verständlichem Missmut zur Kenntnis nimmt.

Als die Ausgräber endlich weiterarbeiten können, stoßen sie nur auf verschrottete Landmaschinen. Nicht weit entfernt haust in den Dünen der alte Kurt Seligman, der vorgibt, von dem Portugiesen-Schiff zu wissen. Der Einsiedler ist jedoch todkrank. Die Angst, dass mit Seligman auch sein Wissen stirbt, lässt David den Entschluss fassen, sich um den alten Mann zu kümmern und versuchen, diesen über das Schiff auszufragen.

Seligman hat tatsächlich lange Jahre nach dem Wrack in den Dünen geforscht und Erstaunliches herausgefunden. Noch wichtiger ist es ihm indes, ein Publikum für seine Lebensgeschichte gefunden zu haben, die er sich von der Seele reden will, bevor es zu spät ist. David und Claire hören zu, denn geschickt flicht der alte Mann immer wieder kryptische Andeutungen auf das Schiff in seine Erzählungen ein, die bald einer Beichte gleichen und in ein düsterer Eifersuchtsdrama münden. Das Schiff erweist sich schließlich als real, doch der vom Leben enttäuschte Seligman hat Vorsorge dafür getroffen, dass es auf ewig ein Mythos bleiben wird …

Faszinierende Episoden der Weltgeschichte

Im Jahre 1770 landete der Seefahrer und Entdecker James Cook an der Nordküste Australiens und nahm den ‚neuen‘ Kontinent für seine britannische Majestät in Besitz. Schon den Zeitgenossen ist klar, dass die Briten keineswegs die Ersten in Australien sind. Von den Aborigines, den Ureinwohnern, die bereits vor Jahrzehntausenden über das Meer gekommen sein müssen, einmal abgesehen, ist so mancher Vertreter der seefahrenden Nationen Europas hier gelandet – in der Regel nicht freiwillig, sondern als Folge nautischen Ungeschicks oder eines Schiffbruchs nach schwerem Tropensturm. Kein Wunder, dass man von solchen Unglücklichen in der Heimat meist nichts mehr gehört hat.

Wer nun als erster Europäer die zweifelhafte Ehre hatte, den Fuß auf australischen Boden zu setzen, ist in der Historikerzunft umstritten. Vermutlich war es ein Portugiese, irgendwann im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts; so lassen es die dürftigen Quellen vermuten. James Bradley baut seinen Debütromans auf dieser Prämisse auf und fährt gut damit. Historische Rätsel als Treibriemen einer abenteuerlichen Geschichte funktionieren immer. Es muss nur gewährleistet sein, dass derjenige, der sie beschwört, sein Handwerk versteht.

Die Vergangenheit hat durchaus ihre Gesetze, die sich zwar biegen, aber nicht mutwillig brechen lassen ohne dass es selbst der Laie merkt und verstimmt ist. Eine gute Mischung aus Wahrheit – es muss gar nicht viel sein – und Spekulation erzeugt jene Spannung, die selbst den altgedienten Leser noch immer in erwartungsvolle Stimmung versetzt.

Kurzer Werk mit breiter Inhaltspalette

Bradley versteht sein Handwerk – und mehr. Viele Debütromane leiden an ihrer thematischen Überfrachtung; der frischgebackene Autor will das Rad neu erfinden und hängt noch ein Abenteuer und noch einen Konflikt an den roten Faden, bis dieser schließlich zerreißt. Auch Bradley legt die Latte hoch: „Wrack“ ist nicht nur ein Abenteuer, sondern ein Rückblick auf fünf Jahrhunderte Entdeckungsreisen und Geografie, eine Liebesgeschichte, ein Thriller sowie ein Historienroman – und das auf drei Zeitebenen! Aber der Autor behält nicht nur alle Elemente im Griff, sondern auch in wunderbarer Balance.

Bradleys Figuren sind keine Papiertiger, sondern sorgfältig gezeichnete Individuen – ganz ‚normale‘ Menschen, die sich unerwartet mit dem Außergewöhnlichen konfrontiert sehen und durchaus ihre Schwierigkeiten damit haben. Die noch unverbrauchte Kulisse der australischen Nordküste komplettiert den rundum positiven Eindruck, den dieses zudem angenehm lesbare, weil elegant übersetzte Buch hinterlässt.

Autor

James Bradley wurde am 15. Mai 1967 in Adelaide, Südaustralien, geboren. Bevor er Schriftsteller wurde, absolvierte er eine vernünftige Ausbildung als Jurist. Bradley debütierte 1997 mit dem Roman Wrack, doch er schrieb schon zuvor für Zeitungen und Zeitschriften, verfasste Kritiken und Gedichte. Seine Werke überspringen Genre- und Zeitgrenzen; seit 2017 gehört auch eine Jugendbuch-Trilogie dazu.

Für seine Bücher wurde Bradley mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Mit seiner Familie lebt und arbeitet der Autor in Sydney.

Achtung: Dieser James Bradley ist nicht identisch mit jenem gleichnamigen Schriftsteller (geb. 1954), der u. a. den Historienroman „Flags of Our Fathers“ (dt. „Die Flaggen unserer Väters“) verfasst hat.

Paperback: 319 Seiten
Originaltitel: Wrack (Sidney : Random House, Australia 1997)
Übersetzung: Werner Richter
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