Varley, John – Noch mehr Voraussichten

_Sex auf dem Mars und andere Vergnügungen_

Dieser dritte Band mit John Varleys SF-Erzählungen aus den siebziger Jahren enthält folgende Geschichten:

1) Der Nachbarplanet Mars sorgt für böse und schöne Überraschungen, als die Kolonisten eintreffen.

2) In „Rückläufiger Sommer“ kann man in Quecksilber baden. Aber nur auf dem Planeten Merkur.

3) Im „Phantom von Kansas“ werden von einem Künstler Gewitterstürme komponiert. Ein Detektiv ermittelt in einem damit verbundenen Mordfall.

_Der Autor_

John Varley, geboren 1947 in Austin, Texas, ist dem deutschen Leser vor allem durch seine Storybände (bei Goldmann) und seine „Gäa“-Trilogie (bei Heyne) ein Begriff. Eine seiner besten Stories, „Press ENTER“, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 1992 erschien der Roman „Steel Beach“ und landete in der Folge auf den vordersten Plätzen, als es um die Vergabe der Science-Fiction-Preise ging.

Mittlerweile konnte Varley seine Roter-Donner-Trilogie bei Heyne veröffentlichen. Wo Varley in den 70er-Jahren führend wirkte, wirkt seine an Heinlein angelehnte Ideenwelt heute altbacken. Er lebt mit seiner Familie in Eugene, Oregon.

_Die Erzählungen _

_1) Im Audienzsaal der Marskönige (In the Hall of the Martian Kings, 1976, HUGO Award)_

Die Marsoberfläche. Nach einer Explosion des Kuppelzeltes, die durch die nachfolgende Dekrompression drei Viertel des Expeditionskorps tötet, sehen sich die fünf Überlebenden harten Entscheidungen gegenüber. Sie können nicht mehr zum Mutterschiff „Edgar Rice Burroughs“ hinauffliegen, denn Pilot und Kopilotin ihrer Landefähre „Podkayne“ sind tot. Aber sie haben Vorräte für mindestens ein Jahr, bei Rationierung sogar für eineinhalb Jahre, mit Abwürfen der „Burroughs“ sogar noch länger. Sie sind jetzt eine autarke Kolonie.

Die kritischen Faktoren sind jedoch Wasser und Atemluft. Wasser lässt sich aus der Atemluft zwischen Plastikbahnen kondensieren und sammeln. Doch um Atemluft zu produzieren, benötigen sie Pflanzen, welche sie nicht haben. Matthew Crawford, der Historiker, sieht schwarz. Doch seine Gefährten, allen voran die Kommandantin Mary Lang, eine Afroamerikanerin, werfen die Flinte nicht ins Korn, sondern werden von der einheimischen Fauna überrascht. Aus den nährstoffreichen Gräbern der Getöteten erheben sich interessante Gebilde, die wie Windmühlen aussehen: Kreisler. Sie scheinen Wasser zu pumpen. Später gibt es ein Gewächs, das weiße Trauben bildet. Die Beeren“ enthalten Sauerstoff. Nun haben sie wieder Atemluft, und das Überleben ist gesichert.

Aber für eine Kolonie braucht man auch Paare und Kinder. Diese stellen sich sofort ein, sobald die „Burroughs“, die nichts mehr zu tun hat, wieder zur Erde gestartet ist. Alle ziehen sich nackt aus und treiben es miteinander, bis sich ein Gefühl des Kennens und Vertrauens einstellt. Nach dem Abflauen der Rivalitätskämpfe zwischen den drei Frauen und den zwei Männern stellt sich ein Gleichgewicht her, und es dauert nur acht Monate, bis Lucy McKillian feststellt, dass sie schwanger ist. Aber in welcher Welt wird ihr Baby aufwachsen?

Der Forschungsexpedition, die fast neun Jahre später eintrifft und eigentlich erwartet, nur noch Leichen vorzufinden, steht eine faustdicke Überraschung bevor …

|Mein Eindruck|

Es sind solche Erzählungen in der alten, zuversichtlichen Heinlein-Manier, die die amerikanische Science-Fiction wieder so attraktiv machten, nachdem sie durch das tiefe Tal der sechziger und frühen siebziger Jahre ging. Dass John Varley ein Heinlein-Jünger ist wie Niven, Pournelle und Spider Robinson, belegt schon der Umstand, dass die Landefähre Podkayne“ nach der Heldin von Heinleins Jugendroman Podkayne of Mars“ benannt ist. Und die Edgar Rice Burroughs“ beschwört die uralte Marsromantik, die der Schöpfer von Tarzan“ in den Jahren 1912 bis 1943 durch seine vielen Marsromane auslöste.

Anders als bei skeptischen Europäern vom Schlage eines Stanislaw Lem („Der Unbesiegbare“) zeigen sich die Amis auf dem Mars als Pioniere mit Tatkraft und Zuversicht. Als die einheimischen Lebensformen aus dem Boden (und dem 20 Meter darunterliegenden Wassereis) sprießen, erweisen diese sich als an die Menschen angepasst. Gerade so, als wären die Menschen erwartet worden. Wer weiß: Vielleicht haben die Wesen, die diese Sporen zurückließen, einst die Erde während der Steinzeit besucht und wollten die Besucher belohnen.

Hier zeigt sich eine amerikanische Denkweise: Gott (oder Schicksal, Natur usw.) hat vorherbestimmt, dass der Mensch, der sich bemüht, auch belohnt wird, aber nach Gottes eigenem verborgenen Plan. Und der kann ja nun auch Marsbewohner vorsehen. Der grandiose Titel In the hall of the „Martian kings“ wandelt einen Titel aus Edvard Griegs Peer-Gynt-Sinfonie ab, nämlich „In the Hall of the Mountain King“. Aber wo sind sie, die Marskönige? Kommen sie noch – oder sind sie mit den Pionieren bereits gekommen?

_2) Rückläufiger Sommer (Retrograde Summer, 1974)_

Auf dem sonnennächsten Planeten Merkur ist es bekanntlich heiß. Aber die riesige Sternenmasse gleich in der Nachbarschaft sorgt auch für jede Menge Erdbeben, die die Steinkugel mitsamt ihrer menschlichen Bewohner durchrütteln. Am Raumhafen holt der 17-jährige Timothy seine drei Jahre ältere Klon-Schwester Jubilant vom Flieger ab. Weil sie auf dem Erdmond aufgewachsen ist, ist sie wie alle Lunarier nur schwache Schwerkraft gewöhnt und hoch aufgeschossen.

Er verpasst ihr als ersten Schritt der Anpassung eine künstliche Lunge, deren Apparat auch gleich das Kraftfeld erzeugt, das einen Merkurbewohner vor der Hitze schützt. Gesprochen wird nicht mit dem Mund, sondern mit einem Kehlkopfmikrofon. Er bringt sie zu seiner Mutter Dorothy, die wie alle Merkurier, die noch bei Verstand sind, wegen der Erdbeben auf einem Hügel wohnt – man will ja nicht in einem Tal verschüttet werden, oder?

Bei Tisch merkt Tim schnell, dass die beiden Frauen ein Geheimnis hüten. Es muss mit dem Grund zusammenhängen, warum Dorothy den Mond verließ und dabei Jubilant – ihre Tochter? – zurückließ. Nun kann man ja in der heutigen Zeit das Geschlecht wechseln wie andere Leute das Hemd, und so etwas wie „Kernfamilie“ ist ein vergessener Begriff aus der Antike der Alten Erde. Dennoch wurmt Tim diese offene Frage.

Zum Zeitvertreib zeigt er ihr die Quecksilberteiche in der Nähe. Sie liegen in einer schattigen Schlucht, wo das ionisierte Quecksilber in Teichen und Grotten von selbst leuchtet. Ein sehr schöner Ort, den man am besten ohne Kleidung genießt, denn wie sollte man sonst im Teich baden? Da die meisten Merkurier eh nur mit ihrem Kraftfeld bekleidet sind, planschen Tim und Ju in einem Grottenteich. Ein schöner Moment, in dem sie einander näher kommen.

Doch ein erneutes Erdbeben lässt die Höhle einstürzen, und sie werden verschüttet. Kein Grund zur Panik! Man wird sie bald rausholen, beruhigt Tim seine Schwester. Die beginnt während des Wartens, endlich das Geheimnis ihrer Familie zu lüften. Würde er nicht gerade kuschelnd neben ihr liegen, würde ihn ihre Geschichte von den Füßen hauen …

|Mein Eindruck|

Varley, der durchtriebene Schlingel, spielt auch diesmal mit Erotik – verbotener Erotik, denn Tim und Ju sind so etwas wie Brüderlein und Schwesterlein, und das ist ja bekanntlich tabu. Begleitet vom Merkurphänomen des „rückläufigen Sommers“ – eine exzentrische Umlaufbahn macht’s möglich – weiht uns die Geschichte in die dazu analoge Welt der Familienbeziehungen der fernen Zukunft ein.

Das heute so verbreitete und für selbstverständlich gehaltene Konzept der „Kernfamilie“ aus Mami, Daddy und den Kids wird nur noch in winzigen Sekten praktiziert. Die spezielle Kirche, aus der Tims und Jus Eltern stammen, nannte sich „Die Urprinzipien“, was schon mal auf ihre Altertümlichkeit hinweist. In einer Epoche des willkürlichen Geschlechtswandels und des Klonens ist so etwas wie „Familie“ ein höchst relativer Begriff. Folglich ist auch Tims Herkunft eine reichlich verschlungene Angelegenheit. Mehr darf nicht verraten werden.

_3) Das Phantom von Kansas (The Phantom of Kansas, 1976)_

In einigen Jahrhunderten wird das Gedächtnis eines Menschen komplett aufgezeichnet werden können. Die Archimedes Treuhandgesellschaft auf Luna erledigt das und hütet die Erinnerungen ihrer betuchten Kunden in einem gesicherten Tresor, genau wie eine Bank. Bis dann in den Tresor eingebrochen wird. Die Einbrecher sind offenbar nicht an den Wertpapieren interessiert gewesen, sondern an den Speicherzellen: Sie löschten sie allesamt. Das lief auf Mord hinaus.

Eine der Kundinnen bei der ATG ist Miss Fuchs, eine Environment-Künstlerin, die in den Disneylands auf dem Mond Wetter-Symphonien designt und aufführt. Nachdem das Gericht die ATG dazu verdonnert hat, Fuchs neu zu registrieren, begibt sich die junge Frau zum Arzt und lässt ihr Gedächtnis aufzeichnen. Als sie wieder erwacht und ihre Desorientierung überwindet, blickt sie in besorgte Gesichter ringsum, unter ihnen ihre Mutter Carnival. Bei einem Besuch des Präsidenten der ATG, Mr. Leander, erfährt Fuchs, dass sie selbst allen Grund hat, sich Sorgen zu machen: Sie wurde bereits dreimal ermordet. Die drei Vorgängerinnen wurden binnen zweieinhalb Jahren Opfer eines Unbekannten. Doch wessen Zorn kann sie, Fuchs, auf sich gezogen haben? Den eines Konkurrenten? Eines Fans, eines Irren?

Fuchs lässt sich schleunigst wieder aufzeichnen, denn sie beurteilt ihre Zukunftsaussichten als recht bescheiden und will ihrer Nachfolgerin eine Chance geben, erstens zu überleben und zweitens sie zu rächen. Aber was kann sie selbst unternehmen? Inspektorin Isadora rät ihr, zu Hause zu bleiben statt wie ihre Vorgängerin (Nr. 3) zu den Planeten zu fliegen. Der Irre, der sie verfolgt, hat sie dort offenbar erwischt. Fuchs ist einverstanden.

Dann fragt sie den Zentralcomputer von Luna, ob er ihr helfen kann. Von den 210.000 Menschen, die auf Luna leben, kommen über 93% als Täter in Frage. Doch es gibt es eine Dunkelziffer von sogenannten Gespenstern“ oder Phantomen“, die nicht legal auf dem Mond leben, widerrechtlich hier geboren oder geklont wurden. Der ZC verfolgt und terminiert sie; das ist sein Job. Dies Aussichten sind gut, findet Isadora, dass Fuchs als Köder bei einer ihrer Aufführungen den Täter in eine Falle locken könnte.

Über sechs Mondmonate oder „Lunationen“ vergehen, in denen Fuchs in aller Ruhe ihr neues Kunstwerk entwickeln und dessen Aufführung im Kansas-Disneyland vorbereiten kann. Tornados und eine donnernde Büffelherde spielen dabei eine tragende Rolle. Es wird die Zuschauer umhauen! Jetzt muss Fuchs die Aufführung bloß noch überleben …

|Mein Eindruck|

John Varley kombiniert Einfallsreichtum mit komplexen Weltentwürfen und detailliert gezeichneten Figuren, für die man sich wirklich interessiert. Fuchs, die Wetterkünstlerin, ist solch ein Charakter. Sie ist keine von uns und deshalb ein Rätsel. Das macht neugierig und wartet mit einigen Überraschungen auf, die sich auf den Handlungsverlauf auswirken.

Ihr Schicksal ist unauflöslich mit der Gesellschaft verknüpft, in der sie lebt und sich verändert. Auch diese Gesellschaft ist nicht unsere, obwohl uns ein paar Elemente bereits bekannt vorkommen. Dazu gehören die Disneylands, wenn auch unsere längst nicht 250 km im Durchmesser messen – aber auf dem Mond ist in den großen Kratern viel Platz.

Der zweite bekannte Faktor ist der Zentralcomputer, eine Künstliche Intelligenz (KI). Und wer Heinleins klassischen SF-Roman „Der Mond ist eine herbe Geliebte“ gelesen hat, weiß, welch entscheidende Rolle ein Zentralcomputer für ein Gemeinwesen spielen kann. Bei Heinlein heißt die KI Mycroft, nach Sherlock Holmes‘ Bruder. Varleys ZC hat keinen Namen, aber das macht ihn umso sympathischer. Er entwickelt sich zu einem echten Freund von Fuchs.

1992 benutzte Varley diesen Schauplatz mit sämtlichen Zutaten erneut in seinem fulminanten Detektivroman Stahlparadies / Steel Beach“, der deutsch bei Bastei-Lübbe erschien. Darin wird Fuchs‘ Nachfolgerin zu einem Ebenbild von Heinleins Superagentin Freitag. Aber wir sollten ihr ebenso wenig wie Fuchs vertrauen, wenn sie sagt, sie sei eine Frau …

_Unterm Strich_

Unsere Reise durch das Sonnensystem hat nun ihr Ende erreicht, bitte alle aussteigen! Von der Alten Erde über den Mond hinaus zu Mars, Venus und Merkur sind wir geflogen, ja, sogar zu den Saturnringen und noch weiter. Überall haben wir Menschen gefunden, allerdings reichlich veränderte Menschen. Sie speichern ihren Gehirninhalt – vulgo „Geist“ genannt – und wechseln ihre Körper und deren Geschlecht wie andere Leute ihr Hemd. Das macht sie so anpassungsfähig. Keine noch so menschenfeindliche Umgebung schreckt sie, nicht einmal der sonnennahe Merkur mit seiner Bratofenhitze und den ständigen Erdbeben.

Doch die Liebe in all ihren vielfältigen Formen hat ihre Anziehungskraft bewahrt. Klone lieben einander ebenso wie virtuelle Geister in Computern, und dabei wird dem Leser so manches zugemutet – nämlich dass er oder sie althergebrachte Moralvorstellungen über Bord wirft und sich flexibel zeigt, wenn es um Beziehungen zwischen relativen Begriffen wie Bruder, Schwester, Vater, Tochter, Mutter, Sohn und so weiter geht.

Sobald man dies einmal geschafft hat, öffnen sich neue Horizonte des Zusammenlebens und des gemeinschaftlichen Glücks, auch und gerade auf den neuen Welten, die es zu erkunden gilt. Dieses Versprechen gab seinerzeit bereits Robert A. Heinlein ab, und Varley ist in den großen Fußstapfen des Altmeisters unterwegs – glücklicherweise ohne dessen selbstgefälliger Geschwätzigkeit. Varley Geschichten, die in den drei „Voraussichten“-Bänden veröffentlicht wurden, finden sich in zahlreichen Anthologien, etwa bei Heyne, wieder. Sie sind stets ein Highlight, was abenteuerliche Ideen und gute Unterhaltung angeht.

|Taschenbuch: 157 Seiten
Originaltitel: The Persistence of Vision, Teil 3 (1978)
Aus dem US-Englischen von Tony Westermayr, Birgit Reß-Bohusch und Rose Aichele
ISBN-13: 978-3442233830|
[www.randomhouse.de/goldmann]http://www.randomhouse.de/goldmann

_John Varley bei |Buchwurm.info|:_
[„Der Satellit“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2392
[„Die Cinderella-Maschine“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3669
[„Mehr Voraussichten“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7453

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