Wolfgang Jeschke (Hg.) – Heyne Science Fiction Jahresband 1992. 9 Romane und Erzählungen

Die Vernichtung von Beethovens Neunter

Dieser Jahresband ist eine Fundgrube für Einsteiger und Fortgeschrittene gleichermaßen. Bekannte Autoren der 1990er Jahre wie Joe Haldeman, Michael Flynn, Lucius Shepard, Michael Blumlein, Walter Jon Williams, Ian McDonald und Kristine Kathryn Rusch sind hier versammelt. Aber auch zwei Veteranen geben sich ein Stelldichein: Frederik Pohl und Carter Scholz. Von Haldeman ist hier ein Roman untergebracht, der mit seinen Kürzungen überrascht.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986), die sogar in den USA veröffentlicht wurde. Eine seiner Story-Sammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Das Story- und Hörspiel-Werk ist komplett bei Shayol zu finden. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) Joe Haldeman: Der Schwindel um Hemingway (The Hemingway Hoax; NEBULA 1990 und HUGO 1991)

Der Collegedozent John Baird wird von seiner Frau Lena und dem Schwindler Castlemaine dazu gedrängt, eine lukrative Fälschung von anno 1922 verlorenen gegangenen Hemingway-Manuskripten herzustellen und diese nach dem Vorbild der „Hitler-Tagebücher“ meistbietend zu verscherbeln. Baird hält diesen Schwindel erst für einen Jux, doch als ein Agent der Zeitkorrektur-Agentur auftaucht, nimmt die Sache eine ebenso tödliche wie wundersame Wendung…

Mein Eindruck

Es geht dem Autor also gar nicht um die Frage, wie gut oder schlecht eine literarische Fälschung angefertigt werden kann, als handle es sich um eine neue Sportart. Vielmehr steht die Frage im Vordergrund, welche Konsequenzen ein solches Unterfangen haben könnte – nicht etwa für die Leser, sondern für den oder die Autor/en und dessen bzw. deren Verhältnis zum Original.

Der Agentur der Kontrollbehörde ist sozusagen die Verkörperung unseres schlechten Gewissens. Leider sind die Mittel, die er einsetzt, weniger als angenehm für den guten Baird, der sich eigentlich nur einen Jux machen will. Die Tode und Wiederauferstehungen, die Baird erdulden muss, sind erstens ein Rätsel und zweitens verhängnisvoll: Bairds nächste Realität wird immer schlimmer – bis sie schließlich unserer eigenen Historie entspricht. Das spricht nicht gerade für ein optimistisches Geschichtsverständnis des Autors.

Am Schluss bekommt Baird vom Autor – und der Kontrollbehörde – quasi den Segen, denn nun stellt sich heraus, dass er nichts anderes als eine Verkörperung des ursprünglichen Autors Hemingway ist – anfangs nur im Geiste, finalmente aber auch im Fleische. Und somit kann die ganze Geschichte nochmal von vorne anfangen…

Bedeutet diese Absolution Bairds nun einen Freifahrtschein für alle Kunstfälscher? Wohl kaum, es sei denn, sie arbeiten wirklich im Geiste eines Genies wie Hemingway – der dann auch nicht in persona während eines Durchlaufs auftritt. Der „hoax“, also Schwindel, um den es inhaltlich geht, ist zugleich auch diese Story: ein Jux vielleicht, ein Schwindel vielleicht auch, aber vor allem ein großes literarisches Vergnügen, das mit einem zunehmend spannender werdenden Story belohnt.

Hinweis: In dieser Übersetzung fehlen fünf Kapitel der originalen Buchfassung.

2) Carter Scholz: Die Neunte Symphonie von Ludwig van Beethoven und andere verlorene Stücke (1977)

Charles Largens ist mit 35 in der Mitte seines Lebens angelangt und fragt sich, was er bislang geleistet hat: Er wollte ursprünglich Komponist werden, schlug dann aber die Laufbahn eines Musikwissenschaftlers und Kritikers ein. Nun ist man auf ihn an höherer Stelle aufmerksam geworden und lädt ihn an einem von der Regierung finanzierten Forschungszentrum dazu ein, sich in sein Idol Ludwig van Beethoven versetzen zu lassen. Hat er Einwände? Natürlich nicht! Und welche Zeit soll’s sein? Am liebsten 1794, als Ludwig in Baden bei Wien ein neues, fürstlich gesponsertes Domizil bezog und seine erste Klaviersonate komponierte. Der Besuch ist ein voller Erfolg. Die Nachwehen der chemischen Halluzinationsdroge sind minimal.

Sein Mentor wird Santesson, der Leiter des Projekts. Charles registriert es nicht, aber der Mann, ein Beethoven-Experte, hat Pläne mit ihm. Auf der Dinner Party wird Charles von Lia Santesson verführt und versieht die Liebesdienste ihres Mannes, mit dessen Einverständnis. Denn, so gesteht Santesson, er ist gehandicapped: Er war inzwischen so häufig in Beethoven, zusammen mit all den anderen Forschern, dass er jedes Mal ein Stückchen seiner Seele zurückgelassen habe. An Sex sei überhaupt nicht mehr zu denken. Wenig später gibt sich Santesson den Rest, und Charles wird zum Leiter ernannt. Er ahnt nicht, in welcher Gefahr er schwebt: Seine Realität löst sich auf.

Seine nächsten Trips gehen ins Jahr 1823, als der inzwischen stocktaube Ludwig van seine Neunte Symphonie in Angriff nimmt. Doch in seinem Kopf drängen sich inzwischen neben Charles derart viele Forscher, dass das Genie seine eigene Stimme zu verlieren droht…

Mein Eindruck

Der Autor wendet die Theorie der Kanalüberlagerung auf die psychisch induzierte Zeitreise an. Statt sich wie einst H.G. Wells mit Maschinen herumzuplagen, macht er es wie Jack Finney in dessen Roman „Am anderen Ufer der Zeit“ (Time and Again, 1970) und schickt seinen Reisenden per psychischer Induktion auf den Trip. Erstaunlich, dass er im Kopf von Beethoven in genau dem beabsichtigten Jahr landet – und auch ein wenig unplausibel. So als ob es eine Wünschelrute gäbe. Sei’s drum. Es geht um anderes.

Die Kanäle der Stimmen der Forscher in Beethovens Kopf führen zu Kanalüberlagerung, zu Interferenzen. Charles begeht selbst den unverzeihlichen Fehler, sich einzumischen, quasi ein gedankenverbrechen. Das ist etwa so, als würde gemäß Heisenbergs Unschärferelation Schrödingers Katze in ihrer schwarzen Box immer aufs Neue getötet werden. Und zwar von ihren angeblich so neutralen Beobachtern. Die Folge von Charles‘ Einmischung ist verheerend, wie der Titel bereits andeutet…

Aber die Einmischung ist nicht frivol oder arrogant, sondern, wie zahlreiche Rückblenden in Charles‘ Jugend verdeutlichen, Folge seines Minderwertigkeitsgefühl: Er will sich verewigen. Ausgerechnet in seinem größten Idol. So gesehen, ist die Erzählung sowohl ein Kommentar über männliche „Kreativität“, als auch über die Folgen des Ruhms.

3) Frederik Pohl: In Erwartung der Olympier (Waiting for the Olympians, 1990)

Die ganze Welt wird seit 2000 Jahren vom Römischen Imperium beherrscht. Die Pax Romana hat zwar für viele die Sklaverei gebracht, aber auch großen technischen Fortschritt. So ist etwa eine Raumsonde in den tiefen Weltraum vorgedrungen. Dort stieß sie auf Aliens, die von aller Welt als „Olympier“ bezeichnet werden. Sie haben Botschaften geschickt, die entschlüsselt wurden, und so ihr Kommen angekündigt.

Der Erzähler Julius freut sich ebenfalls auf Ankunft der Fremden, befindet sich aber als freier Autor von Scientific Romances, also SF-Abenteuern, in einer prekären finanziellen Lage. Sein letztes Roman ist von seinem Verleger Marcus, der in New York City lebt, noch nicht angenommen worden: Der Abklatsch des antiken Erotikklassikers „Der goldene Esel“ lässt die Olympier gar nicht gut dastehen. Marcus‘ Opportunismus rät ihm, das Manuskript zurückzuhalten.

In dieser misslichen Lage trifft Julius seinen alten judäischen Freund, Senator Samuel Ben Samuelson wieder. Der hat eine Idee für ihn: Was wäre, wenn die bekannte Historie einen anderen Verlauf genommen hätte? Julius ist zu begriffsstutzig, um das Potential zu erkennen. Deshalb lädt ihn Ben nach Alexandria ein, um erstens seine Tochter Rachel, eine Historikerin, kennenzulernen und zweitens, um an einer Tagung über die Olympier teilzunehmen.

Gesagt, getan. Rachel ist überaus schön und klug, so dass sich Julius zu ihr hingezogen fühlt. Allerdings achten die Judäer bei Jungfrauen streng auf Vorsichtsmaßnahmen, damit es zu keinen unerwünschten, äh, Zwischenfällen und Folgen kommen kann. Doch Rachel sprüht vor Ideen, wo die Geschichte vor 2000 Jahren hätte verlaufen können. Die postaugusteische Periode ist ihr Spezialgebiet. Das von Julius aber nicht, und so erklärt sie ihm alles haarklein. Was, wenn die Chrestianer nach der Bestrafung ihres Anführers Jeshua von Nazareth durch Proconsul Tiberius nicht zerfallen wären, sondern etwas, naja, größer geworden wären?

Unterdessen haben die Olympier ihre Sendungen eingestellt. Die Tagung verläuft im Sande. Das gibt Julius Gelegenheit, Rachels Idee auszubauen. Was, wenn die Chrestianer nicht bloß weiterbestanden wären, sondern nach der HINRICHTUNG ihres Messias die Macht IN ALLER WELT übernommen hätten? Rachel ist entsetzt, aber er beruhigt sie: Alles nur Phantasie, meine Liebe! Der Titel des Romans: „Seitlich in eine chrestianische Welt“.

Dann kommt frohe Botschaft aus New York, und einer Vermählung mit der klugen Rachel steht bald nichts mehr im Wege…

Mein Eindruck

Ja, ja, vielleicht ist unsere Version der Historie in Wahrheit nur die x-te Fassung einer Scientific Romance, die sich irgendein antiker SF-Autor, der sich in Geldnöten befand, ausgedacht hat. So oder so ähnlich liest sich jedenfalls diese Novelle. Dabei macht der gewiefte Veteran Pohl ein paar Annahmen, über die man sich streiten könnte.

Erstens behauptet er, dass die SF als einzige Literaturgattung über die Fähigkeit verfüge, sich einen alternativen Geschichtsverlauf ausdenken zu können. Ihre Produkte seien schließlich „spekulative Fiktion“. Zweitens dürfe sich daher als „liberale Kunst“ anmaßen, über alternative Rollen des Opfertodes eines Gottessohnes zu spekulieren (ohne sofort zensiert zu werden).

Drittens dürfe sie über die Ankunft (Invasion?) von Außerirdischen spekulieren, ohne damit gleich die Wiederkehr des besagten Gottessohnes heraufzubeschwören. Welch kühner Gedanke: Es gebe nicht nur Millionen Welten wie unsere, sondern ebenso viele Völkerschaften. Mit anderen Göttern, aber gleichen Rechten!

Mit hinterlistigem Humor schildert der Autor kenntnisreich eine Welt des Römischen Imperiums – eine nicht gerade originelle Idee, aber wenigstens durchdacht. Die Ironie der Pointe: Es ist gerade die von Rom geduldete Sklaverei, die die Außerirdischen so abstößt und zum Rückzug veranlasst. Der Begriff der Zivilisiertheit, auf den sich die Römer so viel einbildeten, wird hierdurch stark relativiert. Das Gleiche gilt auch umgekehrt für die Christen: Wenn sie die Sklaverei in ihren Staaten dulden (es sind laut UNO über 40 Mio. Sklaven), dann sind sie kein bisschen besser als die ach so verkommenen Römer.

4) Michael F. Flynn: Im Wald der Zeit (The Forest of Time, 1987)

Im 20. Jahrhundert liegen in den USA mehrere Staaten miteinander im Krieg, sie befinden sich immer noch auf dem Stand des 18. Jahrhunderts. Im Staat Pennsylvania wird Deutsch gesprochen, und auch die meisten Leute tragen deutsche Namen. So wie der Kundschafter Rudolf Knecht, der an der Grenze zum Norden patrouilliert. Dort liegen Virginia, New York und Wyoming. Im Westen liegen die Staaten der „Nationen“, also der Ureinwohner, angeführt von den Häuptlingen Tecumseh, Pontiac und Sequoyah.

Als er seinen Gedanken nachhängt, hört er ein Geräusch: ein Fremder poltert durchs Gebüsch des Waldes. Ein Scout klingt anders. Als er ihn auf Englisch befragt, will der komisch aussehende Typ mit dem seltsamen Gerät vor dem Bauch bloß verwirrt seinen Standort wissen. Höchst verdächtig, denkt Rudolf. Er nimmt den vermeintlichen Spion auf der Stelle fest und bringt ihn in sein Fort.

Festungskommandant Vonderberge steckt den Fremden in den Bau und studiert sein Tagebuch. Da er sich mit Techno-Fiktion und Wissenschaft auskennt, erkennt er ziemlich schnell, was mit den sechs „Sprüngen“ dieses Hernando Kelly gemeint ist: Sprünge in der Zeit. Ursprünglich wollte kelly nur seiner Liebsten, Rosa, imponieren, ein kleiner Tagesausflug, nichts weiter. Doch er hat zu seinem Leidwesen herausfinden müssen, dass jeder Sprung, den er mit seiner „Zeit-Maschine“ unternimmt, die Ursprungswelt verändert. Er kann also von Welt B nicht mehr zu einer Welt A zurückkehren, sondern landet in Welt A‘. Er ist offenbar sogar in eine Welt geraten, in der Hakenkreuzfahnen auf amerikanischen Straßen wehen…

Jetzt steckt Kelly erst einmal fest. Vonderberge fragt ihn aus und meldet ihn General Schneider. Bis der General eintrifft, untersucht der Mediziner Ochsenfuß den Gefangenen. Dessen Geschichten von Luftwagen ohne Gasfüllung – Luftschiffe sind ja bereits bekannt – und von Kommunikation ohne Leitungen oder Tauben sind zwar faszinierend, aber offensichtlich pure Einbildung. Der Wahnsinn lauert gleich um die Ecke. Ochsenfuß beginnt eine folgenschwere Kur mithilfe von „Mesmerismus“, also Hypnose. Bald wird deutlich, dass Kelly tatsächlich den Verstand verliert. Alarmiert treffen Vonderberge und Gen. Schneider gewisse Maßnahmen…

Mein Eindruck

Wer jemals „The Man in the High Castle“ gesehen oder sogar gelesen hat (ein Roman von Philip K. Dick), der ahnt, dass mit den Vorgängen in einer alternativen Welt alias Parallelwelt nicht zu spaßen ist. Politische und geographische Zersplitterung führt nicht etwa zu idyllischer Friedfertigkeit, sondern, wie zu allen Zeiten, zum Kleinkrieg in allen Richtungen. Washington ist tot, ebenso Jefferson und Lincoln. Pennsylvania steht allein gegen den Rest der Kleinstaaten. Der einzige positive Effekt: Die „Indianer“ haben ihre eigenen Staaten, die „Nationen“, gründen können – keiner wollte oder konnte ihnen ihr Land wegnehmen. Nun planen sie Krieg gegen die europäischen Eindringlinge.

Kelly macht den Pennsylvaniern klar, was dies in wissenschaftlicher Hinsicht bedeutet: Weil Wissenschaft vom freien Austausch der Ideen und Forschungsergebnisse lebt, wird sie von den zahlreichen Grenzen aufgehalten: Da die Händler das Wissen in ihren Köpfen (und manchmal in Tagebüchern) transportieren und sie an zahllosen Zollschranken aufgehalten werden, tröpfelt Wissen nur noch. Folglich gibt es auf der Festung weder Drahtloskommunikation noch Flugzeuge oder Automobile. Knecht reitet ein Pferd.

Doch Kelly stellt konzentriertes Wissen dar, und Schneider ist ebensowenig blind wie Vonderberge: Er will Drahtloskommunikation, auch wenn Knecht deren Nutzen nicht einsieht (sie würde Kuriere wie ihn überflüssig machen). Und wenn Ochsenfuß mit seiner Hypnose nicht zuviel Schaden angerichtet hat, dann hofft Vonderberge, yneue Welten zu entdecken. Er repariert die „Zeit-Maschine“ und verschwindet mit Kelly. In welche Welt, wird Rudi Knecht wohl nie erfahren.

Der einzige Punkt, in dem mich diese HUGO-nominierte Story enttäuscht hat, ist folgender: Wenn Kellys letzter Sprung, den er mit Vonderberge unternimmt, jede Welt verändert, warum erfahren wir dann nichts von den Veränderungen? Wenn sie jedoch so winzig sind, dass Knecht sie nicht registriert, warum hatte dann Kelly solche Schwierigkeiten, wieder in seine Ursprungswelt zurückzukehren?

5) Kristine Kathryn Rusch: Die Galerie seiner Träume (The Gallery of His Dreams, 1991, nominiert für den HUGO Award)

Matthew Brady, ein Nachkomme irischer Einwanderer, entwickelt schon früh den Ehrgeiz, es zu etwas Besserem als einem Schweinehirten zu bringen. Als er Samuel Morse begegnet, weiß er, was machen will: Photographieren. Denn Morse hat die erste Daguerre-Kamera der Neuen Welt importiert und lehrt nun alle, die die astronomische Summe von 50 Dollar pro Semester aufbringen können, die Kunst des Schreibens mit Licht. Und als sich Matt auf einer Soiree in die reche Erbin Julia Anthony verliebt, ist es mit ihm aufwärts: Sie hat ihm ins Ohr geflüstert, sie kenne seine erträumte Galerie bereits. Von dieser Galerie seiner Träume fliegen ihm in regelmäßigen Abständen Bruchstücke zu, doch womit, mit welchen Motiven, soll er sie füllen?

Ein Beginn ist gemacht, als er eine Fotoserie „Berühmte Amerikaner“ wie etwa Präsident Andrew Jackson ablichtet, ausstellt und in einem Buch verkauft. Er wird reich damit, und Julia, die er nun heiraten kann, ist glücklich für ihn. Sie bestärkt ihn allerdings nicht in seinem riskanten Vorhaben, die Schlachtfelder des 1861 ausgebrochenen Bürgerkriegs abzulichten. Schon die erste Kampagne zum Schlachtfeld von Bull Run wird ein Fiasko: Alle Nordstaatler plus Zivilisten rennen vor der berüchtigten Schwarzen Kavallerie davon. Brady und sein Assistent drohen nicht nur zertrampelt zu werden, sondern auch ihre gesamte Ausrüstung zu verlieren. Am Ende ist dann aber doch nur der Gaul geklaut worden. Und so geht es den ganzen Krieg hindurch, fünf lange Jahre. Sein Lohn? Niemand will seine Bilder sehen, sondern nur das ganze Unheil vergessen. Es dauert keine 20 Jahre, bis er all seinen Besitz inklusive der Negative verkaufen muss.

Die Frau aus der Zukunft, die ihm seit Kriegsende begegnet, ist auch nicht gerade hilfreich. Sie verfolge nur ein Kunstprojekt, behauptet sie, und sie könne keine Zahlungsmittel irgendeiner Art aus der Zukunft mitbringen. Doch schließlich findet er sich dazu bereit, für sie zu arbeiten – für lau. Sie schickt ihn durch die Zeit an Orte, die so grauenerregend sind, dass er davon Alpträume bekommt. Aber die Lady sagt, nur er, Matt Brady, könne solches Grauen mit seiner Kamera einfangen, ohne dem Wahnsinn zu verfallen.

Es ist der Tag nach dem Abwurf einer gewaltigen Bombe, die so schrecklich ist, dass den Opfern die Haut vom Körper fällt. Es sind noch viele weitere Dinge. Wenigstens entschädigt ihn die Regierung, die alle seine Platten gekauft oder konfisziert hat, teilweise. Es reicht für weitere Monate, doch mit der Gesundheit Julias geht es zusehends bergab, so wie auch sein eigenes Augenlicht schwindet – außer in jenen Schreckensszenen. Ohne die Assistenz seines Neffen Levin könnte er nicht weitermachen. Die Zeitungen schreiben von seinem Ableben.

Erst am Ende seines Lebens ist die Galerie seiner Träume vollständig ausgestattet. Doch die Besucher, die in der Zukunft kommen, betrachten die abgelichteten Szenen nicht als Fakten, sondern als Kunst. Matt ist außer sich, und nur die Auftraggeberin kann ihn beruhigen. Und dann ist da noch eine junge Dame, die verblüffende Ähnlichkeit mit der verstorbenen Julia hat als sie noch 20 war. Sie nimmt ihn an der Hand…

Mein Eindruck

Die bewegende Novelle verarbeitet mehrere Themen, die noch heute von Bedeutung sind. Die Beobachtung von Kriegen ist nicht bloß ein dokumentarisches Unterfangen, sondern auch eine beängstigende menschliche Erfahrung. Wie notwendig diese Tätigkeit ist, zeigt das Verhalten sowohl der einfachen Bürger als auch der US-Regierung zu Bradys Zeit: Die Bürger haben ein größeres Interesse daran, zu verdrängen als sich an etwas zu erinnern, das ihnen ihre Liebsten genommen hat.

Und die US-Regierung verbreitet hier lieber ihre eigene Version der Ereignis als die mit Fotos dokumentierte Version. Fake News sind so viel leichter zu verbreiten als die lästige, mitunter sogar schmerzhafte Wahrheit. Siehe auch die „Pentagon Papers“, die Mitte der 1970er Jahre von der „Washington Post“ publik gemacht wurden und belegten, dass der Vietnamkrieg von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Doch die Autorin zeigt einen Ausweg, der Bradys Scheitern mit seiner Kunst ausgleicht: den Transfer in die Zukunft. In die titelgebende „Galerie seiner Träume“, die Brady mit anderen teilt – und das ist entscheidend. Hier wird seine Kunst zwar schon wieder missverstanden, aber wenigstens sind die vielfach geleugneten Kriegsverbrechen nun endgültig dokumentiert.

Die Autorin versteht es, mit quasi „hautnah“ geschilderten Episoden, den Werdegang Bradys und den seiner geliebten Frau so zu schildern, dass der Leser an seinem Schicksal anteilnimmt. Das ist entscheidend, um die Wirkung der Geschichte zu entfalten und ihre eigentliche Botschaft – siehe oben – zu vermitteln. Weil es hier nicht um Naturwissenschaft und Raumfahrt geht, hat die Geschichte wohl eine Auszeichnung mit dem HUGO Award verfehlt, aber immerhin war sie seinerzeit dafür nominiert. Und das ist an sich bereits eine Auszeichnung.

6) Lucius Shepard: Endstation Herrlichkeit (Bound for Glory, 1989)

Irgendwo im Südwesten der USA, in einer unbestimmten Zeit, als die Loks wieder mit Kohle fahren. Hier ist das Übelfeld zu finden, das in allen lebenden Wesen eine Verwandlung verursacht, vielleicht durch Strahlung. Die Verwandlung muss keineswegs schlechter Natur sein, aber es geht die Rede von Flüchtlingen, die blutdürstig seien und schon im ersten Moment abgeknallt werden müssten. Diejenigen, die nicht blutrünstig sind, vegetieren am Rande der kleinen Städte, die am Rand des Übelfeldes liegen.

Städte wie die Endstation Herrlichkeit, und dorthin wollen der namenlose Erzähler und seine Freundin Tracy. Sie sind Drifter, am bürgerlichen Leben gescheitert, und versuchen, am Rand des Unbekannten „eine neue Seite im Leben aufzuschlagen“, wie die abgedroschene Phrase lautet. Wie sich herausstellt, ist bereits die Zugfahrt ein Abenteuer, das sie verwandelt.

Als sich Tracy schließlich in ein reptilienhaftes Wesen verwandelt, muss sich ihr Freund, der Chronist, entscheiden, ob er sie töten soll, wie alle anderen Passagiere verlangen. Besonders Roy Cole, der Sicherheitschef des Zuges, ist ganz erpicht darauf, das Fremdwesen abzuknallen. Unser Erzähler verletzt Cole und lässt Tracy ins Ungewisse laufen. Diese Tat setzt weitere Ressentiments gegen ihn frei, doch er kann sich seiner Haut wehren. Er fragt sich, wohin ihn seine eigene Verwandlung tragen wird…

Mein Eindruck

Die Geschichte schildert eine Auseinandersetzung mit den Randständigen und vor allem mit den Andersartigen. Das ist beispielsweise Marie, die „fette Sau“, mit einem schwabbeligen Körper, der leicht zu verachten ist. Unser Erzähler hält Jimmy Crisp, einen Feind der Flüchtlinge, davon ab, Marie zu töten, nur weil sie anders ist. Und das, obwohl Marie verlangt hat, die verwandelte Tracy zu töten. Hat unser Erzähler eine Art Jesus-Komplex, könnte sich der Leser fragen. Dann wäre Roy Cole, der Aufpasser, so eine Art Pontius Pilatus und Jimmy Crisp Petrus, der seinen Erlöser verleugnet hat.

Die Existenz des Übelfeldes erinnert an die „Zone“ in dem als „Stalker“ verfilmten Roman „Picknick am Wegesrand“ der Brüder Strugatzki, aber auch an den Kristalldschungel in J.G. Ballards Roman „Kristallwelt“ und an Jeff Vandermeers „Area X“, die sich ausbreitet und in der die Wesen, die in ihr existieren, verwandelt werden. Neu ist die Grundidee der Geschichte also nicht. Aber das Ambiente mutet wie ein Western an, wobei die Area X, das Übelfeld, das wohl außerirdischen Ursprungs ist, die Wildnis darstellt, die es zu zähmen gilt – aber nicht hier: Es ist der Erzähler, der die fremden Kräfte als Chance auffasst, sich zu etwas Besserem zu verwandeln.

7) Michael Blumlein: Bestseller (Bestseller, 1990)

Nicholas möchte gerne ein erfolgreicher Schriftsteller, weniger wegen Ruhm und Ehre, sondern um seine Frau Claire zu kleiden und seinen Sohn Nick zu ernähren. Doch sein dritter Roman trifft nicht den Publikumsgeschmack, und sein Agent Tony verschafft ihm keine Gebote für die Rechte daran. Da Nicholas tief in den roten Zahlen steckt und Nick auch noch krank wird, kommt das Angebot über 200 Dollar gerade recht: Nicholas müsse sich nur ein wenig Blut abzapfen lassen, sagt die freundliche und attraktive Frau Devora, die ihn empfängt und betreut.

Doch Nicks Krankheit stellt sich als Krebs im Bein heraus, der viel Geld kosten wird. Nick hat die Wahl zwischen einer langwierigen Chemotherapie oder einer Amputation mit anschließender Prothese. Die koste allerdings ein Vermögen, sagen die Ärzte. Als spendet Nicholas an Devoras Leute auch Haut und dergleichen, und im Gegenzug bezahlt sie die Prothese. Er lernt auch den Empfänger seiner Gewebespenden kennen, einen Mann namens Kingman Ho, der angeblich an der Glasknochenkrankheit leide.

Zuerst ist der Spender nur neugierig und dankbar, doch je mehr Nicholas ihm spendet, desto intensiver wird die Beziehung: Sie ist längst nicht mehr geschäftlich, sondern wird zwischenmenschlich und emotional. Und als es der eigenen Familie bestens geht und die Forderungen Devoras immer höher geschraubt werden, da kann Nicholas nicht mehr „nein“ sagen, sondern gibt Körperglied um Körperglied, Organ um Organ her – bis es buchstäblich um seinen Kopf geht…

Mein Eindruck

Der Titel deutet bereits an, um was es geht: Die Zwänge des Buchmarktes zwingen selbst den motiviertesten Schriftsteller dazu, quasi sein Innenleben zu verkaufen, seine Träume und Ideale. So erging es wohl auch dem Englischlehrer Stephen King, als er im Wohnwagen lebte und seine Familie ernähren musste. Der Autor dieser Story hat dies wohl auch erlebt, doch kehrt er den inneren Ausverkauft nach außen: Sein Held verkauft seine Körperteile, denn diese sind bekanntlich tausendfach wertvoller als ein schnödes Buch.

Doch als die Beziehung zwischen und Empfänger weit übers Geschäftliche hinausgeht, wird aus Austausch Abhängigkeit. In der Spirale der ausgeweiteten Ansprüche an Nicholas sitzt er in einer emotionalen Falle. Hier gelangt die Darstellung an die Grenze ihrer Plausibilität: Hätte Nicholas nicht aus Liebe zu seiner Familie nicht aussteigen müssen? Stattdessen lässt er die Spirale weiterlaufen: aus Mitmenschlichkeit, aus emotionaler Erpressung? Der Autor deutet, dass auch Kingman Ho, der Empfänger, ein Opfer der zwielichtigen Devora sein könnte.

8) Walter Jon Williams: Nebeneffekte (Side Effects, 1990)

Dr. Winkelstein verschreibt dem Ehepaar Fernandez nicht bloß ein experimentelles (er vermeidet dieses Wort wie die Pest) Medikament, sondern gleich zwei. Denn erstens ist Frau Fernandez nach sieben Schwangerschaften schließlich doch noch in die Wechseljahre gekommen und zweitens haben diese Proleten, die nicht mal mehr Stütze kriegen, nullkommanull Kosten. Dieser durch Verträge abgesicherte Deal verschafft Dr. Winkelstein seinen Anteil an zwei lukrativen Feldstudien, was sich auf die erkleckliche Summe von rund 3000 Dollars belaufen dürfte. Natürlich arbeitet er lieber in seiner Praxis auf Long Island, aber dort werden die Leute immer gesünder – er hat weniger Patienten. Die Gemeinschaftspraxis in New York City teilt er sich mit zwei anderen Mediziner, die sich dazu herabgelassen haben, Allgemeinmedizin zu praktizieren.

Tolinol ist das neue Medikament, das an Frau Fernandez getestet werden soll. Ihr Mann Angel ist erfreut, als es bei ihr anschlägt: Ihre Haut wirkt jünger und ihr ergrautes Haar wächst schwarz nach. Ihre Vagina-Atrophie ist wie weggeblasen und der Sex wunderbar. Obwohl sie bereits die Menopause erreicht hat, wird sie wieder schwanger: Es ist ihr achtes Kind. Doch Dr. Winkelstein bietet sofort eine Abtreibung an, und auch die Kirche würde dabei mitziehen. Als einziger weiß er, dass die Tolinol-Studie abgeblasen worden ist. Der Grund: zu viele „Abgänge“.

Jeanie McGovern findet dies heraus, als sie als neue Tippse bei Dr. Trilling, dem Käufer und Sponsor dieser Studien, die Studienergebnisse der letzten Jahre erfassen soll, weil die Bundesbehörde für Arzneimittelüberwachung (FDA) sie angefordert hat. In den Berichten ist von Komplikationen mit dem Blut die Rede. Leider versteht sie nicht alle Fachausdrücke, beispielsweise „gravid“ (schwanger) und so. Sie ist eigentlich Tänzerin, aber derzeit arbeitslos. Und sie geht in der Lower East Side, wo sie wohnt, nicht mehr ohne Daddys 45er im Holster aus dem Haus – ein Mädchen aus Montana kennt sowas. Dr. Trilling ist beeindruckt – und wirft zur Beruhigung seiner Nerven gleich eine weitere Pille ein.

Nach dem Absetzen der Tolinol-Pillen bei Filomena Fernandez und nach der Abtreibung werden ihre Haare wieder grau sie wirkt schlaff und grau. Ihr Mann ist nicht begeistert, aber ahnt noch nicht, was noch kommt…

Mein Eindruck

Der Leser muss die vier Handlungsstränge eigenständig in Bezug zueinander setzen, daher ist flottes Lesen der Erzählung ratsam. Wenn die gruseligen „Seiteneffekte“ wie etwa enthäutete Totenschädel nicht wären, könnte man die Geschichte glatt für eine Sozialstudie aus der Schreibmaschine von John Brunner halten – er schrieb jedoch über die Endsechziger, Williams über die Endachtziger, also eine Generation später.

Waren Drogen wie Kokain noch Brunners Thema, so hat die Pharmaindustrie in 20 Jahren enorme Fortschritte gemacht. Wie Dr. Trilling unfreiwillig demonstriert – er wird Jeanie gegenüber etwas zu geschwätzig und plaudert Betriebsgeheimnisse aus, die sie schockieren -, haben Hersteller wie Tempel oder Baum Präparate für jede gewünschte Wirkung entwickelt. Der Konsument, also Dr. Trilling, spielt auf seinen Emotionen und Gehirnstimmungen wie auf einer Klaviatur. Doch wenn die Pillen mal durcheinandergeraten, ist die „Nebenwirkung“ umso kurioser und verräterischer. Das Lachen bleibt einem aber im Halse stecken.

9) Ian McDonald: Siegen ist alles (Winning, 1990)

Hammadi Al-Bourhan wächst in den Slums eines islamischen Landes auf, und wie alle Jungs läuft er, wann und wo er nur kann. Das bringt seinen Vater auf eine Idee: Mit Hammadis Können ließe sich vielleicht viel Geld mit jenen Konzernen verdienen, die im Fernsehen so viel Werbung schalten. Und eines Tages vielleicht könnte Hammadi seinem Vater – und Allah, verlangt die Mutter – viel Ehre machen, indem er bei der PanOlympiade gewinnt. Denn Siegen ist alles.

Der Tousaaint Mantene übernimmt das Sponsoring Hammadis und verfrachtet ihn in ein Luxushotel, allerdings stellt sich bald heraus, dass das junge Läufertalent, das Millionen wert ist, gründlich überarbeitet werden muss, um mit der Weltspitze mithalten zu können. Hamadi wird physisch zu einem Cyborg aufgerüstet, sein Trainer ist ein Computer, die Läufe finden im Simulator statt. Doch als es zum ersten realen Wettlauf kommen soll, zögert Hammadi: Schließlich sei heute Freitag, der heilige Tag Gottes. Da wird keine Arbeit verrichtet. Das hat ihm seine Mutter so beigebracht. Sein Betreuer Larsby kann ihn davon überzeugen, dass es besser ist, sein von Allah geschenktes Talent zu zeigen als es zu verstecken und so den Islam zu einer Religion der Versager zu stempeln. Hammadi wird Dritter. Larsby ist entzückt.“

Zu seinem schärften Konkurrenten entwickelt sich ein australischer Aborigine, der von einem deutschen Konzern „gesponsert“ wird. Merkwürdig, dass er immer gegen diesen Schwarzen verliert, findet Hammadi, bis ihm auffällt, was diesen Mann leistungsfähiger macht: seine spirituelle Ausrichtung. Über kurz oder langer wird es zur ultimativen Auseinandersetzung mit diesem Mann kommen, und das ist während der PanOlympiade. Doch dort, in Indien, kommt es zu einer amourösen Komplikation, die Hammadi vor eine unmögliche Wahl stellt…

Mein Eindruck

„Siegen ist alles“, das ist schon richtig, doch es kommt darauf, wem der Sieg jeweils Gewinn bringt. Ist es für seinen Sponsor, der mit einem Sieg Millionen verdient, oder ist es ein Sieg für Hammadi als Individuum oder ist der Sieg einer, der Allah Ehre macht? Hammadi muss auf die harte Tour herausfinden, welcher Sieg der für ihn richtige ist, und das ist das Thema der Geschichte, die auf zwei Zeitebenen erzählt wird.

Die Aufrüstung zum Cyborg, die Siege bzw. Niederlage, die erste Begegnung mit einer Frau und der Liebe, die Verweigerung und der anschließende Verlust aller „gesponserten“ Ausstattungsgeräte, die Verachtung des Vaters und der Trost der Mutter – all dies liegt in der Vergangenheit. Denn nun läuft Hammadi wieder, und es ist eine göttliche Freude, wieder laufen zu können, im Morgengrauen, wenn keiner hinsieht. Aber dieser Lauf ist nicht für ihn allein, fühlt Hammadi, sondern einer, der Allah, seinen Schöpfer ehrt – und damit die gesamte Schöpfung ehrt.

Die Story ist ein schönes Beispiel dafür, wie der Autor außereuropäische Kulturen und Vertreter mit allgemein menschlichen Problemstellungen verknüpft, nämlich unvoreingenommen und detailreich.

Die Übersetzungen

S. 88: „Hallodrie“: Das e ist überflüssig.

S. 89: „wie ein bleicher Fisch“: Im Original steht „beached fish“, also ein gestrandeter Fisch.

S. 157: „Er was als Pianist zu (…) gestoßen“: Statt „was“ muss es „war“ heißen.

S. 178: „das bin nicht icht“: Das letzte T ist überflüssig.

S. 264: „Aber wir wissen, was was schiefgegangen ist“: Ein „was“ reicht völlig.

S. 333: „wie man Botschaften per Radio weitergibt“: Mit Radio ist Funk gemeint.

S. 359: „Brady eilte zu Adams.“ Nein, er eilte zu Jackson, dem Präsidenten!

S. 363: „Ihr Interesse an mir schmeichelt mich.“ Aber „schmeicheln“ verlangt den Dativ anstelle des Akkusativs, daher muss es wie folgt heißen: „Ihr Interesse an mir schmeichelt mir.“

S. 380: „historische Vertragsunterschrift“ [von Appomatox House 1865]: gemeint ist aber nicht die Unterschrift, sondern die Unterzeichnung.

S. 432: „sagte dei Mann“: Korrekt müsste es „sagte der Mann“ heißen.

S. 456: „Overfall“ statt „Overall“.

S. 484: „nach meinen sch[w]ammigen Unfähigkeiten.“ Das W fehlt wohl.

S. 502: „Ich gab ihm meinen Namen, den er auf einer Kladde überprüfte.“ Weil aber „Kladde“ so viel wie „Notizbuch“ bedeutet, ist hier wohl ein Klemmbrett gemeint.

S. 540: „Daher würde es weniger Seiteneffekte bei dieser Therapie geben, weniger Durcheinander für den Metabolismus.“ Mit „Metabolismus“ ist der Stoffwechsel bzw. Kreislauf gemeint, mit „Seiteneffekten“ Nebenwirkungen, wie sie heute auf jedem Beipackzettel aufgeführt sein müssen.

S. 543: „sie [die Bürger] achteten mehr auf Überarbeitung“. Nein, sie sind nicht überarbeitet, sondern mit „workout“ ist Fitnesstraining gemeint.

S. 559: „Ein perfektes Beispiel für seine Studie.“ Nein, statt Beispiel ist vielmehr ein Exemplar gemeint.

S. 569: „Filomens sah herab…“: gemeint ist Filomena.

S. 584: „…in den eingewanderten Trikotage-Fabriken von Vancouver…“: Nicht die Fabriken sind eingewandert, sondern deren Arbeiter.

S. 610: „ein kleiner Straßenläufer aus dem Hinterwald des Globus“. Das klingt merkwürdig, wenn man es sich bildlich vorstellt, ist aber nur eine Eins-zu-eins-Übersetzung von „backwoods“, also aus der tiefsten Provinz.

Unterm Strich

Neben sieben Erzählungen enthält dieser Auswahlband eine Novelle (von Rusch) und einen kompletten Roman – von Haldeman. Es gibt also jede Menge Lesefutter für den damals geringen Betrag von 12 Deutschmärkern, noch dazu mit Illustrationen. Noch dazu war dieses Material nicht nur ziemlich aktuell, sondern auch noch preisgekrönt: Haldemans Roman erhielt die beiden höchsten Auszeichnungen des US-amerikanischen SF-Marktes, nämlich den NEBULA und den HUGO. Da machte es fast gar nichts, dass die hier abgedruckte und seinerzeit ausgezeichnete Fassung um fünf Kapitel kürzer als die endgültige Fassung des Romans ist.

Unter den übrigen -ebenfalls angesächsischen – Beiträgen ist keiner irgendwie minderwertig, aber „Die Galerie seiner Träume“ von Rusch blieb mir nicht nur wegen des Themas in Erinnerung, sondern vor allem wegen der bewegenden und tragischen Liebesgeschichte Matt Bradys. Das Thema Verdrängung ist ebenso aktuell wie Fake News. Die Autorin schlägt indirekt vor, einen zugriffssicheren Tresor für brisante, belastende und entlarvende Bilddokumente einzurichten.

Und dabei hat sie noch nicht einmal etwas von den zerstörerischen Löschpraktiken der Trump-Administration geahnt (zu deren Opfern auch der bekannte Autor Michael Crichton wurde). Die Vernichtung von Beethovens Neunter und die Fälschung eines Hemingway-Romans – sie alle fallen in die Kategorie „Fake News“ und Vergangenheitsfälschung: „alternative Fakten“.

Alles in allem ist der Auswahlband einer der qualitätsvollsten in der langen Reihe der SF-Jahresbände, die zwischen 1980 und 2000 veröffentlicht wurden. Und man könnte auch die drei nachfolgenden Auswahlbände „Fernes Licht“, „Ikarus 2001“ und „Ikarus 2002“ hinzuzählen. Für die vielen Druckfehler gibt es Punktabzug.

Taschenbuch: 619 Seiten
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13: 9783453053854

www.heyne.de

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