McDermid, Val – Tödliche Worte

_Die STIMME und die VIPER: Verbrechen im Doppelpack_

Auf einer blutgetränkten Matratze wird in grotesk verrenkter Haltung die Leiche einer Prostituierten gefunden. Die Szene erinnert bis ins Detail an eine Mordserie, die zwei Jahre zurückliegt und mit einem Schlag aufhörte, als Derek Tyler gefasst wurde. Aber Tyler kann das neue Opfer eigentlich nicht getötet haben. Er sitzt hinter Gittern im Hochsicherheitstrakt einer psychiatrischen Haftanstalt und spricht mit niemandem ein Wort. Doch seine jahrelange Erfahrung als Profiler sagt Tony Hill, dass es nur Tyler gewesen sein kann. Detective Chief Inspector Carol Jordan glaubt das nicht. Ihr Team startet eine gewagte Undercover-Action, um den Killer zu stellen. Und das wird Carol noch bereuen … (Verlagsinfo)

Fall Nr. 4 für das Ermittlerduo Tony Hill und Carol Jordan.

_Die Autorin_

Die 1955 geborene Val McDermid wuchs in Kirkcaldy, einem schottischen Bergbaugebiet nahe St. Andrews, auf und studierte dann Englisch in Oxford. Nach Jahren als Literaturdozentin und als Journalistin bei namhaften englischen Zeitungen lebt sie heute als freie Schriftstellerin in Manchester und an der Nordseeküste. Sie gilt als eine der interessantesten neuen britischen Autorinnen im Spannungsgenre – und ist außerdem Krimikritikerin. Ihre Bücher erscheinen weltweit in 20 Sprachen. Für „Das Lied der Sirenen“ erhielt sie 1995 den Gold Dagger Award der britischen Crime Writers‘ Association. (Verlagsinfo)

_Handlung_

DCI Carol Jordan ist wieder aus Berlin zurück, doch seitdem sie in Deutschland vergewaltigt worden ist, muss sie sich erst einmal wieder zurechtfinden. Auch in ihrer eigenen Polizeiorganisation, denn diese war es, die sie erst als Lockvogel benutzte und dann ins offene Messer laufen ließ. Als ihr ehemaliger Chef John Brandon von der Bradfielder Polizei sie in London besucht, ist sie daher erst nicht bereit, seinem Wunsch, sie möge zurückkehren, um eine Eliteeinheit zu leiten, nachzukommen. Doch die Aussicht, bei der Arbeit wieder auf andere Gedanken zu kommen und Tony Hill wiederzusehen, stimmt sie um.

Zehn Wochen später begrüßt sie ihr Team, das jede Menge ungelöste Fälle aufzuklären hat. Zwei Mordserien brennen Inspector Don Merrick, Sergeant Paula McIntyre und den anderen auf den Fingern. Da sind zum einen die verschwundenen Jungen Tim Golding und Guy Lefevre, von denen sich nur ein Foto auf dem PC eines Pädophilen findet; und da ist eine neue Mordserie an Prostituierten, bei der der Mörder genauso vorgeht, wie vor zwei Jahren der verurteilte und in der Psychiatrie sitzende Mörder Derek Tyler. Seine Opfer verbluten, weil sie mit einem Gegenstand schrecklich verletzt worden sind.

„Wahrscheinlich hat er sie dabei auch noch auf Video aufgenommen“, vermutet Tony Hill, der inzwischen eine Halbtagsstelle in der Bradfielder Psychiatrie angenommen hat. Carol zieht ihn zu ihren Fällen hinzu; im Gegenzug bietet er ihr ein Quartier in seinem Souterrain an, das sie nach Gusto ausbauen kann. So muss sie nicht mehr bei ihrem Bruder Michael Unterschlupf suchen. Und ja, es gibt eine Tür zwischen ihrem und Tonys Stockwerk, die man verschließen kann.

Monate lang kann Carol keine Resultate vorweisen, so dass die Medien Druck auf Chef Brandon ausüben und er seinerseits Carol nahelegt, die gute alte Lockvogelmethode wieder zu nutzen, also genau jene Methode, die ihr schon einmal zum Verhängnis geworden ist. Da Paula McIntyre (deren Homosexualität nur der Kollegin Jan Shields von der „Sitte“ bekannt ist) dem Opferschema entspricht, hat sie die zweifelhafte Ehre, sich als Nutte auftakeln zu dürfen. Natürlich wird sie entsprechend verkabelt, bevor man sie als Köder auf die Straße schickt.

Zur gleichen Zeit machen sich zwei ihrer Kollegen auf den Weg in die Berge von Derbyshire, um die Gräber von Tim Golding und Guy Lefevre zu suchen – ein forensischer Geologe vermutet sie dort. Und Dr. Tony Hill macht sich auf den Weg in den Rotlichtbezirk, um ein Auge auf die Entwicklung der Dinge zu haben.

Nach mehreren vergeblichen Anläufen Paulas ergibt sich eine denkwürdige Nacht, an die sich die Bradfielder Polizei noch lange erinnern soll …

_Mein Eindruck_

Hätte ich bloß nicht die Verfilmung zuerst angesehen! So war ich der ganzen Vorfreude auf die Enthüllung des eigentlichen Drahtziehers beraubt – und die ist mindestens die halbe Miete für die Spannung des gesamten Romans. Es gibt zwar zwei Fälle, in denen Carol Jordan ermittelt, aber im Grunde interessiert uns nur der Nuttenmörder. Folgerichtig ignoriert die TV-Verfilmung den zweiten Fall mit den getöteten zwei Jungs völlig, wenn ich mich richtig erinnere. Das ist wirklich schade, denn die Ermittlung in diesen zwei Todesfällen wird Detective Inspector Don Merrick zum Verhängnis …

Die Identität des Drahtziehers im Rotlichtbezirk von Bradfield darf von mir natürlich nicht enthüllt werden. Im Grunde handelt es sich um einen Strippenzieher und Marionettenspieler, dem es letzten Endes um die Verdoppelung seines Machtgenusses geht. Er hat nicht nur Macht über das Opfer, sondern auch über den Täter: Er ist DIE STIMME. Er lenkt und steuert, tadelt und lobt, er ist allmächtig, und sein Erfüllungsgehilfe ist für ihn lediglich „der Affe“.

Für Tony Hill ist klar, dass ein solches Täterprofil auf schwere psychologische Defizite hinweist. Dieser Hunger nach Macht muss etwas anderes wettmachen, nämlich Vertrauens- und Liebesfähigkeit. Wahrscheinlich übt dieser Täter tagtäglich Macht aus, wird gefürchtet, weil er mit Vergeltung droht. Folglich traut sich keine der Prostituierten auch nur einen Piep zu sagen, wer die VIPER ist, von der Tony Hill von Derek Tyler erfährt. Die VIPER stößt zu, wann es ihr passt, und nimmt sich, was sie will. Nur ganz am Schluss traut sich die jüngste Prostituierte, Sam Evans, einem schwarzen Polizisten, der wie sie ein Außenseiter ist, einen Tipp zu geben. Wie sie erwartet hat, traut er seinen Ohren kaum …

DIE STIMME und DIE VIPER sind zwei wichtige Symbole, die sich leicht in den christlich-jüdischen Mythologiekontext einordnen lassen. DIE STIMME ist die Gottes und perverserweise ist DIE VIPER, die Schlange im Paradies, identisch mit DER STIMME. Es gibt also für die Opfer beider Kategorien keinerlei Entrinnen.

Bis Tony Hill dies verstanden hat, vergehen über 500 Seiten, was eine Menge ist. Und da gilt es etliche Längen zu überwinden – ganz besonders dann, wenn man, wie ich, die Lösung des Rätsels bereits kennt. Aber ich kämpfte mich durch und wurde mit einem Doppel-Finale belohnt, das in der Verfilmung überhaupt nicht bzw. ganz anders realisiert wurde. DIE STIMME weigert sich bis zuletzt, irgendeine Schuld anzuerkennen. Hill und Jordan haben größte Mühe, irgendwelche Beweise zusammenzutragen.

Es erscheint daher wie ein Gnadenerweis der Autorin persönlich, dass Derek Tyler als sein letztes Vermächtnis einen Hinweis auf ein Versteck gibt, in dem sich belastendes Material gegen DIE STIMME findet. Dieses Trumpf-As sticht denn auch endlich. Denn der Pfiff am ganzen Plot besteht ja darin, dass sich der Gegner stets im engsten Kreis der Ermittler befindet und sich somit perfekt schützen kann …

Ein zweiter Schwerpunkt ist der Aspekt der Ausgrenzung. Viele von uns und viele der Romanfiguren sind Außenseiter und suchen eine Möglichkeit, dieses – reale oder vermeintliche – Manko wettzumachen. Stacey Chen ist Chinesin und tut sich als EDV-Expertin hervor. Sam Evans ist Schwarzer und schnüffelt in den Schreibtischen seiner Kollegen nach belastendem Material – nicht fein, aber effektiv. Paula McIntyre ist lesbisch und will sich gegenüber Carol Jordan hervortun. Und dann ist da noch X, der für sein Außenseitertum einen ganz besonders teuflischen Ausgleich gefunden hat …

_Die Übersetzung _

Die Übersetzerin Doris Styron ist fest auf die Romane von Val McDermid abonniert; einzige Ausnahme ist die „Kate Brannigan“-Reihe. Styron pflegt die Umgangssprache und beherrscht sie aus dem Effeff. Das macht ihren Text ungemein lesbar. Und weil es keinen einzigen Druckfehler gibt (den ich gefunden hätte), bereitet der Text pures Vergnügen.

_Unterm Strich_

Wenn man die Lösung des Rätsels eines solch spannenden Romans schon kennt, muss man das Beste daraus machen. Ich widerstand der Versuchung, das Buch beiseite zu legen oder bei der Lektüre einzuschlafen – und wurde dafür mit einem völlig anderen Doppelfinale als in der TV-Verfilmung belohnt. Das war zugleich zufriedenstellend als auch aufschlussreich. Denn der „Puppenspieler“ lehnt jegliche Schuld ab und versucht die Cops, mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ganz schön frech.

Und um ein Haar erfolgreich, wenn die Autorin nicht ein Einsehen gehabt hätte: Sie gewährt den Ermittlern ein posthumes Geschenk des verblichenen Derek Tyler. Das fand ich wenig plausibel, aber um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, wünschte ich mir diesen Beweis auch.

Ansonsten ist der Roman ein routiniert abgespultes Spannungsgarn, das sich um die Konfigurationen der macht ebenso dreht wie um die Rettungsversuche der Opfer solcher Macht. Carol Jordan ist das Paradebeispiel für einen solchen Versuch. Sie findet den forensischen Geologen attraktiv, steigt mit ihm ins die Kiste und siehe da: Die seelische Heilung vollzieht sich auf wundersame Weise. Hätte ihr dies irgendein Mann empfohlen, wäre sie ihm natürlich ins Gesicht gesprungen und hätten ihn einen Chauvi gescholten. Sigmund Freud aber wusste Bescheid.

Apropos Psychoanalyse: Unser Oberheld Tony Hill erstellt zwar tolle Täterprofile, kommt aber bei seiner Lieblingspolizistin nicht zum Streich. Was für ein Kerl ist er überhaupt, fragt sich der enttäuschte Leser. Nun, er ist impotent, aber das bedeutet nicht, dass er seinen Charme oder seine Hinterlist eingebüßt hätte. So ist er es, der dem „Puppenspieler“ auf die Schliche kommt und ihn stellt. Einen Helden muss es mindestens in einem McDermid-Krimi geben, und Dr. Hill ist einer der schrägsten Helden, die man sich vorstellen kann. Deshalb war ja die 24-teilige Fernsehserie um ihn so erfolgreich.

Kurzum: Wer des Rätsels Lösung noch nicht kennt, wird auch mit „Tödliche Worte“ gut unterhalten. Wer die Pointe schon kennt, muss sich – wie immer in diesem Fall – auf eine Enttäuschung gefasst machen.

|Taschenbuch: 525 Seiten
Originaltitel: The Torment of Others (2004)
Aus dem Englischen von Doris Styron
ISBN-13: 978-3426629123|
http://www.droemer-knaur.de

_Val McDermit bei |Buchwurm.info|:_
[„Das Lied der Sirenen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1498
[„Echo einer Winternacht“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=703
[„Die Erfinder des Todes“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2602
[„Das Moor des Vergessens“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6607
[„Nacht unter Tag“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6201
[„Schlussblende“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6609
[„Ein kalter Strom“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6662

Schreibe einen Kommentar