Wolfgang Jeschke, Brian W. Aldiss (Hg.) – Titan-22

Am Ende aller Tage: untote Soldaten und goldene Männer

In der vorliegenden Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 22 von „Titan“ sind nicht Beiträge zur „Science Fiction Hall of Fame“ gesammelt, sondern klassische SF-Erzählungen – Thema sind „Evil Earths“, also kaputte Erden. Dies ist der erste von zwei TITAN-Bänden zu diesem Thema (Teile 1 bis 3 des Originals). Die Originalerzählungen entstammen Magazinen, die heute nur noch schwer zugänglich sind, und zwar aus drei Jahrzehnten.

Die Kriterien der deutschen Bände waren nicht Novität um jeden Preis, sondern vielmehr Qualität und bibliophile Rarität, denn TITAN sollte in der Heyne-Reihe „Science Fiction Classics“ erscheinen. Folglich konnten Erzählungen enthalten sein, die schon einmal in Deutschland woanders erschienen waren, aber zumeist nicht mehr greifbar waren. TITAN sollte nach dem Willen des deutschen Herausgebers Wolfgang Jeschke ausschließlich Erzählungen in ungekürzter Fassung und sorgfältiger Neuübersetzung enthalten. Mithin war TITAN von vornherein etwas für Sammler und Kenner, aber auch für alle, die Spaß an einer gut erzählten phantastischen Geschichte haben.

Die Herausgeber

1) Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die Einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T . für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

2) Brian W. Aldiss (* 1925) ist nach James Graham Ballard und vor Michael Moorcock der wichtigste und experimentierfreudigste britische SF-Schriftsteller. Während Ballard nicht so thematisch und stilistisch vielseitig ist, hat er auch nicht Aldiss’ ironischen Humor.

Aldiss wurde bei uns am bekanntesten mit seiner „Helliconia“-Trilogie, die einen Standard in Sachen Weltenbau in der modernen SF setzte. Das elegische Standardthema von Aldiss ist die Fruchtbarkeit des Lebens und die Sterilität des Todes. Für „Hothouse“ bekam Aldiss den HUGO-Award. Er hat auch Theaterstücke, Erotik, Lyrik und vieles mehr geschrieben.

Die Erzählungen

1) Chad Oliver & Charles Beaumont: „Das letzte Wort“ (1955)

Claude, der Physiker, ist DER LETZTE MENSCH AUF ERDEN. Soweit, so schlecht, aber er hat eine ZEITMASCHINE gebaut, um in die Vergangenheit zu reisen. Er landet in der Zeit vor zwei Millionen Jahren. Als er sich umschaut, fällt sein Blick auf ein Geschöpf, das viel Ähnlichkeit mit einer Frau hat. Sie sagt: „Brrkl.“ Sie muss ein künstlicher ANDROID sein, also gibt er ihr etwas von seinem Öl ab. Das muntert sie ganz schön auf. Flugs führt sie ihn zu ihrem Lager.

Melancholische Musik empfängt ihn. Es sind gestrandete grüne Männchen vom Mars. Sie seien hier abgestürzt und könnten nicht weg, sagen sie. Er schaut nach ihrem RAUMSCHIFF und stellt die Ursache des Fehlers fest. Kaum hat er sie behoben, fliegen die MARSIANER ab. Als Dank darf er ihre Androidin behalten. Claude nennt sie Eva, was auch sonst, und sie schenkt ihm einen Sohn, den er, äh, „Sohn“ nennt. Er kann sich nicht zwischen „Kain“ und „Abel“ entscheiden.

Sohn ist ein telepathischer und telekinetisch begabter MUTANT. Claude behält ihn im Auge. Nach einiger Zeit packt ihn das Heimweh, und er fliegt mit Eva – als blindem Passagier – zurück in die Zukunft. Schon wieder hat er sich in der ZIELZEIT vertan: Die Maschine zeigt 3042 an. Alle Leute sehen gleich aus – und gleich apathisch, wenn sie auf ihren Mini-TV starren. Sogleich wird Claude wegen Wissbegierde verhaftet und in den Knast geworfen: Die MARSIANER haben die Erde gerettet, indem sie eine fürsorgliche Diktatur errichteten. Eva verspricht, ihn herauszupauken. Kann sie ihr Wort halten?

Mein Eindruck

Wie man an den großgeschriebenen Wörtern ablesen kann, handelt es sich hier um eine Enzyklopädie der Science-Fiction im komprimierten Miniformat. Die Handlung ergibt deshalb herzlich wenig Sinn und weist große Logiklücken auf. Das wundert sich der Fachmann, der Laie staunt. Aber dieser blühende Unsinn macht großen Spaß, ganz besonders dann, wenn man bemerkt, wie viele Träume der klassischen SF hier durch den Kakao gezogen werden.

2) John Scott Campbell: „Film des Todes“ (1948)

Schneider, dieser Unglücksrabe! Der Doktor der Nuklearphysik will den Regierungen beweisen, dass man eine Atomexplosion nicht bloß mit den geächteten und gehorteten Stoffen Plutonium, Uran und Thorium bewerkstelligen kann, sondern auch mit ganz gewöhnlichem Blei. Natürlich ist auch ein Quäntchen Blei-Isotop 204 vonnöten, doch es reicht, um aus einem Kilo Blei eine 15 Kilometer hohe Explosionswolke emporsteigen zu lassen und Chicago zu überfluten.

Weil Schneider in seinem Stolz auf sein „Baby“ der versammelten Presse auch sein Rezept verrät, bricht überall Panik aus, wann die erste Bleibombe abgeworfen werden würde. Doch soweit kommt es nicht, denn fast gleichzeitig ereignet sich eine zweite Katastrophe. Wie uns der ungenannte Chronist 30 Jahre später in seiner Ansprache mitteilt, hat ihm der Chemiker Dr. Fred Ordway erzählt, er habe eine monomolekulare Fettsäure gefunden, die Wasser vom Verdunsten abhalte – ideal für Trockengebiete wie Arizona usw.

Nun, die Iranische Sowjetrepublik bestellte von dieser Z-Säure 8000 Tonnen, doch der Tanker ging in einem Taifun unter. Die Wirkung war für Fred Ordway abzusehen, und als er sie unserem Chronisten schildert, packt auch diesen das kalte Grausen: Wenn auf den Ozeanen – und diese Menge Z-Säure reicht für zwei Erdozeane – keine Verdunstung mehr stattfindet, gibt es auch keinen Regen mehr, folglich keine Bewässerung trockener und normalerweise feuchter Gebiete und daher eine rasante Ausbreitung von Wüsten und das Erliegen der Nahrungsmittelproduktion.

Doch hätten Schneider und Ordway mal zwei und zwei zusammengezählt, dann wären sie gleich auf jene Lösung gekommen, die Schneider Jahre später, als die Dürre bereits die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hat, vorschlägt …

Mein Eindruck

Es geht hier also nicht ums Filmgeschäft, sondern vielmehr um Physik und Chemie anno 1949/50, gesehen aus dem Jahr 1948. Im Rückblick mutet uns die Story von den armen Irren, die später als Helden gefeiert werden, als geradezu prophetisch an: Kurt Vonnegut schrieb dazu seine Wissenschaftssatire „Katzenwiege“ über den Spezialstoff Ice-9, der alles Wasser der Welt gefrieren lässt. Und James Graham Ballard schrieb basierend auf der in der Story erwähnten Z-Säure seinen Katastrophenroman „The Drought / Die Dürre“ (1962) – mehr dazu in meinem entsprechenden Bericht.

In Campbells Story nimmt die ganze heikle Sache ein gutes Ende, weil man mit Schneiders Blei-204-Vorrichtung Tausende von gigantischen und billigen Verdunstungsanlagen errichten kann. Nach wenigen Monaten gibt es wieder ersten Regen. Und die Verdunstung der Z-Säure kann auch nicht ewig auf sich warten lassen. Positiver Nebeneffekt: Alle Menschen werden Brüder (und Schwestern) in der Not. Aus heutiger Sicht wirkt dieser Schluss zwar willkommen, aber sehr blauäugig. Wir rechnen mit dem Schlimmsten und hoffen das Beste.

3) Howard Fast: „Die Wunde“ (1969)

Max Gaffey und seine Firma Thunder Inc. haben eine ausgeklügelte Methode entwickelt, um Öl, das in Schiefer gebundne ist, mittels Atomexplosion freizusetzen und zu fördern. Ein Geologieprofessor beteiligt sich an den Plänen, auch wenn seine Frau Martha strikt gegen die Idee von Atombomben in Mutter Erde ist. Er meint, lieber eine Bombe in der Erde als auf einem anderen Land.

Schließlich genehmigt er eine Atomexplosion in einer tiefen Erdfalte in Arizona. Doch was dann aus der Tiefe sprudelt ist nicht schwarz wie Erdöl, sondern rot wie Blut. Und es schmeckt auch so. Und es hört nicht auf zu fließen. Martha ist stinksauer auf ihren Mann.

Mein Eindruck

Die Symbolik ist ziemlich deutlich, und sie ist es auch, die diese ansonsten völlig realistische Wirtschaftsstory zu einer SF-Erzählung macht: Was aus der Erde sprudelt, mag ja Öl sein, doch es ist dennoch ein Teil der global ausgeführten Ausbeutung von Mutter Erde. Allerdings muss man schon ein Öko-Bewusstsein haben, um die Erde überhaupt als einen Gegenstand mit eigenen Rechten betrachten zu können. Immerhin gab es dieses Bewusstsein schon 1969, als die Story veröffentlicht wurde.

Martha erzählt eine erschütternde Sage, in der das Herz einer Mutter eine Rolle spielt. Es wird ihr von ihrem eigenen Sohn herausgerissen, damit er es einer bösen Frau zum Geschenk machen kann, in die er sich verliebt hat – und die ihn verführt hat. Auch hier ist die Symbolik ziemlich deutlich: Wenn wir die böse Fee als Wirtschaft, Profitgier, Wissenschaft auffassen, wird die Rolle des verführten Jungen deutlich, der seine Mutter tötet. Unheimlich wird diese Geschichte dann, als das herausgerissene Herz zu sprechen beginnt …

4) Philip K. Dick: „Der goldene Mann“ (1954)

Der behäbige Vertreter aus Frisco, der Walnut Creek besucht, lässt sich den Weg zur Johnson Farm weisen. Dort entpuppt er sich als Agent der AWKA, jener Kontrollagentur, die seit 60 Jahren sogenannte Anwendungs, also Abweichende Wesen bzw. Mutanten, aufspürt und eliminiert. Der vor 60 Jahren zu Ende gegangene Atomkrieg hat jede Menge Anwendungs auf der ganzen Welt erzeugt, darunter Telepathen, Telekinetiker, sogar Gestaltwandler. Baines weiß nicht, was Johnson auf seiner Farm für einen Mutanten verbirgt, aber das Wesen muss, wie alle anderen, liquidiert werden, bevor es den Homo sapiens als dominante Spezies verdrängt. Aber vorher wird es gründlich studiert, versteht sich.

Baines lässt das Gelände von Zivilpolizisten hermetisch abriegeln. Der Protest von Johnson, gegen dessen Waffe Baines natürlich einen Schild besitzt, und dessen jugendlichen Kindern ist zwecklos. Ihr Bruder Cris ergibt sich den Häschern. Wie schön er ist! Mit einem goldenen Flaum bedeckt, von athletischer Gestalt, wirkt der 18-Jährige wie ein Gott, der zur Erde niedergestiegen ist. Aber woher wusste er, dass die AWKA hierherkommen würde?

Im Frisco-Hauptquartier der AWKA hat Wisdom das Sagen, und er sagt: „Das Wesen kommt in 48 Stunden in die Euthanasie, also ins Gas.“ Das Wesen rührt sich nicht in der hermetisch versiegelten Zelle, sitzt bloß da. „Es verfügt über Präkognition“, sagt Baines zu seiner Freundin, der A-Klassen-Direktorin Anita Ferris, eine Semiotikerin. Sie bestaunt und bewundert die Schönheit des Mannes. Dem goldenen Mann gelingt es jedes Mal, den abgefeuerten Energiestrahlen auszuweichen. Und als Wisdom per Zufallsgenerator feuern lässt, überlebt es auch diese Tortur, und Anita schreit vor Mitleid auf. „Feuer einstellen!“

Als die Wächter den goldenen Mann in die Gaskammer bringen sollen, entwischt es ihnen mit unheimlicher Schnelligkeit. Doch wo will er hin, wenn Wisdom alle Ausgänge verriegeln lässt. Aber in Wisdoms Burg gibt es eine einzige Schwachstelle menschlicher Art …

Mein Eindruck

Dick hatte schon zwei Jahre SF-Kurzgeschichten (und davor etliche Mainstream-Romane) geschrieben, bevor er diese Story 1954 in „If“ veröffentlichte, als er 26 war. Man merkt schon auf der ersten Seite, dass hier ein Routinier des Erzählens am Werke ist und weiß, was er tut. In geistiger, emotionaler, erfahrungsmäßiger und stilistischer Hinsicht steht die Geschichte haushoch über dem Rest der hier versammelten Erzählungen.

Doch was hat Dick hier auszusagen? Es ist nicht sonderlich erfreulich. Der Mutant ist erstens kein Mensch, sondern ein Tier. Zweitens verfügt er nicht nur über eine Gabe, also die der Präkognition, sondern noch über eine zweite: die der unwiderstehlichen Verführung von Menschenfrauen. Dies wird in einer eindringlich geschilderten Erotikszene mehr als deutlich.

Sollte es ihm also gelingen, zu entkommen und weitere Frauen zu schwängern, wäre die Spezies des Homo sapiens zum Untergang verurteilt. Auf einmal ist das Wesen von einem Gott zu einem Tier und wiederum zu einem Teufel geworden. Die Botschaft „Wenn wir es nicht töten, wird es unter Untergang sein – und der unserer Frauen“ ist allerdings stockkonservativ, wie einige Kritiker anmerkten. Das ist wirklich schade. Zum Glück hat Dick nur ganz wenige solche konservativen Storys veröffentlicht (und den Rest hoffentlich in die Ablage P gestopft).

5) Allan K. Lang: „Gastexperte“ (1951)

Die Erde ächzt unter der Überbevölkerung, denn sie muss fast doppelt so viele Menschen ertragen, wie sie ernähren kann. Der Gastexperte vom Mars hat bislang einige Probleme erfolgreich zu lösen geholfen, deshalb vertrauen ihm die Administratoren der Erde auch diesmal – mit zwei zu eins Stimmen. Also setzt er seine Lösung in die Tat um. Sie ist simpel genug: Punkt 12 Uhr mittags fallen an der amerikanischen Ostküste alle Frauen und Mädchen tot um …

Mein Eindruck

Der Herausgeber bezeichnet in seiner Vorrede zu diesem Buchteil diese Story als „Witz“. Da hat er sich wohl im Geschmack verirrt. Oder er war zu sehr von seinem eigenen Roman „Tod im Staub“ voreingenommen (siehe meinen Bericht), in dem die Bevölkerungsfrage ebenfalls einer radikalen Endlösung zugeführt wird. Über den „Gastexperten“ habe ich jedenfalls nicht lachen können. Aber man sollte sich ihn als Warnung dienen lassen, welcher Art von Experten man welche Lösung anvertraut.

6) Richard Stockham: „Das Tal“ (1954)

Michael und Mary sind die letzten Angehörigen der Sternenexpedition, die vor über zweitausend Jahren aufbrach, um eine zweite Erde zu suchen. Nachdem über tausend der Klone durch Unglücke im Weltraum gestorben sind, landen die Überlebenden nun auf einer ausgedörrten, wasserlosen Erde. Dort sind seit den Atomkriegen 5000 Jahre vergangen und man hat das Bevölkerungswachstum rigoros durch Geburtenverbote eingedämmt. Auch hier gibt es nur noch Klone.

Als Michael und Mary verkünden, dass sie nichts Geeignetes gefunden haben, nimmt man sie rasch beiseite, um weiteres Unheil zu vermeiden. Man will ja keine Panik heraufbeschwören. Doch die Mitglieder des Weltrats sind bestürzt über den Dokumentarfilm, in dem Michael und Mary ihre Funde belegen. Angesichts der zahlreichen gewaltsamen Tode der Ausgesandten sind die Zuschauer entsetzt; so etwas kennen sie schon lange nicht mehr. Danach ist klar, dass man die beiden Botschafter von den Sternen nicht auf die unvorbereitete Menschheit loslassen kann.

Da gewaltsame Tötung keine Option ist, ahnen Michael und Mary, was der Präsident der Welt beschließen wird: Einzelhaft. Doch die beiden Überlebenden haben nicht nur ein probates Gegenmittel, sondern finden auch draußen, im Exil, neue Hoffnung für die Erde.

Mein Eindruck

Mit seinen hölzernen Dialogen und klischeehaften Szenarien wirkt diese Erzählung nach Philip K. Dicks Beitrag wie eine Antiklimax. Wieder wurde ich an J.G. Ballards meisterhaften Roman „Die Dürre“ (1962) erinnert, als ich von der trockenen Erde und den Salzbergen an der Küste las.

Immerhin ist das letzte Drittel wieder von Hoffnung erfüllt, aber es ist die Hoffnung von Träumern – und sie geht von Mary aus, der Frau. Sie weist nicht umsonst Ähnlichkeit mit der Muttergottes auf – auch sie ist schwanger, und ihr Kind wird das Erste sein, das seit Jahrtausenden wieder auf dem Heimatplaneten des Menschen geboren werden wird. Sie ist also zugleich eine Art Eva. Klar, dass Michael sowohl Joseph als auch Adam verkörpert. So kann die ergrünende Erde wieder bevölkert werden – eine ziemlich christliche Vision.

7) William Tenn: „Drunten bei den Toten“ (1954)

Schon ein Vierteljahrhundert dauert der verlustreiche Krieg der Menschen gegen die insektenartigen Eoti. Draußen bei den Saturnringen oder sogar beim Jupiter verlieren zahlreiche Kämpfer ihr Leben. Sie müssen ersetzt werden, das ist klar, doch wie? Zunehmend wird der Frauen der Erde ein stärkerer Schwangerschafts- und Gebärzwang auferlegt. Die steigende Geburtenrate kann aber die hohen Verluste nicht ausgleichen. Deshalb ist Recycling das Gebot der Stunde.

Die Leichen bilden einen wertvollen Vorrat an kohlenstoffreichem Protoplasma, das in den Wiederaufbereitungsanlagen der Erde wieder zur Produktion von Ersatzsoldaten verwendet wird. Die ersten dieser „Zombies“ waren noch unselbständige, blaugesichtige Gestalten. Doch die Garnitur von „Klöpsen“, die man unserem Chronisten nun vorstellt, ist vom Original nicht mehr zu unterscheiden. Das Quartett, das er nun zu seiner neuen Frontkämpfer-Crew ausbilden soll, besteht aus bekannten und hochdekorierten Kriegshelden. Er freut sich auf den Kampf an ihrer Seite.

Es gibt nur einen Haken. SIE haben ein Problem mit IHM! Sie wollen wissen, wie er sie nennt, welche Vorurteile er hegt. Er beweist ihnen, dass sie ebenfalls Vorurteile hegen, und alle laufen auf den einen Unterschied hinaus: Sie mögen zwar als vollwertige Männer gelten, doch in einem wichtigen Punkt dürfen sie es nicht sein: Sie sind alle unfruchtbar. Er beweist ihnen, dass auch dieser Aspekt keine Rolle spielt – denn er ist es längst ebenfalls..

Mein Eindruck

Diese berühmt-berüchtigte Story wurde nur kurz nach dem Koreakrieg veröffentlicht, in den USA, aber sehr viel später in England, wie der Herausgeber berichtet. Und man kann sich auch leicht den Grund für die Zurückhaltung englischer Verlage denken: Erstens der Gebärzwang für Frauen und zweitens das Recycling toter Soldaten. Beide Vorstellungen sind nicht gerade pietätvoll. Das macht die Story umso provokanter.

Die Übertreibung bestimmter Aspekte der Realität oder Entwicklungen dient jedoch SF-Autoren in der Regel als Methode für eine Satire, und „Drunten bei den Toten“ ist wohl eine der grimmigsten Satiren, die man sich vorstellen kann. Aber Satiren dienen der Warnung. Der Autor sagt durch die Blume: Wenn ihr nicht aufpasst mit euren ewigen Kriegen (die Aliens treten im Text bezeichnenderweise nie selbst auf), dann könnte es zu solchen menschenverachtenden Zuständen kommen.

Und im nächsten Krieg, den die USA führten, in Vietnam, hörten die jungen Leute auf diese Warnung und verweigerten in Scharen die Einberufung (wie man beispielsweise auf dem Woodstock-Festival vom August 1969 ganz genau hören kann, als die Folksängerin Joan Baez von ihrem Mann erzählt, der im Knast gerade einen Hungerstreik als Protest gegen die Einberufung und Einbuchtung führe).

8) R. A. Lafferty: „Bei den haarigen Erdenmenschen“ (1966)

Die Kinder langweilen sich und wollen spielen. Also suchen sie sich einen Planeten aus, auf dem sie sich austoben können. Die Wahl fällt auf Eretz, unsere Erde, und zwar weil hier die Gewalt so eine große Rolle spielt. Die Kinder legen sich Verkörperungen zu, etwa einen Kaiser hier, eine Göttin dort usw. und stürzen sich in die Spiele, die sie mit den Sterblichen spielen können. Allerdings stoßen sie dabei immer wieder auf Verkörperungen der anderen Kinder, sei es eine Kurtisane, ein Konquistador usw. Das bringt dann wirklich Abwechslung in die Schlachten, Feldzüge und Epidemien.

Schließlich aber, nach etwa 300 irdischen Jahren, stoßen sie irgendwo in Syrien auf einen alten Pilger. Der hat überhaupt keine Angst vor ihnen! Na, so was, im Gegenteil: Der holt mit seinem großen Wanderstab auf und verkloppt sie alle der Reihe nach. Während ihre zerbrochenen Knochen nachwachsen, liest er ihnen die Leviten. Wie sie mit den Sterblichen gespielt hätten, sei unmoralisch. Das Leben sei ruhig und stabil gewesen, bevor sie kamen, und was ist es jetzt: unsicher, sprunghaft, zerbrechlich.

Die Kinder rechtfertigen sich: Sie brachten den Sterblichen eine Unmenge von Erfindungen, nicht zuletzt den Buchdruck, und sie brachten Abwechslung in die öden Feldzüge und Schlachten. Der Alte verjagt sie trotzdem von Eretz, denn auf seine Frage, ob sie denn kein Mitleid mit den Menschlein hätten, lachen sie bloß: „Mitleid? Mit Menschen?“

Es geht aber das Gerücht um, dass eines der Kinder zurückgeblieben sei, oder zumindest jene Kreatur von Hobble, dem Gott Vulkan, der ein Ebenbild anfertigte, das sich nicht von ihm unterscheiden ließ. Wo es heute zu finden sei, darüber streiten sich die Fachleute …

Mein Eindruck

Als ich diese Geschichte jetzt zum ersten Mal las, fühlte ich mich praktisch in Stephen Kings Roman „Die Arena“ versetzt. Darin spielen außerirdische Kinder ein Xbox-Spiel mit dem kleinen Abschnitt „Erde“, der, unter einer unsichtbaren Kuppel eingefangen, zur Arena erklärt worden ist, in der sich die Kids austoben können.

Bei McLafferty besteht der Unterschied im Maßstab. Die ganze Erde ist die Arena, und die Kids haben göttliche Kräfte. Zudem bleiben sie nicht außen vor, sondern reinkarnieren in sterblicher Gestalt, um direkt am Geschehen teilnehmen zu können.

Der Leser fragt sich bestimmt, was das Ganze eigentlich soll. Selbst wenn die Story in üblicher Lafferty’scher Form witzig und augenzwinkernd daherkommt, so darf man sich doch fragen, was er uns damit eigentlich sagen will. Nun, sein Alter Ego ist offensichtlich der Alte, der die Kids Mores lehrt und sie fragt, ob sie kein Mitleid hatten.

Denkt man sich jedoch die Götter-Kids weg, so richtet sich seine Frage an uns Menschen: Hatten wir denn kein Mitleid mit unseren Mitmenschen und der Erde an sich? Offensichtlich nicht, denn wir benahmen und benehmen uns wie mutwillige Götterkinder, die mit der Erde ihre Spiele spielen: „Krieg“, „Religion“, „Wissenschaft“, „Unmoral“ und wie die Games alle heißen. Wenn es aber keine Moral gibt, die uns gebietet, den Nächsten und die Erde zu verschonen, dann, so die Botschaft, müssten wir sie erst noch schaffen: eine neue Ethik.

9) Fritz Leiber: „Später als Sie glauben“ („Later Than You Think“, 1950)

In ferner Zukunft kommt ein Weltraumforscher in die Klause eines Archäologen. Enttäuscht von der immensen Leere des Weltraums will er herausfinden, ob der Archäologe wenigstens etwas Neues über die Vergangenheit der Erde herausgefunden hat. Der Altertumsforscher fragt zuerst nach den Motiven des Astronauten, doch sie scheinen lauter zu sein.

Also erzählt er, dass eine Tiefenbohrung auf einen gut gepanzerten Gebäudekomplex gestoßen ist, in dem sich nicht nur jede Menge Geräte fanden, sondern eine komplette Bibliothek. Man könnte eine Menge spekulieren, wer die Wesen waren, die diese Bibliothek hinterließen. Allerdings gibt es eine Schwierigkeit: Sie sprachen verschiedene Sprachen. Nur ein Ausdruck taucht in allen ihren Dokumenten immer wieder auf. Der Weltraumforscher, enttäuscht schon fast zur Tür hinaus, schaut zu, wie der Archäologe mit einem seiner Tentakeln das Wort auf eine Tafel schreibt: „RATTE“ …

Mein Eindruck

Wer das Wort „MENSCH“ erwartet hat, bekommt als Pointe der Story einen Tiefschlag versetzt. Denn nicht das Imperium des Homo sapiens wurde von den fernen Nachfahren entdeckt, sondern jenes des Nachfolgers des Menschen: rattus norvegicus.

Es ist tatsächlich später, als der Leser annimmt. Und verschiedene Phänomene am Rande der zentralen Szene deuten darauf hin. Ein Haustierchen ist ein Mittelding aus Schlange und Aal. Draußen vorm Fenster fliegen Dinge – Vögel oder Flugzeuge, ist nicht klar – verdächtig langsam durch die Luft. Hier scheint die Entropie, die im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik definiert ist, schon weit fortgeschritten zu sein. Das Energieniveau des Universums hat sich bereits stark seinem niedrigsten Niveau angenähert.

Deshalb ist es keineswegs Zufall, wenn der Archäologe dieses Entropieprinzip auf die Entwicklung und Abfolge von Kulturen und Zivilisationen überträgt. Das findet Astronaut zwar absurd, aber angesichts der Fakten ergibt es einen unheilvollen Sinn: Was, wenn auch unsere Zivilisation sich gemäß der zunehmenden Entropie ihrem Ende angenähert hat – und bereit ist für die Übernahme durch die nächste Spezies, der der Ratten?

Die Übersetzung

Unglaublicherweise gibt es auch in diesem TITAN-Band kaum einen Druckfehler zu finden. Einzige, auffällige Ausnahme ist die Story von William Tenn, in der allein sich vier Druckfehler entdecken lassen, wenn man genau hinschaut. Eine mögliche Ursache dafür könnte eine unbesehene Übernahme aus einer anderen Anthologie sein, mit Fehlern und allem.

Über die Qualität der Übersetzungen lässt sich schwer etwas sagen, wenn man das Original nicht zum Vergleich hat. Aber in stilistischer Hinsicht fiel mir die Dick-Story „Der goldene Mann“ positiv auf. Man kann praktisch nicht aufhören, sie zu lesen, denn sie ist viel zu spannend und zu intensiv, um sie weglegen zu können.

Unterm Strich

Dieser TITAN-Band ist in drei Teile gegliedert. Der Erste widmet sich dem möglichen Schicksal der Erde und der Frage, warum die Menschen sie verwüstet haben, etwa durch einen Molekülfilm auf den Ozeanen – oder auch durch Atomexplosionen im Erdinnern. Ist so etwas nicht schon längst verboten? Dieser Teil zeugt immerhin von erwachendem Ökobewusstsein.

Der zweite Teil, der ebenfalls drei Erzählungen enthält, geht der Frage nach, wie sich die Schädigungen, die der Mensch seinem Heimatplaneten angetan hat, vielleicht zum Positiven wenden lassen. Philip K. Dicks Antwort besteht in einem überlegenen Mutanten, die eines Marsianers in der Endlösung der Bevölkerungsfrage und schließlich wird neben bzw. nach der Ära des Klonens die Wiederbevölkerung der Erde ins Auge gefasst.

Der dritte Teil zeigt endlich den Auftritt von Aliens – wurde ja auch Zeit. In William Tenns Erzählung sind es die bösen Eoti, die unseren tapferen Erdensoldaten das Leben schwer machen. Leider treten die Insektenartigen, die an Heinleins Käfer in „Starship Troopers“ (das erst fünf Jahre später veröffentlicht wurde), nie persönlich auf. Das Thema derS tory ist nämlich ein ganz anderes: Es scheint so, als würden wiederverwendeten Toten nun die Aliens sein. Und das wissen sie auch ganz genau. Thema ist die Relativität der Fremdartigkeit.

In Laffertys witziger Story kommen die Kinder der Aliens zum Spielen in die Zeit der Renaissance und mischen Europa gar mächtig auf. Als ein alter Typ sie auf der Straße nach Damaskus vermöbeln, um ihnen die Leviten zu lesen, reden sie sich damit heraus, dass sie sich bloß die Zeit ihres Nachmittags vertreiben wollten. Was doch die Relativität von Menschen / Göttern, Geschichte / Theaterspiel sowie Zeit verdeutlicht.

In der richtig fiesen Kurzgeschichte von Altmeister Fritz Leiber sind die Altertumsforscher der Aliens in den Tiefen der Erde auf ein Imperium gestoßen; leider ist es nicht das des Menschen, sondern das der Ratten. In der Tat muss es im Universum schon sehr spät sein, wenn die Entropie schon derart zugeschlagen hat, dass selbst Flugzeuge langsam fliegen. Und was, wenn die Entropie auch für Zivilisationen gälte? Finstere Aussichten für die Erde.

Best-of

Für mich sind die zwei besten Beiträge dieses Bandes ganz klar die Erzählung „Der goldene Mann“ von Philip K. Dick sowie „Drunten bei den Toten“ von William Tenn. Beide weisen eine sorgfältige Ausarbeitung und eine diskussionswürdige Aussage auf. Dicks Geschichte ist jedoch weitaus unterhaltsamer. Leiber und Lafferty liefern zwei witzige Pointen zu diesem Band. Für die Lang-Story und die Druckfehler gibt es Punktabzug.

„Evil Earths“ wird fortgesetzt mit den Teilen 4 und 5, die mit exzellenten Autoren aufwarten, darunter Arthur C. Clarke und Henry Kuttner.

Taschenbuch: 207 Seiten
Originaltitel: Evil Earths (1975)
Aus dem US-Englischen von Heinz Nagel
ISBN-13: 978-3453310780
http://www.heyne.de