John Varley – Der heiße Draht nach Ophiuchi. SF-Roman

Die Menschheit im Exil: erfinderisch und sexy

600 Jahre in der Zukunft ist die Menschheit auf acht Welten des Sonnensystems verstreut, vertrieben von Alien-Invasoren. Seit 400 Jahren profitieren die Menschen einem Informationsstrom aus dem Sternbild Ophiuchus. Nun bereitet die Freie Erd-Partei einen Gegenschlag vor, und die Gentechnikerin Lilo Alexander-Calypso soll als vervielfältigte Agentin des Parteichefs den Angriff einleiten. Doch Lilo wäre viel lieber frei und unabhängig …


Der Autor

John Varley alias Herb Boehm, geboren 1947 in Austin, Texas, ist dem deutschen Leser vor allem durch seine Storybände (bei Goldmann) und seine Gäa-Trilogie (bei Heyne) ein Begriff. Eine seiner besten Storys, „Press ENTER“, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 1992 erschien der vorliegende Roman unter dem Titel „Steel Beach“ und landete in der Folge auf den vordersten Plätzen, als es um die Vergabe der Science Fiction-Preise ging.

Mittlerweile konnte Varley seine „Roter Donner“-Trilogie bei Heyne veröffentlichen. Wo Varley in den 70er-Jahren führend wirkte, wirkt seine an Heinlein angelehnte Ideenwelt heute altbacken. Er lebt mit seiner Familie in Eugene, Oregon.

Hintergrund

Alien-Invasoren haben die Menschen vor 560 Jahren von der Erde vertrieben, um die letzten Walarten vor der Ausrottung zu bewahren. In fünf Jahrhunderten haben sich die auf Luna, Mars, den Asteroiden und den Saturnringen angesiedelten Menschen an das Leben in unterirdischen Tunneln und Kuppeln gewöhnt. Dank einer aus dem Sternbild Ophiuchus (Schlangenträger) empfangenen permanenten Funkverbindung verfügen sie über fortschrittliche Kenntnisse, wie man es sich im unwirtlichen Sonnensystem bequem macht.

Zu diesen Technologien gehört die Verjüngung, das Klonen, der Bewusstseinstransfer, das Ersetzen von Gliedmaßen und natürlich auch das Ändern des Geschlechts. Auf den Saturnringen leben zudem Menschen mit Symbionten zusammen, die sich in ihren Körper und ihr Gehirn eingefügt haben. So können sie selbst in unwirtlichsten Umgebungen fast ohne Nahrung und Komfort überleben.

Doch die Sehnsucht nach der alten Heimat, der Erde, stirbt nicht aus …

Handlung

Lilo Alexander-Calypso, ca. 50, hat ein schreckliches Verbrechen begangen: Die Wissenschaftlerin hat genetisches Material gemäß Informationen der Ophiuchianer verändert und versteckt: ihren eigenen Klon. Dafür soll sie mit ihrem Leben bezahlen. Doch nach sechs Monaten in der Todeszelle taucht nicht etwa der Henker auf, sondern der Präsident der Erdpartei, der reiche Politiker und ehemalige Präsident Bruce Tweed. Er will ihre Kooperation für ihr Leben. Sie sagt nein, denn an der Selbstbestimmung liegt ihr einiges.

Zwei von Tweeds geklonten Wärtern bringen ein nacktes, tropfnasses Mädchen herein, das exakt so aussieht wie Lilo. Wer wird die Zelle wohl wieder lebend verlassen – das Original oder der Klon? Lilo gibt klein bei und der Klon wird in ein Singularitätskraftwerk geworfen. Damit keiner der Computer merkt, dass das Original entkommen ist, muss Lilo ein kurze Strecke nackt durchs Vakuum des Weltraums schwimmen, um ein Raumtaxi zu erreichen. Dort wird ihr der linke Unterarm amputiert und durch eine registrierte Prothese ersetzt. Tweed hat an alles gedacht.

Als sie ihn endlich erreicht, empfängt er sie in einem tropischen Gewächshaus samt Zootieren, um ihr eine entscheidende Frage zu stellen: Wo befindet sich der Ring mit dem Material für ihren eigenen Klon? Nach einigem Hin und Her enthüllt sie: bei ihrer Partnerin, der Saturn-Symbiontin Parametra/Solstice. Danach lässt er von ihr eine Aufzeichnung anfertigen und das Original „entsorgen“.

Weil Lilo nun weiß, dass sie bei Ungehorsam jederzeit ersetzt werden kann, muss sie spuren. Bewacht von Wärtern namens Vaffa durchläuft sie eine Agentenausbildung in den vielen Disneylands, die die Lunarier mittlerweile unter der Mondoberfläche erbaut haben. So soll sie, neben 20 anderen Agenten, erdähnliche Verhältnisse kennenlernen.

Doch ihre nächste Reise führt nicht etwa zur alten Erde, sondern zum Jupiter. Dort unterhält Tweed eine geheime Station, wo weitere Klone Fronarbeit leisten müssen, beaufsichtigt von Vaffas. Ein Entkommen scheint zwecklos, also versucht Lilo sich einzuleben. Sie tut sich mit dem Lehrer Cathay zusammen, der aber schon eine Freundin hat. Es kommt zu einer Dreiecksbeziehung. Und mit den Kenntnissen der anderen kommt Lilo auf einen verwegenen Plan, um der Poseidon-Station zu entkommen.

Die Hauptrolle spielt dabei Tweeds neuester Plan, der vorsieht, ein kleines Schwarzes Loch durch den Jupiter zu schießen. Denn in dieser verbotenen Zone leben die Invasoren. Es ist also eine Art Probeschuss. Als Vehikel dienen ein Raumschlepper und ein Gleiter – willkommene Gefährte, die, richtig eingesetzt, als Fluchtfahrzeuge dienen könnte. Zunächst scheint alles wie vorgesehen zu klappen, als Lilo den ersten Vaffa entsorgen kann, doch dann entwickeln die Ereignisse eine eigene Dynamik …

Mein Eindruck

Der Debütroman John Varleys liest sich, als hätte er hier alle jene Ideen hineingepackt, die er zuvor so erfolgreich schon in seinen Erzählungen an die amerikanischen SF-Magazine verkauft hatte. Wie ich schon in meinen Berichten zu den drei deutschen Kurzgeschichtensammlungen Varleys („Voraussichten“, „Mehr Voraussichten“ und „Noch mehr Voraussichten“) geschrieben habe, ist er ganz klar ein Jünger von Robert Heinleins Ingenieurglauben, dass Technik uns retten wird. Das mag schon sein, doch es gibt für den Sieg der Technik stets auch einen Preis zu entrichten.

Die x-fach vervielfachte Heldin

Das erkennt keine härter als Lilo, die vervielfachte Heldin dieser Geschichte. Es wäre sinnlos, alle ihre Inkarnationen und Kopien zu zählen, aber der Leser kommt nicht umhin zu bemerken, dass alle Lilos unter dem Druck der Auslöschung leben. Als jederzeit ersetzbarer Klon ist sie ihrem Boss Tweed auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wie es scheint. Ihre Rettung besteht jedoch in Teamarbeit (auf Poseidon) und auf der beharrlichen Überredung eines Vaffas, eines Killersöldners. Ihre Stärke liegt nicht der Anwendung von Technik, sondern von geistigen Fähigkeiten. Man könnte sie für eine zweite Podkayne halten. Ihr gelingt es, sich von Tweeds Herrschaft zu befreien – mittels Informationen.

Die Rolle der Technik

Ist dies also die Überwindung von Heinleins Glauben? Der Maestro schrieb ja selbst mit „Freitag“ die Geschichte einer Agentin, die einer Behörde dient. Nein, wenn es um Technologie geht, dann spielt sie bei Varley die Rolle des Hilfsmittels und Wunders. Hilfsmittel insofern, als man mit einem „Null-Anzug“ überallhin kann, wo es nach 48 Stunden noch Sauerstoff gibt. Auch Schwarze Löcher sind Hilfsmittel, nämlich für unerschöpfliche Energie – man muss sie bloß zu bändigen wissen.

Die Wunder liegen diesmal auf der Seite der unsichtbaren Invasoren, die die Erde von den Menschen „befreit“ haben. Obwohl sie nie körperlich auftreten, vollbringen sie wahre Mirakel, über die sich der Leser die Haare rauft. An der Stelle, an der ich meine Inhaltsangabe abgebrochen habe, greifen die Invasoren ein und verdoppeln Lilo auf rätselhafte Weise: Eine Kopie wird gerettet, doch eine Zweite fällt im Nullanzug auf die Oberfläche des Jupiter (auf der bekanntlich ein immens hoher Druck herrscht) – nur um sich dann urplötzlich auf einer verwüsteten Erde wiederzufinden, die tausend Jahre in der Zukunft liegt.

Moment mal, fragt sich der Leser, was soll dieser Scherz. Keine Angst, auch diese Lilo-Ausgabe ist nur vorübergehend aus dem Spiel genommen worden. Am Schluss taucht sie auf ebenso spektakuläre wird wundersame Weise wieder auf: mit einem Wunderwerk neuer Technik in der Hand, einem Sternenantrieb. Manchmal, so habe ich den Eindruck, macht es sich Varley ein wenig zu einfach.

Die Telefonrechnung

So auch die Sache mit den zweiten Aliens, den Ophiuchianern. Diese haben Jahrhunderte lang Informationen gesendet und kein Schwein hat danach gefragt, ob sie etwas dafür haben wollen. Nun präsentieren sie die Telefonrechnung. Tweed schickt eine Vaffa mit einer Lilo zum Pluto (wo alle nackert und angemalt rumlaufen), um dort ein Schiff zu chartern, dass den Ursprung des Sendestrahls suchen soll. Die einzige Kapitänin, die ihnen diesen Wunsch erfüllen kann, ist Javelin (wörtlich: Wurfspeer), eine der aufregendsten Figuren dieses Buches, fast schon eine Piratin.

Die Ophiuchianer sind gar nicht so weit weg: bloß ein halbes Lichtjahr. Und sie sind auch gar keine schleimigen Monster oder bösen Jungs, sondern treten in menschlicher Verkleidung als Händler auf. Da sie über fortschrittlichere Technik verfügen, behandeln Javelin und Lilo sie jedoch mit Respekt. Die Rechnung, bitteschön: Die Händler verlangen einfach nur – die menschliche Kultur. Sie sammeln so was. Und außerdem sind sie heimatlos und mögen alles, was neu ist. Merkwürdig nur, dass ihnen das erst nach 400 Jahren auf- und einfällt.

Der Rauswurf

Lilo hat kein Problem damit, wenn sich die „Händler“ mal auf Luna oder den sieben anderen Welten der Menschheit umsehen. Da kommt es zu einem unerwarteten Zwischenfall, an dem die andere Lilo (auf der Erde) schuld ist. Die anderen Aliens, also die Invasoren, verweisen die Menschen des Sonnensystems. Deshalb geben sie einer Lilo ja den Sternantrieb. Raus hier, aber dalli!

So eine Schmach hätte sich Heinlein niemals für die Menschheit einfallen lassen! Man merkt also doch, dass nach den glorreichen Jahren des Meisters, den vierziger und fünfziger Jahren, einige Zeit vergangen ist. Die Amis haben den Vietnamkrieg verloren – den ersten Krieg überhaupt. Dieses Trauma zeigt auch in der SF seine Wirkung.

Die Übersetzung

Obwohl hier offenbar sorgfältig lektoriert wurde, sind immerhin sechs Fehler auf den 250 Seiten zu finden. Die ersten beiden stachen mir gleich auf der ersten Seite ins Auge, obwohl er unauffällig ist.

„Der Staat beschuldigt Lilo Alexander-Calypso [,] in der Zeit vom 1. 3. 556 [neuer Zeitrechnung] bis 12. 18. 567 willentlich und wissentlich Experimente mit menschlicher Erbsubstanz durchgeführt zu haben.“

Statt der amerikanischen Notierung „12.18.567“, in der der Monat vor den Tag gestellt wird, müsste es also in deutscher Notierung „18.12.567“ lauten. Und ich wette, dass deshalb auch „1.3.556“ eigentlich „3.1.556“ heißen müsste.

Das fehlende Komma kann man hingegen verschmerzen. Die Kommafehler tauchen vielfach im Text auf, werden aber von mir nicht einzeln aufgelistet. Das würde zu weit führen.

Auf Seite 12 wird der historische Ort „Tammany Hall“ unerläutert erwähnt. Jedes Kind in den USA dürfte (oder sollte zumindest) wissen, dass dieses Gebäude in New York City die Geschäftsstelle der Demokratischen Partei war. Die Wikipedia weiß zudem: „Tammany Hall war eine politische Organisation in New York, die 1786 als Tammany Society gegründet wurde. Sie war die Organisation der Demokratischen Partei in New York City und kontrollierte über Jahrzehnte hinweg die Politik in New York City.“ In Varleys Buch heißt die Residenz des Präsidenten der Menschheit auf Luna „Tammany Hall“.

Auf Seite 26 heißt es „Irgendwo unter dem Apenninen“. Entweder müsste es „unter DEN Apenninen“ (auf dem Mond) heißen oder „unter DEM Apennin“.

Die Übersetzerin macht es dem Leser manchmal nicht leicht, Erzählertext von wörtlicher Rede zu unterscheiden. Dazu dient gewöhnlich das Anführungszeichen. Nicht so auf Seite 102: „»Die Ereignisse überschlugen sich nun. Hinter Lilo blitzte etwas auf …“ Hier ist das frz. Anführungszeichen [»] irreführend.

Auf Seite 161 wird aus der allgegenwärtigen Vaffa eine „Faffa“.

Auch die Tücken der Syntax können sich als Stolpersteine erweisen wie etwa auf Seite 246: „Wenn man gelernt hat, damit [dem Sternenantrieb] umzugehen, und das ist ziemlich schnell der Fall, man kann in kürzester Zeit sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen.“ Nach dem Einschub „und das ist ziemlich schnell der Fall“ müsste der durch ein „wenn“ eingeleitete Konditionalsatz so weitergehen: „kann man“ statt „man kann“.

Die Illustrationen

Der Zeichenstil Mark van Oppens ist unverkennbar. Mit einfachen Strichen schält er die Konturen einer Szene, eines Gesichts, einer Landschaft heraus, als zeichne er einen Comic. Nur dass Ernsthaftigkeit der Gesichter und Motive nie humorvoll wie ein Comic aussieht. Bevorzugtes Motiv sind hingegen unbekleidete junge Damen, wie sie wohl die vervielfältige Lilo gerne verkörpert. (In der Geschichte wird ja auch häufig kopuliert und alle laufen die meiste Zeit unbekleidet herum.)

Unterm Strich

Am Anfang dachte ich noch, ich würde eine Fortsetzung von Varleys Erzählungen lesen, aber die Story wurde zusehends zu verzweigt für eine Kurzgeschichte, denn sie spielt auf mehreren Welten. Ich fragte mich, ob der Autor das im Griff behalten würde, und siehe da, er hatte seine liebe Not damit. Plötzlich verdoppelte sich eine Lilo (die vom Jupiter), während eine andere (die vom Saturn) irgendwie in der Versenkung verschwand. Oder hab ich da etwas durcheinandergebracht? Es empfiehlt sich also, am Ball zu bleiben und nicht einfach mal vier Wochen Pause einzulegen wie ich.

Schon bei „Der Satellit“ und „Der Magier“ drängte sich mir der Verdacht auf, dass Varley ein Hype sei. Er wurde hochgejubelt, weil er angeblich ungewöhnliche Ideen hatte. In „Ophiuchi“ bestätigte sich mein Verdacht erneut. Der Roman ist längst nicht so verblüffend und mitreißend wie seine Erzählungen und entfaltet keine eigene Stimmung – es sei denn, sie wäre in den späten Siebzigern noch irgendwie als anstößig empfunden worden. Dann war die Stimmung wohl eine schwülstig-lüsterne.

„Stahl-Paradies“ ist um Längen besser als „Ophiuchi“ und „Satellit“. Zum Glück hat Varley weiterhin klasse Storys geschrieben, so etwa „Der Pusher“ und „Press ENTER“, die in keiner Best-of-SF-Anthologie fehlen dürfen. Ein Sammler kann sich „Ophiuchi“ mal zwischendurch antun, andere brauchen ihm keinen zweiten Blick zu gönnen.

Taschenbuch: 255 Seiten
Originaltitel: The Ophiuchi Hotline (1977)
Aus dem US-Englischen von Rose Aichele
ISBN-13: 978-3453307810
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