Diane Cook – Die neue Wildnis. Zukunftsroman

Amerika in der nahen Zukunft: Zusammengepfercht in riesigen Megacities leiden die Menschen unter den Folgen der Überbevölkerung und des Klimawandels wie Smog, Dürreperioden und extreme Hitze. Aus Sorge um das Leben ihrer fünfjährigen Tochter Agnes nimmt die junge Mutter Bea an einem nie dagewesenen Regierungsexperiment teil: Gemeinsam mit zwanzig anderen Pionieren möchte sie in einem der staatlich geschützten Nationalparks, zu denen Menschen eigentlich keinen Zugang haben, im Einklang mit der Natur leben. Doch der Alltag in dieser neuen Wildnis wartet mit ganz eigenen Herausforderungen auf, und schon bald stoßen die Pioniere an ihre Grenzen … (Verlagsinfo)

Die Autorin

Diane Cook lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. Sie war Produzentin der Radiosendung »This American Life« und wurde 2016 mit einem Stipendium des National Endowment for the Arts ausgezeichnet. Ihr Debütroman »Die neue Wildnis« war ein großer Erfolg und wurde 2020 für den Booker Prize nominiert. (Verlagsinfo)

Handlung

Die Ballade von Beatrice

Die Journalistin Bea, ihre kranke fünfjährige Tochter Agnes und ihr Mann Glen, ein Ingenieur, brechen mit den anderen siebzehn auf, um in dem neuen Wildnis-Staat eine bessere, vor allem gesündere Umwelt zu finden. Agnes ist in der großen Stadt krankgeworden, von der schlechten Luft, dem minderwertigen Essen, dem gechlorten Wasser und vielem mehr. Nur die Wildnis kann sie am Leben erhalten, ist Glen überzeugt. Schon nach wenigen Wochen ist Bea wieder schwanger, doch sie wird das Baby nicht lange behalten können. Denn die Wildnis ist ganz anders als sie erwartet hat: voller Strapazen und unsichtbarer Gefahren.

Am Anfang waren sie zwanzig, nach wenigen Jahren sind sie nur noch zehn plus vier Kinder. Doch der Tribut, den sie an das Leben in der Wildnis entrichten müssen, ist hoch. Es ist der Preis des Überlebens. Die ganze Unternehmung sollte eigentlich eine Art Experiment sein und wurde zunächst mit viel Publicity verfolgt. Anders als erwartet, wünschen ihnen die Städter den Tod an den Hals, so als müssten sie für ihre Untreue bestraft werden. Andere Städter schenken ihnen Dinge, so etwa einen gusseisernen Kochtopf, der etwa eine Tonne wiegt.

Überwacht

Auch die Wild- und Parkhüter begleiten das Experiment mit kritischen Augen. Sind diese „Ausreißer“ nicht irgendwie verrückt? Dennoch erheben die Ranger getreulich alle nötigen Biodaten der Kandidaten, nehmen den aufgesammelten und mitgeschleppten Müll in Empfang und sagen den Teilnehmern, wohin sie als nächstes wandern sollen. Am Mittelposten angelangt, berichtet Bea von den elf Überlebenden – plus einem unterwegs geborenen Baby. Ihr jüngst verlorenes Ungeborenes, Madeline, erwähnt sie nicht. Bob, der Ranger, schickt sie zum Unterposten. Der Wildnisstaat ist riesig, und der Unterposten liegt mehrere Tagesreisen zu Fuß entfernt. Um ihn zu erreichen, müssen sie drei Gebirgszüge überqueren.

Verluste

Als erster starb Tim: Er erfror beim ersten Frost, weil er sich unzureichend zugedeckt hatte. Becky fiel einem Puma zum Opfer. Dan geriet unter einen Felsrutsch, sie mussten ihn zurücklassen. Als letzte erwischte es Caroline, die sich eigentlich mit Flüssen auskennen sollte: Sie starb durch einen treibenden Baumstamm in einem reißenden Fluss, der sie fortriss. Dabei verlor die Gruppe ihr einziges Seil. Bob, der Ranger, gibt Bea keinen Ersatz. Wäre gegen die Vorschriften. Er gibt ihr zwei Lollis. Sie verlieren Jane im Canyon und mit ihr das beste Messer, dann auch Sam.

Die Salzpfanne

Etwa eine Woche später erreicht die Gruppe eine Playa, eine weiße, ausgetrocknete Ebene, die wohl früher, vor dem Klimawandel, mal ein See gewesen sein muss. Überall sind Salz und Staub, und es gibt nur eine winzige Quelle. Beas Tochter Agnes weiß aber, wie man hier überlebt: Man achtet auf die Tiere und macht es wie sie. Was die Tiere nicht fressen, das sollte man meiden, und was sie fressen, das kann man unbesorgt essen oder trinken. Bea ist verblüfft über die Weisheit ihrer Tochter. Agnes macht auch alles haargenau nach, was ihre Mutter macht. Da muss Bea aufpassen. Agnes zeigt, wo gerade ein Schwarm Gänse oder Enten landet: Dort ist Wasser.

Der Sturm

Agnes entdeckt auch den heraufziehenden Sturm. Niemand sonst scheint sich darum zu kümmern, dass sich die Wolken immer höher auftürmen. Als der Wind hervorbricht und das Feuer löscht, eilt Bea durch die Dunkelheit zu ihrer Tochter und schlingt sich wie ein Schutzwall um die Kleine. Wütend peitschen die Böen Staub, Sand und Steinchen über das wehrlose Pärchen, und Bea merkt, wie der Sand sie beide langsam unter sich begräbt…

Der Posten

Die Gruppe hat endlich den vorgegeben Ranger-Posten erreicht, doch die Hütte ist verlassen. Sie können jedoch durchs Fenster deutlich die Stapel von Post erkennen, und die wollen sie jetzt einfach, schließlich haben sie ein Recht darauf. Bea ist erstaunt, dass es ausgerechnet ihr ruhiger Gefährte Glen ist, der die Tür mit brachialer Gewalt einrennt. Doch dann sorgt er dafür, dass die Briefe sortiert und ausgehändigt werden. Während dieses Vorgang schaut sich Bea im hinteren Teil der Hütte um: Sie ist wohnlich eingerichtet, und sie borgt sich eine Decke aus, für ihre Tochter Agnes. Im Spiegel registriert sie die Altersspuren im Gesicht dieser Fremden. Die Müsliriegel aus dem Vorratsschrank lässt sie an alle verteilen.

Flucht

Als auch sie ihre Briefe liest, stammen diese von ihrem Anwalt, der ihr den Termin für die Testamentseröffnung am 13. März mitteilt und ihre Anwesenheit erbittet. Der andere Brief ist von ihrer Mutter. Ihre letzte Begegnung endete im Streit, damals ging Bea grußlos zu Glen, nahm Agnes mit und ging in die Wildnis. Dabei wollten sie beide doch bloß das Beste für das Mädchen. Nun ist ihre Mutter an Krebs gestorben. Als ein Tankwagen eintrifft, rastet Bea komplett aus und läuft zu dem Fahrer, damit er sie mitnehme, und zwar SOFORT. Der Mann wollte eigentlich nur eine Nachricht der Ranger-Verwaltung überbringen, aber diese ungewaschene, stinkende Frau jagt ihm Angst ein. Er rast los, und Glen und Agnes bleiben bestürzt zurück. Wohin will Bea bloß?

Das Buch Agnes

Die inzwischen elfjährige Agnes wird die neue Anführerin der Sippe, zumindest was das Kundschaften und Jagen anbelangt. Die Entscheidungen trifft zunehmend Carl, sekundiert von Valerie, aber widersprochen von Debra. Eines Tages treffen sie auf eine neue Gruppe, deren Sprecher Frank ist, ein erwachsener Mann. Diese Leute sind völlig unerfahren und wollen von den Alteingesessenen, die sich nun „Originalisten“ nennen, lernen. Agnes freundet sich mit dem Teenager Jake an, der auch keine Ahnung vom Leben in der Wildnis hat.

Als sich die beiden Gruppen zusammentun, kommt es zu einer Auseinandersetzung über das Konsensprinzip. Frank & Co. sind dagegen, weil ihn das Erreichen eines Konsensus, der die ganze Gruppe bindet, als zu langwierig erscheint. So kommt es, dass kleine Gruppen Erwachsener parallel laufende Entscheidungen finden. Die Gesamtgruppe arbeitet nicht mehr zusammen. Agnes berechnet im Geist, welcher Erwachsene von den Neulingen als erster sterben wird. Sie tippt auf Frank. Als die Gesamtgruppe das Winterquartier in jenem geschützten Tal erreicht, wo Agnes‘ Mutter ihr zweites Baby verlor (s.o.), zeigt sich, wen die Wildnis am Leben lässt und wen nicht.

An diesem Tag, ein Jahr nach ihrem Verschwinden, kehrt Bea zurück, und alles ändert sich…

Mein Eindruck

Die Geschichte, die die Autorin erzählt, tritt den Öko-Romantikern so richtig heftig in den mentalen Hintern. Sie zeigt auf, wie menschenfeindlich echte Wildnis ist: Wer sich nicht anpasst und zusammenarbeitet, kommt darin um. Aber auch die Gesetze, die in Gruppen herrschen, müssen peinlich genau beachtet werden, sonst geht die gruppe als Ganzes unter. Die junge Agnes beobachtet alles ganz genau und sagt insgeheim den nächsten Todesfall voraus.

Aber Agnes hat eines vergessen: Die Welt da draußen ändert sich ebenfalls laufend. Die Wildnis ist kein anderer Planet, sondern letzten Endes ein künstliches Gebilde. Als Beas Gruppe den nächsten Rangern begegnet, stellt sich heraus, dass die alten, recht freundlichen Grenzer durch autoritär auftretende Menschenjäger ersetzt worden sind. Als wären sie indianische Ureinwohner werden Beas Leute eingefangen und eingepfercht.

Allerdings können die Grenzer nicht überall sein. Das gibt ausgebufften Wildlingen wie Agnes die Chance, sich davonzumachen und in die „Freiheit“ zu flüchten. Nur muss sich Agnes zwischen der Freiheit und ihrer Mutter – Glen ist schon längst gestorben – wählen, und das ist härteste Wahl von allen…

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist gut gelungen und entspricht modernem Deutsch. Allerdings unterliefen der Übersetzerin zwei schwere Verwechslungen und etliche Druckfehler.

S. 241: verwechselter Name. „Debra hustete mehrmals schwach in ihre Hand… Agnes überlegte, ob Dolores ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen wollte…“ Also ist nicht Debra gemeint, sondern Dolores. “

S. 258: „Aua, sagte[n] sie simultan.“ Für Simultaneität braucht es zwei – in diesem Fall zwei Mädchen. Das N des Plurals fehlt.

S. 272: „Eine intakte Leiche, bis auf die Rillen im Becken, wo irgendjemand Nahrung gesucht hatte.“ Statt „Rillen“ sind wohl eher Kratzer gemeint und mit „irgendjemand“ ein Raubtier, etwa ein Bär.

S. 337: Schon wieder ein verwechselter Name. „Tja, jetzt treffen Glen und seine Leute die Entscheidungen.“ Aber Glen ist Einzelgänger und liegt krank in einer Höhle. Es muss jemand anderes gemeint sein. Der einzige, auf den diese Beschreibung passt, ist Carl.

Unterm Strich

Ich habe für diesen dicken Schmöker mehrere Monate benötigt. Zunächst lädt das große Schriftbild zum schnellen lesen, doch dann merkt man, dass im Grunde nichts passiert. Die Gruppe des Experiments ist ständig mit sich selbst und ihrer Hierarchie beschäftigt. Sie wird ab und zu mal kontrolliert, aber diese Hilfe ist minimal. Es kommt zu ständigen Verlusten, denn in puncto Bewaffnung ist Fehlanzeige zu verbuchen.

Kommt es mal zu brenzligen Situationen wie etwa der Überquerung eines reißenden Flusses oder dem Angriff eines Berglöwen, so wird diese Szene nicht wie erwartet ausgeschmückt, sondern oberflächlich zusammengefasst oder gleich ganz im Rückblick erwähnt. Von einer emotionalen Beteiligung an Todesfällen sieht die Autorin also ab. Das hat meine Vorfreude auf den Rest des Buches getrübt. Wer hier ein Abenteuergarn à la Karl May sucht, ist auf der falschen Baustelle. Der emotionale Höhepunkt war für mich Glens Sterben und Tod. Ich stelle ihn mir mit dem Gesicht von William Hurt vor, der uns ebenfalls schon verlassen hat.

Ihr Augenmerk ist auf ganz andere Dinge gerichtet: auf die menschlichen Beziehungen, die sich fortwährend ändern, und die Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten, die diese Beziehungen bestimmen. Diese langwierigen Schilderungen von Auseinandersetzungen haben mich angeödet und dazu verleitet, ein paar Thriller einzuschieben. Es waren wohl diese Passagen, die dem Roman eine Nominierung für den Booker Prize eingebracht haben. Das ist eine Auszeichnung für einen Mainstream-Roman, und dementsprechend sollte der Leser seine Erwartungshaltung einstellen.

Den Schluss des Romans hatte ich mir ebenfalls spannender oder wenigstens dramatischer und ergreifender vorgestellt. Stattdessen wirkt die Behandlung der Wildlinge eher ironisch, denn sie entspricht derjenigen, die die Europäer den Ureinwohnern haben zukommen lassen. Folglich werden die Wildlinge in ein Reservat gesteckt: Die Szene ist derart lange angebahnt, dass der Eintritt der Katastrophe weder überraschend noch dramatisch wirkt. Die Autorin hat definitiv etwas gegen Katastrophen und Drama. Alles Weibliche evolviert – auch gut. Aber nicht für mich.

Taschenbuch: 542 Seiten
O-Titel: The new wilderness, 2020;
Aus dem US-Englischen von Astrid Finke.
ISBN-13 9783453321588

www.heyne.de

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