Wolfgang Jeschke / Ben Bova (Hrsg.) – Titan-11

Just say no: Invasion vergebens

Die Großen der Science-Fiction sind mit ihren Meisterwerken bereits in der so genannten „Science Fiction Hall of Fame“ verewigt, welche natürlich in Buchform veröffentlicht wurde (statt sie in Granit zu meißeln). Daher können Freunde dieses Genres noch heute die ersten und wichtigsten Errungenschaften in der Entwicklung eines Genres nachlesen und begutachten, das inzwischen die ganze Welt erobert und zahlreiche Medien durchdrungen hat.

In der vorliegenden Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 11 von „Titan“, der deutschen Ausgabe der „SF Hall of Fame“, sind Novellen von Theodore Sturgeon, Henry Kuttner, Catherine L. Moore und Eric Frank Russell gesammelt.

_Die Herausgeber_

1) Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im |Kichtenberg|-Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim |Heyne|-Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und zum Teil für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Sein erster Roman [„Der letzte Tag der Schöpfung“ 1658 (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Zuletzt erschien „Das Cusanus-Spiel“ bei |Droemer|.

2) Ben Bova, Jahrgang 1932, ist ebenfalls schon über 70 und ein verdammt erfahrener Bursche. 1956 bis 1971 arbeitete er als technischer Redakteur für die NASA und ein Forschungslabor, bevor er die Nachfolge des bekanntesten Science-Fiction-Herausgebers aller Zeiten antreten durfte, die von John W. Campbell. Campbell war die Grundlage für das „Goldene Zeitalter der Science-Fiction“, indem er mit seinem Magazin „Analog Science Fiction“ jungen Autoren wie Asimov, Heinlein, van Vogt und anderen ein Forum gab. Hier entstanden der „Foundation“-Zyklus und andere Future-History-Zyklen.

Für seine Herausgeberschaft von |Analog| wurde Bova sechsmal (von 1973-79) mit einem der beiden wichtigsten Preise der Science-Fiction ausgezeichnet, dem |Hugo Gernsback Award|. Von 1978-82 gab er das Technik-&-Fiction-Magazin „Omni“ heraus. 1990-92 sprach er für alle Science-Fiction-Autoren Amerikas in seiner Eigenschaft als Präsident des Berufsvereinigung. Seit 1959 hat er eigene Bücher veröffentlicht, die sich oftmals an ein jugendliches Publikum richten, darunter die Kinsman- und Exiles-Zyklen.

Ebenso wie Robert Heinlein und Larry Niven ist Bova ein Verfechter der Idee, dass die Menschheit den Raum erobern muss, um überleben zu können. Und dies wird nur dann geschehen, wenn sich die Regierung zurückzieht und die Wirtschaft den Job übernimmt. Der Brite Stephen Baxter hat in seiner |Multiversum|-Trilogie diese Idee aufgegriffen und weiterentwickelt.

1992 begann Bova mit der Veröffentlichung seines bislang ehrgeizigsten Projekts: die Eroberung des Sonnensystems in möglichst detaillierter und doch abenteuerlicher Erzählform.

_Die Erzählungen_

1) _Henry Kuttner & C. L. Moore: Traubenlese_ (Vintage season, 1946)

Oliver Wilson wundert sich über die drei Leute, die sein Haus für den Monat Mai gemietet haben. Sie reden in hochgestochenem, deutlich artikulierendem Akzent und tragen ihre feinen, bunten Kleider, als wären sie Schauspieler und trügen Kostüme. Der Mann, als Einziger ganz in Schwarz, nennt sich Omerie, die Damen heißen Klia und Kleph. Keine Nachnamen. Und sie möchten nur dieses eine Haus, möglichst alleine für sich. Aber sie gestehen Oliver zu, dass er ein Zimmer bewohnen darf.

Das Trio führt sich auf wie Touristen, mit einem beobachtenden, unbeteiligten Blick. Als Klia und Omerie auf Fotosafari sind, wagt sich Oliver in das Zimmer von Kleph, denn er hat sich in sie verliebt. Ihr Zimmer ist jetzt extravagant eingerichtet, mit Chaiselongue und einer Überdecke auf dem Bett, die laufend andere Bilder zeigt. Interessanter Effekt. Noch interessanter ist allerdings Klephs Tee: Das Getränk euphorisiert, vertreibt alle Sorgen.

Zu schade, dass die Lady keinerlei Fragen beantwortet. Was wollen die Herrschaften hier in Kalifornien und woher kommen sie? Warten sie auf etwas Bestimmtes, vielleicht auf das Eintreten eines Ereignisses? Allmählich schwant Oliver, dass diese Leute nicht nur aus einem anderen Land kommen.

Das Trio ist nicht jenes Volk, das bunt gekleidet ist und ebenfalls in Olivers Haus wohnen will. Eine „Madame Hollia“ will mitsamt ihrem Lakaien Kara das Haus kaufen. Nicht bloß mieten. Um das Trio zu vertreiben, lassen sie ein Gerät im Haus verstecken. Bevor es aktiviert wird, macht Oliver in Klephs Zimmer eine erschütternde Entdeckung. Madame Hollia hat Kleph ein Kästchen mit einem Kunstwerk eines gewissen Cenbe überreicht. Oliver hört dessen Musik und schaut nach, woher sie kommt. Kleph schaut sich eine Multimediashow an. Es ist aber nicht die Musik, die Oliver umhaut, sondern die visuelle Präsentation. Die Bilder zeigen Katastrophengebiete, Kriegsgebiete, Leidende aller Alter und Geschlechter. Was soll das? Ist das eine Art Passionsgeschichte? Und was hat Kleph in Canterbury getan? Wieder vertreibt Kleph Olivers verwirrte Sorgen durch ihren Spezialtee …

Die Nacht ist kurz. Oliver wird von Infraschallwellen geweckt, die Madame Hollias verstecktes Gerät erzeugt. In Panik und Angst suchen alle Bewohner nach diesem Gerät; erst als es deaktiviert ist, kehrt erleichterte Ruhe ein. Oliver hat herausgefunden, wann das Lied modern war, das Kleph aus Canterbury mitgebracht hat. Es stammt aus Chaucers „Canterbury Tales“: vom Ende des 14. Jahrhunderts! Diese Leute müssen Zeitreisende sein. Fragt sich nur, was sie hier wollen, auf was sie hier warten.

Oliver steht unter Hausarrest und unter Drogentee. Erst in tiefer Nacht weckt ihn ein ungeheurer Donnerschlag, der die Erde beben lässt. Ist dies das Ereignis, auf das die Touristen aus der Zukunft gewartet haben? Wird der Künstler Cenbe auch hiervon eine seiner schrecklichen Symphonien komponieren?

|Mein Eindruck|

Man stelle sich einfach mal vor, WIR wären diese Zeittouristen, die sich an dem Anblick von Katastrophen und Kriegen ergötzen. Jeden Tag bekommen wir solche Bilder vorgesetzt – die Autorin war 1946 in der gleichen Lage, denn der Zweite Weltkrieg war gerade vorübergegangen. Diese Zeittouristen vergnügen sich nicht nur an historischen Momenten – das tun die Dilettanten -, sondern schaffen daraus auch Kunstwerke – das tun die Kenner, solche wie Cenbe.

Die Frage, die für Opfer wie Oliver Wilson die entscheidende ist: Rechtfertigt der Wert dieses Kunstwerks, das in der Zukunft für künftige Zuschauer geschaffen wird, die vielen, vielen Opfer und ihre Leiden, die dafür fotografiert werden? Oliver verneint diese Frage natürlich. Es ist eine immens wichtige Frage, denn letzten Endes geht es hier um die Pornografie des Krieges und der Gewalt.

Ebenso wichtig ist Olivers Frage an Kleph und Cenbe, ob diese Reisenden, die ja in der Zeit reisen können, nicht auch die Ereignisse in der Vergangenheit ändern könnten? Könnten sie nicht das Schlimmste verhindern, indem sie die sicheren Opfer vor der kommenden Katastrophe warnen? Wäre dies nicht ihre moralische Pflicht gegenüber ihren Mitmenschen? Cenbe ist in der Lage, den Grund für sein Nichtstun in dieser Hinsicht zu erklären: Veränderungen in der Vergangenheit könnten die Zukunft ändern – und das dürfe niemand zulassen.

Ach ja, um welche Katastrophe es sich handelt? Ein Meteor schlägt in San Francisco ein, das in Flammen aufgeht – sehr malerisch, wie die Besucher finden. Sie sind schon längst beim nächsten Mega-Event (Kaiser Karls Krönung im Jahr 800), als die nachfolgende Seuche die Welt beinahe entvölkert …

„Traubenlese“ ist eine der erschütterndsten, am besten geschriebenen und klügsten Zeitreisegeschichten. Sie hat nur ein Manko. Oliver Wilson, der Chronist, hat so gut wie keine eigenen Charaktereigenschaften.

2) _Eric Frank Russell: … dann war’n sie alle futsch_ (And then there were none, 1951)

Das große terranische Raumschiff landet auf einer weiteren Welt, um sie in Besitz zu nehmen. Doch bei dieser läuft alles schief.

Als der Blieder-Raumantrieb die Bewältigung größter Distanzen in kurzer Zeit ermöglicht hatte, begaben sich zahlreiche Andersdenkende auf die vielen Welten dort draußen, um der engstirnigen und eng gewordenen Erde ein für allemal den Rücken zu kehren. Nun, 300 bis 500 Jahre später, hat es die Besatzung des Raumschiffs mit den Nachfahren dieser Dissidenten zu tun. Aber obwohl die Leute auf dieser Welt die Terraner ausgezeichnet verstehen können, unterscheiden sie sich von allen anderen Dissidenten. Die geplante Übernahme der Welt kommt kein bisschen voran.

Der irdische Botschafter lässt einen der Bauern von seinem Feld holen. Der Bauer weigert sich strikt, dem Befehl der Soldaten Folge zu leisten und sagt ein unverständliches Wort: „Meiob!“ Mit einem anderen Bauern haben die Soldaten ebenfalls kein Glück. Die Leute achten weder Rang noch Befehle, sondern sagen einfach: „Meiob!“ Da es keine Großstadt und somit keine Hauptstadt zu geben scheint, fliegt das Schiff zur nächsten Kleinstadt. Doch die Leute auf der Straße reagieren ebenso abweisend.

Der Botschafter wird wütender und greift schließlich zu einer verzweifelten Maßnahme. Er schickt Harrison los, der aussieht, als könnte er auf seinem Fahrrad – es ist das einzige in der ganzen Flotte – keiner Fliege etwas zuleide tun. Harrison soll kundschaften und herausfinden, wer der Bürgermeister, Sheriff, Kalif oder so etwas hier ist. Harrison muss feststellen, dass es so etwas hier nicht gibt. Genauso wenig wie Geld übrigens. Vielmehr halten sich die Bürger – sie nennen sich Gands und die Terraner Anti-Gands – einiges darauf zugute, dass sie frei sind und jederzeit „Ich will nicht“ sagen können.

Um etwas zu essen zu bekommen, verrichtet Harrison ein wenig Arbeit, bekommt dafür eine Obligation, „Ob“ genannt, von seinem Arbeitgeber ausgestellt und kann diese bei einem bestimmten Restaurantbesitzer, der viele Obs vom Arbeitgeber hat, gegen Essen einlösen. Der Restaurantbesitzer streicht ein Ob von seiner Ob-Liste. Ein transparentes System, das aber voraussetzt, dass jeder jeden kennt und deshalb nicht mit großen, zentralisierten Gemeinden funktioniert. Dass man hier keinen Besitz anhäufen kann, versteht sich von selbst, und eine Ob-Bank gibt es erst recht nicht.

Nachdem Harrison unverrichteter Dinge zurückgekehrt ist und Bericht erstattet hat, ist der Botschafter zwar frustriert, aber der Kapitän kann seine Matrosen nicht von ihrem ihnen zustehenden Landgang abhalten. Auch Harrison darf mit Sgt. Gleed wieder an Land: Es gibt noch mehr Aha-Erlebnisse, und nachdem der Restaurantbesitzer auch mit Sgt. Gleed gesprochen hat, weil er hofft, auch eingefleischte Anti-Gander überzeugen zu können, ist Gleed der Erste, der nicht mehr zurück an Bord will. Und beileibe nicht der letzte …

|Mein Eindruck|

Nur für den Fall, dass man das Verfassungsprinzip der Gander noch nicht kennt oder durchschaut hat: Es handelt sich um eine Gesellschaft, die nach Mahatma Gandhis Prinzip des passiven Widerstands lebt. Dass die Story nur vier Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens veröffentlicht wurde, legt die Vermutung nahe, dass der britische Autor Gandhis Methode nicht nur eingehend studiert hat, sondern es auch für möglich hält, dass sie in anderen Kolonien Seiner oder Ihrer Britischen Majestät angewendet werden könnte. Seine Novelle ist eine deutliche Warnung, aber zum Glück mit sehr viel Humor formuliert, so dass niemand den erhobenen Zeigefinger zu sehen bekommt, der sich dahinter verbirgt.

Zugleich führt er einige Klischees und Konventionen der amerikanischen SF ad absurdum. So etwa die Annahme, es genüge wie weiland in Manhattan zu sagen: „Take me to your leader!“ und dann werde sich alles schon mit dem Häuptling regeln lassen, beispielsweise mit Glasperlenketten und Pockendecken. Dummerweise haben die Gander weder König noch Häuptling, obendrein glauben sie auch noch frecherweise, dass kein Mensch mehr wert sei als der andere. Weshalb sich auch keiner herausnehmen könne, einem anderen Befehle erteilen zu dürfen. Die Sache mit der natürlichen Autorität können sich die Terraner also an die Backe kleben. Und die Idee von der Überlegenheit einer zentralen Regierung sowieso.

Vielmehr scheint die Basisdemokratie der Gander ausgezeichnet zu funktionieren. Natürlich kann ein Schmarotzer versuchen, die auf Obs basierende Wirtschaft zu missbrauchen, aber wie lange geht das gut? Die Fabel vom faulen Jack belegt das anschaulich. In 27 Städten konnte der faule Jack sein Parasitentum durchziehen, doch in der letzten war er schon so berüchtigt, dass er nur einen einzigen Tag lang die Obs, die man ihm anvertraute, missbrauchen konnte, dann gab ihm niemand mehr etwas. Er ging in die Wildnis, wo er sich schließlich erhängte.

Geschichten wie diese waren in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts sehr beliebt, denn sie illustrierten friedliche Alternativen zur bürgerlich-kapitalistischen und die Möglichkeit, dass diese Alternativen funktionieren konnten. Aus den politischen Kreisen dieser „Alternativen“ ging dann Die Grünen hervor.

Lange schaffte es diese Partei, Ideen wie Basisdemokratie, Gleichberechtigung, Kriegsdienstverweigerung, Pazifismus und Gemeinbesitz zu realisieren, ja sogar intern durchzusetzen. Heute, rund 20 Jahre später, sind davon nur noch der Antimilitarismus, der Umweltschutz und die Gleichberechtigung übrig geblieben. Das finde ich schon ziemlich schade, andererseits sind Umweltschutz und Gleichberechtigung mittlerweile Regierungsprogramm oder sogar Verfassungsziel.

Man kann Mahatma „Die große Seele“ Gandhi, diesen halbnackten Baumwollspinner, romantisch finden, aber er hat auch einem Riesenreich wie Indien zur Unabhängigkeit verholfen, als er, als Anwalt, in Südafrika einfach mal „Ich will nicht“ sagte. Vielleicht sollte man darüber mal nachdenken.

3) _Theodore Sturgeon: Baby ist drei_ (Baby is three, 1952)

|Vorgeschichte|

Im ersten Teil des dreiteiligen Romans „Baby ist drei“ (More than human, 1954) werden die verschiedenen Personen der Geschichte vorgestellt. Das ist einmal der „fabelhafte Idiot“, der dem Kapitel seinen Titel gibt. Er kennt kein Ich, hat keine Sprache, lebt wie ein Tier im Wald. Als er von einem wohlmeinenden kinderlosen Farmerspaar aufgenommen wird, erwirbt er einen Namen, Lein (von ‚allein‘), Sprache (er lernt aber nie Schreiben) und Liebe – was wohl das Wichtigste ist. Die Talente des Idioten Lein sind Telepathie und Empathie, also Übertragung von Gedanken und Empfindungen.

Er trifft auf ebenfalls empathiefähige Menschen. Evelyn, die Unschuld aus einem abgeschieden gelegenen Herrenhaus stirbt nach Leins Einmischung in ihre Familie; doch später kommen die kleine Janie mit den telekinetischen Kräften (sie bewegt Dinge mit Gedankenkraft) und die beiden sprachgestörten farbigen Zwillinge Beanie und Bonnie, die teleportieren können: Sie bewegen sich selbst von Ort zu Ort per Gedankenkraft. Hinzukommen weitere Teile des entstehenden Gestaltwesens: ein mongoloides Baby, dessen Geist arbeitet wie ein Computer und das seine Ergebnisse telepathisch überträgt; und schließlich Gerry, ein Junge, der nur hassen kann.

Dieses Häuflein Menschen, das einsam und geschützt in einer Hütte im Wald lebt, entdeckt erst spät (eigentlich nur Lein, dann Gerry), dass es sich vom Rest der Menschheit erheblich unterscheidet. Einzeln sind die Kinder und Lein schwach, doch zusammen können sie mehr vollbringen als ein durchschnittlicher Mensch.

|Die Story|

Im zweiten Teil „Baby ist drei“ findet eine Psychiatersitzung statt, die dazu dienen soll, dass Gerry herausfindet, was mit ihm nicht stimmt: Er hat einen Menschen getötet. Mal hält er sich für 15 (meistens), dann wieder für acht Jahre alt, dann ist er 33. Feststeht zumindest, dass er über telepathische und hypnotische Kräfte verfügt. Ein paar Jahre sind inzwischen vergangen, und er hat den verstorbenen Lein als Leiter der Gruppe abgelöst.

Der Satz „Baby ist drei“ löst in seinem Geist eine Blockade aus, die die Frage auf die Antwort verschließt, warum er Miss Kew, die „Erzieherin“ des Gestaltwesens, getötet hat. Wie sich herausstellt, ist Miss Kew die Schwester jener Evelyn, der Lein damals so verhängnisvoll begegnete, Alicia. Der Leser fragt sich die ganze Zeit, warum Alicia gegenüber Lein eine Verpflichtung hatte, seine Gruppe in ihrem Haus aufzunehmen – sie kannte ihn doch gar nicht, oder? Das Geheimnis hinter dem Satz „Baby ist drei“ ist für sie verhängnisvoll, zeigt aber Gerry, wer er in Wirklichkeit ist. Diese Szenen sind extrem spannend und halten viele überraschende Erkenntnisse bereit.

Mein Eindruck

„Baby ist drei“ bzw. „Die Ersten ihrer Art“ gehört zu den zehn berühmtesten und wohl auch besten Science-Fiction-Romanen überhaupt. Es ist ein hervorragendes Beispiel für die Bearbeitung des Themas Homo gestalt, bei dem mehrere Mutanten ihre Talente kombinieren und so eine parapsychische Union und neue Daseinsform bilden.

Mich hat der Roman – und die vorliegende Story – vor allem deshalb beeindruckt, weil Sturgeon es versteht, auf sprachlich wunderschöne und doch einfache Weise eindringlich klarzumachen, was jedes Mitglied der Gruppe ausmacht und worin ihre Besonderheit in der Koexistenz besteht: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Die in beinahe märchenhaftem Tonfall erzählte Handlung erscheint dadurch realistisch.

Erst so kann man das Anliegen des Autors akzeptieren, seine Forderung nach einer menschenwürdigen Zukunft, die auch einen Platz für die Andersartigkeit hat, für Mutanten. Man merkt der Erzählung Sturgeons Liebe für Kinder an und dass er über ein tiefes Verständnis für sie verfügt. Und daher ist klar, dass er jedem Kind, und sei es noch so andersartig, eine Chance verschaffen möchte, mehr Glück, mehr Erfüllung zu finden, beispielsweise in der Gemeinschaft des Kollektivwesens Homo gestalt.

_Unterm Strich_

Die drei Beiträge dieses Auswahlbandes sind sehr unterschiedlich, belegen aber allesamt, wozu gute und gut geschriebene Science-Fiction in der Lage ist. „Traubenlese“ ist ein indirekt formulierte Warnung vor den Folgen eines Kometeneinschlags, der aber genauso gut der Atomkrieg sein könnte. 1946 wusste man bereits sehr gut, wozu eine Atombombe in der Lage ist.

Die zweite Geschichte, von dem Engländer Eric Frank Russell, ist ebenfalls eine direkte Reaktion auf die Zeitgeschehnisse und verlegt den friedlichen Aufstand der Inder (bis 1947) auf eine ferne Welt. Dort bietet die Gesellschaft der Gander den Matrosen des terranischen Schiffes wesentlich mehr Selbstverwirklichungschancen als die knauserig-autoritäre Erde es jemals tun würde. Die Matrosen desertieren in Scharen, und um nicht noch mehr davon beim „Landurlaub“ zu verlieren, muss das Schiff schleunigst das Weite suchen, will es überhaupt noch funktionstüchtig bleiben.

Die dritte Geschichte ist klassischer Sturgeon: eine Story über gesellschaftliche Außenseiter, die aber für sich einen weiteren Sprung in der geistigen und gesellschaftlichen Evolution des Menschen genommen haben. Mutantengeschichten gab es in den 1950er Jahren massenweise, denn viele Autoren fragten sich damals, was wohl Radioaktivität wie etwa vom Fallout einer Atom- oder Wasserstoffbombe mit dem menschlichen Erbgut anrichtet. Eine Variante dieser Geschichten brachte Monster wie Godzilla hervor, die andere aber das Kollektivwesen „Homo gestalt“.

Die Geschichten nehmen keinesfalls in Anspruch, die Zukunft vorherzusagen, wie es vielleicht noch die Generation vor 1945 getan hatte. Aber die Autoren warnten vor gewissen Möglichkeiten in Technik (häufig) und Gesellschaft (selten) oder stellten Chancen bestimmter Entwicklungen zur Diskussion. In „Titan-11“ sind einige der besten Beispiele dafür zu finden, so dass sie, ohne zu viel vorauszusetzen, einen idealen Einstieg in das Genre bieten.

Originaltitel: Science Fiction Hall of Fame Band 2/A, 1973
222 Seiten
Aus dem US-Englischen von Uwe Anton
www.heyne.de