Wolfgang Jeschke (Hrsg.) – Heyne Science Fiction Jahresband 1989

Classic SF: Preiswürdige Erzählungen von Star-AutorInnen

Dieser Jahresband ist eine Fundgrube für SF-Einsteiger und -Fortgeschrittene gleichermaßen. Bekannte Autoren der 1980er Jahre wie George R.R. Martin, Walter Jon Williams und Lucius Shepard sind hier versammelt. Aufstrebende weibliche Autoren wie Karen Joy Fowler, deren Romane mittlerweile verfilmt werden, gaben damals ihr Debüt, und etablierte Autorinnen wie James Tiptree jr. alias Alice Sheldon befanden sich im Endstadium ihrer Karriere.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach VerlagsredaTktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986), die sogar in den USA veröffentlicht wurde. Eine seiner Story-Sammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) Joe Haldeman: Jahreszeiten (Seasons, 1985)

Es ist die zweite Expedition zum Planeten Sanchrist IV. Zwölf Besatzungsmitglieder kommen an, um die intelligenten Plathys zu erforschen, doch nach drei Jahren sind nur noch vier übrig: die Leiterin Maria Rubera, Gabriel, Brenda und Derek. Diese beträchtliche Dezimierung hat verschiedene Gründe, wie Maria in ihren technisch aufgerüsteten Backenzahnrekorder protokolliert: Das Klima ist saukalt, die Temperaturen liegen selten über null Grad. Dennoch tragen die Forscher nur steinzeitliche Kleidung, also keine Unterwäsche. Stilecht essen sie ihre spärliche Nahrung ungekocht, was zu üblen Verdauungsbeschwerden und Virusinfektionen führt.

Und dann sind da noch die Plathys selbst. Die 2,5 m großen Wesen, mit denen Maria spricht, sind eine Mischung aus Raubsaurier und Schimpanse, gesellig, in Sippen organisiert und sprachbegabt. Die Brunftzeit dauert gerade mal sechs Tage, aber währenddessen wird nichts gegessen, die Tragezeit dauert rund 500 Tage à 28 Stunden. Über menschliche Fortpflanzungsorgane und -weisen können Plathys nur lachen.

Die Lage ändert sich drastisch, als ein junger männlicher Plathy Brenda zum Frühstück verspeisen will. Die steinzeitlichen Speere, mit denen er durchbohrt, erweisen sich für seine Gesundheit als fatal. Doch den Vorfall haben zwei zweitere Plathys mitbekommen, die nun ihrerseits Jagd auf die vermeintlichen Mörder machen. Das Quartett der überlebenden Menschen nimmt Reißaus und versucht, das 250 km entfernte Basislager mit der Landefähre zu erreichen…

Mein Eindruck

Ein Trio kann sich zum Waffenlager durchschlagen, doch sie ahnen bereits, dass die Plathys sie im Basislager erwarten werden. Interessant sind die Reaktionen auf das Wissen um den nahen Tod. Gabriel vögelt beispielsweise ausgiebig mit den beiden Frauen, die alles andere als eifersüchtig auf einander sind. Schließlich muss man die letzten Stunden oder Tage des Lebens auskosten. Da spielt die Rolle um Empfängnis oder nicht keine Rolle – man geht eh drauf.

Die Feuergefechte, die sich das finale Trio (Derek hat es erwischt) erst mit der heimischen Tierwelt und dann mit den Plathys liefert, sind nicht von schlechten Eltern – eher was für die Actionfans. Bekanntlich ist der Autor selbst ein Vietnam-Veteran und eingefleischter Pazifist, wie aus seiner Romantrilogie um den „Ewigen Krieg“ (1975/76 ausgezeichnet mit den HUGO, NEBULA und LOCUS Awards) hervorgeht. Der Rückzug der bewaffneten Forscher erinnert daher streckenweise an den Rückzug der US-Truppen aus dem Dschungelkrieg in Südvietnam. Das hat seinen Reiz, wurde aber schon x-mal beschrieben.

Der eigentliche Clou der Novelle ist das titelgebende Konzept der Jahreszeiten. Mit dieser irreführenden deutschen Übersetzung sind nicht bloß die von Maria Rubera identifizierten sechs Jahreszeiten des Planeten, sondern auch die Paarungszeit und – mit fataler Wirkung – auch die Jagdzeit. Offensichtlich steuern Hormone das Verhalten bestimmter Altersgruppen, beispielsweise von jungen Männchen.

Auch die von Maria schockiert beobachtete Tatsache, dass einjährige Weibchen absichtlich getötet werden, sollte ihr zu denken geben. Vielleicht betrachten die Plathys auch Maria und Brenda als tötungswürdig? Da die Forscher auf ihrer hektischen Flucht vor den Verfolger wenig Zeit zum Nachdenken haben, muss der mitdenkende Leser diese Zusammenhänge selbst herstellen. Wenn aber Hormone das Verhalten bestimmen, wie schuldig können dann die Plathys sein? Brenda, die Ärztin, hat jedenfalls – zumindest zu Anfang – schwere Gewissensbisse, einen Plathy zu töten.

Die bittere Pointe liefert der letzte Textteil. Darin empfiehlt ein PR-Direktor, die ganze Plathy-Geschichte als PR und Werbung zu inszenieren. Wir wollen doch keine Kolonisten verschrecken, oder? Zu diesem Zeitpunkt ist von den Plathys kaum noch etwas übrig. Maria und ihr Himmelfahrtskommando haben ganze Arbeit geleistet…

2) Karen Joy Fowler: Ein Mensch mit Seltenheitswert (The Faithful Companion at Forty, 1987)

Es ist sein 40. Geburtstag, und kein Schwein ruft ihn an. Selbst seinen besten Freund muss er selber anrufen, aber der interessiert sich nur für sich selbst. Vielleicht weil Kemo ein Indianer ist? Er stellt sich vor, er wäre Kemo Sabe alias Tonto, der beste Gefährte des Lone Rangers. Er stellt sich eine Szene vor, in der der Lone Ranger wählen müsste, wen er zuerst aus den hässlichen Händen der Wilcox-Brüder befreien müsste – ihn oder Mrs. Cooper?

Kemo hat eine Theorie über die menschentypen, die die Geschichte verändern. Wie jeder weiß, hält man entweder „große Männer“ für Geschichtsveränderer oder geistig bzw. soziopolitische „Wellen“ dafür, was doch sehr nach Marx riecht. Kemo hat einen dritten Menschentyp identifiziert: seinen eigenen. Menschen, die sich mehr um das Wohl anderer als ums eigene sorgen und kümmern. Solche, die man nicht sieht und die kein Schwein anruft.

Mein Eindruck

Das ist mal wieder eine von Fowlers wunderbaren Vignetten, die dem Leser eine richtig harte Nuss zu knacken geben. Eigentlich handelt es sich großenteils um einen inneren Monolog, aber die Szene mit dem Lone Ranger usw. ist so lebendig mit trockenem Humor geschildert, dass man meint, dabei zu sein. Das wirkt wie eine mehrfach gespaltene Persönlichkeit. Die Autorin forscht noch den kleinsten Nuancen nach, die verraten, in welchem Verhältnis zwei Menschen zueinander stehen.

3) Walter Jon Williams: Dinosaurier (Dinosaurs, 1987)

Der irdische Botschafter Drill landet auf dem Planeten der Shar, um Friedensverhandlungen zu führen. Die Shar, mit denen er sich per Übersetzungsgerät verständigt, sind pelzige, dreibeinige Wesen mit großen Augen, spitzer Schnauze und einer komplexen Sozialstruktur. Ihre Präsidentin Gram begrüßt Drill. Der massige Zweibeiner mit seiner schwarzen Haut und dem langen Penis zwischen den Beinen hört auf seine zwei eingebauten Gehirne, das Metahirn im Beckenbereich und die Erinnerung im Kopf. Die Erinnerung sagt ihm, dass er sich diplomatisch verhalten soll.

Und bald stellt sich in den Verhandlungen heraus, dass die Shar bereits Millionen Opfer auf ihren Welten zu beklagen haben. Der Grund sind die Terraformerschiffe der „Menschen“, die nicht intelligent genug sind, um die Shar als intelligente Rasse zu identifizieren und zu respektieren. Daher wurden sie als Schädlinge „exterminiert“.

Als die Präsidentin, die mehr Geduld als ihre Minister aufbringt, nachhakt, was denn diese Unterscheidung zwischen intelligent und nicht-intelligent zu bedeuten habe, antwortet ihr Drill in aller Unschuld, dass dies eine Folge der Spezialisierung sei. Nach acht Millionen Jahren habe sich die menschliche Rasse eben zwangsläufig in spezialisierte Unterspezies aufgespalten. Manche davon, wie die Terraformer, benötigen für ihre Tätigkeit nur einfach Instruktionen, andere, wie die Diplomaten, benötigten beispielsweise auch eine komplexe Erinnerung, also die gesammelten Erfahrungen der Menschheit.

All diese Erklärungen reichen nicht, um die Koalition der Präsidentin zusammenzuhalten. Ihre Regierung zerbricht, als Drill – wieder in aller Unschuld – berichtet, woher er die Koordinaten für die Shar-Welt habe. Na, von gefangenen Shar. Und was wurde aus denen? Sie wurden liquidiert, weil man den Garten brauchte, in dem sie untergebracht waren. Dieser erneute Beweis der ahnungslosen Grausamkeit der Menschen führt dazu, dass sich General Vang an die Macht putscht und den Menschen den Krieg erklärt…

Mein Eindruck

„Menschen“ ist in sieben Millionen Jahren ein sehr relativer Begriff geworden: Drill ist ein Abkömmling der Saurier, und zwar ein ganz besonders hässlicher. Dagegen sind die Shar ja richtig putzige Menschlein, mit denen wir uns identifizieren können. Drill jedoch hält sie für primitiv, weil sie noch an seltsame Dinge wie Moral glauben. Als ob dies im Laufe der Evolution irgendeine Rolle spielen würde. Sie sind, wie einst die Saurier, zum Aussterben verurteilt. Was schon ziemlich ironisch ist.

Die eigentliche Kritik des Autors, der im Grunde keine Seite einnimmt, ist jedoch das, was den Shar so widerwärtig erscheint: die ahnungslose Grausamkeit der „Menschen“. Da diese keine Vorstellung mehr von Moral und Prinzipien haben, sondern vor allem durch Protein und Sex – Drills Metahirn quengelt regelmäßig danach – befriedigt werden, muss es etwas anderes sein, das das Verhalten der „Menschen“ steuert. Am Ende ihres letzten Zwiegesprächs erkennt Präsidentin Gram mit bitterer Trauer, um was es sich handelt: Instinkt und Reflex. So weit hat sich also die prächtige „Menschheit“ entwickelt!

4) Phillip Mann: Lux in Tenebris (dito, 1989)

Frankreich im frühen Mittelalter. Der Steinmetz Gerard kehrt vom Steinbruch nach Hause zurück, um seine Frau Anne und seinen kleinen Sohn wiederzusehen. Nach Einbruch der Dunkelheit ist der Viehweg, der durch Gebüsch und Wald führt, jedoch trügerisch, und Gerard fürchtet die Teufel, die in der Finsternis auf Seelen lauern. Als er helle Lichter im Wald sieht, schreit er auf und wirft sich zu Boden.

Merkwürdige Monstergestalten umringen ihn, als er aufschaut. In der dunklen Kugel, die sie auf dem Kopf tragen, sieht er sein grausig verzerrtes Spiegelbild. Als er wieder aus seiner Ohnmacht erwacht, fehlt der Schlegel aus seinem Werkzeugkorb, aber dafür findet er einen anderen Gegenstand. Drückt man auf einen kleinen Buckel an dem Stock, leuchtet ein taghelles Licht auf. Ein, aus, ein, aus. Mithilfe dieses Lichtes findet er leicht den Weg zurück in sein Dorf. Doch sofort schlagen die Hunde an, und ein Mann tritt neugierig aus seiner Hütte. Heimlich wirft Gerard die Taschenlampe in den Brunnen, der sofort zu leuchten anfängt –offensichtlich ein Wunder.

Der Abt von Langevin ruft aus: „Sancta Maria!“, denn das Licht ist so blau wie der Mantel der Jungfrau Maria. Danach kommt der Bischof Jean de Lautremont, und der ist sehr viel vorsichtiger mit solchen Äußerungen. Vielleicht ist der leuchtende Brunnen, um den sich bald die Pilger scharen, ein Werk des Teufels? Während der Abt die Pilgerspenden einsackt, befiehlt Lautremont, eine Chronik zu führen. Gerard aber bringt es nicht über sich, beim Abt zu beichten. Er verbietet seiner Frau, dem Baby vom „heiligen“ Wasser zu trinken zu geben. Das erweist sich bald als kluge Entscheidung.

Nach einem harten Winter, den seine Familie mit größter Mühe überlebt, erlischt das Licht im Brunnen und ein grässlicher Gestank beginnt sich daraus zu verbreiten. Menschen, die vom Wasser gekostet haben, fällt das Haar aus. Der Bischof befiehlt, den Brunnen zuzumauern, und Gerard haut den Schlussstein zurecht, bevor dieser die Brunnenöffnung verschließt. Gerard macht sich schwere Vorwürfe. Als sich vom Brunnen aus ein schwarzer stinkender Kreis ausbreitet, um die Häuser zu verschlingen, beschließt er, sein Heil in der Flucht zu suchen. Er ist keineswegs der Einzige…

Mein Eindruck

Worum handelte es sich bei den unheimlichen Leuten, die Gerard eine Taschenlampe schenkten, die so unheilvolle Folgen bewirkte? Es hat sich wohl um Zeitreisende aus der Zukunft – also aus unserer Zeit – gehandelt. Das erklärt die Taschenlampe, die Batterie und das Gift, das diese bei ihrem Zerfall erzeugte (Uran, Blei oder Kadmium?) Die Symptome weisen Richtung Radioaktivität.

Natürlich interpretieren Gerards Zeitgenossen die Phänomene und Geschehnisse in den engen Grenzen ihrer Welt-Anschauung, und die ist christlich geprägt. Von Wissenschaft also keine Spur, aber dafür umso mehr von Religion bzw. Kirchenlehren. Die Folgen können verhängnisvoll sein, so etwa für den Bischof, dessen Hochmut sich ins Gegenteil verkehrt, so dass er als Bettlermönch das Zeitliche segnet. Das fand ich ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Nur für Gerard geht die Geschichte gut aus. 20 Jahre nach diesem Winter kehrt er an die bewusste Stelle zurück. Er zieht immer noch die Diskretion der Beichte vor…

5) George R.R. Martin: Der Seuchenstern (Tuf Voyaging: Plague Star, 1985)

Die Altertumsforscherin und Anthropologin Celise Waan macht eine folgenreiche Entdeckung: Auf der Heimatwelt der einst kriegerischen Hruun kommt es alle zwei, drei Generationen zum Ausbruch verheerender Seuchen, die die Weltbevölkerung stark dezimieren. Diese regelmäßigen Intervalle bringen sie auf die Idee, dass für diese Seuchen ein Saatschiff des Ökologischen Ingenieurs-Korps (ÖIK) verantwortlich sein könnte – ein riesiges Schiff für die biologische Kriegsführung, das im Auftrag des Föderalen Imperiums seine Kreise zieht. Obwohl das Föderale Imperium schon vor tausend Jahren unterging.

Das Team

Ihr ist klar, dass diese biologischen Kampfstoffe ebenso wie die DNA-Codes an Bord ein potentielles Vermögen darstellen, das ein hübsches Sümmchen in ihre Privatschatulle spülen würde. Wenn man den Schatz denn heben könnte. Denn leider haben es ehemalige Kriegsschiffe an sich, dass sie sich gegen ungebetene Besucher verteidigen, selbst nach tausend Jahren. Sie wendet sich an den Militärhistoriker Jefri Löw, der die alten Dokumente der Imperialen Flotte kennt und notwendige Zugangscodes aufstöbert. Löw engagiert den kriminellen „Organisator“ Kaj Nevis, der wiederum die Söldnerin Rica Morgenstern und den Cybertech (Cyborg) Anittas mitbringt.

Der Käptn

Okay, nun haben Celise und Jefri ein Schatzsucherteam. Nun brauchen sie ein preisgünstiges Schiff, dass sie zum Schatz bringt und dort absetzt – ohne dumme Fragen zu stellen. So stoßen sie auf den Trampfrachter „Füllhorn der Exzellenten Güter und Niedrigen Preise“ eines gewissen Haviland Tuf, seines Zeichens Sternenhändler, Hobbykoch und Katzenliebhaber. Sie wollen ihn und Rica, die Söldnerin keineswegs mit einem Anteil würdigen, sondern mit einem Hungerlohn abspeisen. Tuf ist – vorerst – einverstanden.

Das Ziel

Nach einigen Zwischenfällen an Bord, für die vor allem die Katzenhasserin Celise Waan verantwortlich ist. Erreicht die „Füllhorn“ die „Arche“. Es ist ein 30 Kilometer langer, mehrere km breiter und tiefer Koloss, der lautlos sein exzentrische Bahn zieht, ehe er wieder die Heimatwelt der Hruun erreicht. Lautlos? Bis jetzt. Eine automatische Ansage warnt die Neuankömmlinge vor der ersten Verteidigungslinie. Da aber die Erkennungscodes verschwunden sind, wird die „Füllhorn“ nach dreimaliger Warnung beschossen. Tuf dreht ab.

Doppelte Landung

Er hat zum Glück einen Plan B: einen unquinischen Kampfanzug, massiv gepanzert, schwer bewaffnet. Mit will er die „Arche“ entern. Nix da, entgegnet Kaj Nevis und beansprucht den Anzug für sich selbst. Zusammen mit Rica und Anittas fliegt er die „Arche“ an. Den Zurückgebliebenen dämmert allmählich, dass Nevis sie um ihren Anteil bringen will. Doch alles Toben und Jammern hilft nichts. Endlich fördert Tuf den Chip mit den Codes zutage – seine zwei Katzen haben damit gespielt. Er beansprucht dafür einen Anteil, und widerwillig gewähren ihn Celise und Jefri.

Erstes Opfer

Mit den Erkennungscodes gelingt die Landung in dem gigantischen Hangar der „Arche“ reibungslos. Dort besorgt Tuf zwei Druckanzüge, doch als er zurückkehrt, sitzt sein Kater Pilzchen vor der Druckschleuse der „Füllhorn“. Die fiese Celise hat die Katze dazu benutzt, die Umgebungsluft auf Unschädlichkeit zu prüfen. Celise mag zwar gegen „barbarischen“ Waffeneinsatz sein, verspürt aber keinerlei Skrupel, Tiere zu opfern, solang das ihrem eigenen Wohl dient. Eine Lehre, die sich Tuf merkt. Wenig später beginnt sein Kater elend an den Sporen und Viren in der Luft zu sterben und er erlöst ihn von seinen Qualen.

Kampf

Von nun an ist klar, dass es mindestens drei Parteien an Bord des völlig verlassenen Kriegsschiffes gibt: Celise und Jefri, dann Nevis, Rica und Anittas, schließlich Tuf. Doch schon bald stellt sich heraus, dass Nevis zwei schwere Fehler gemacht hat. Als er den Cyborg Anittas misshandelt, verkrümelt sich Rica und geht ihrer eigenen Wege. Der Cyborg breitet sich mit seinem digitalen Bewusstsein im Schiff aus -und macht besorgniserregende Entdeckungen.

Als Nevis Jagd auf die anderen Schatzjäger macht, verwandelt sich die „Arche“ in eine Kampfzone. Und dabei hat die „Arche“ noch nicht einmal die Monster losgelassen, die sie im Labor aus den zahlreichen Tanks zum Zweck der Selbstverteidigung klonen kann…

Mein Eindruck

Ist das jetzt „Die Schatzinsel“ im Weltraum, oder hat sich der Autor im Jahr 1985, als er die Novelle veröffentlichte, einen kleinen Scherz erlaubt? Nun ja, es gibt einen Schatz, eine Insel (die „Arche“), Schatzsucher und jede Menge Kämpfe. Aber in Stevensons Roman fehlen die Monster, die modernen Waffen und vor allem die Labore. Außerdem spielt Haviland Tuf eine ganz andere Rolle als Long John, und in Sachen „junger Held“ ergibt die Analyse „Fehlanzeige“.

Haviland Tuf ist eine markante, unverwechselbare Figurenschöpfung des Autors. Der füllige Zwei-Meter-Riese, der so gerne kocht und Katzen liebt, ist eine Kombination aus kultivierten Umgangsformen, die seine Gegner – und von denen gibt es jede Menge – über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er eben auch taff ist, wie sein Nachname schon besagt. Schließlich kann ein Sternenhändler nicht überleben, wenn er in Sachen Geschäftsverhandlungen nicht knallhart, listenreich und hartnäckig ist, oder? Ein Indiz für diese innere Qualität ist der Umstand, dass er Rica Morgenstern, die mindestens ebenso taffe und schlaue Söldnerin, jedes Mal im Schachspiel schlägt.

Beträchtlichen Einfallsreichtum darf man dem Autor auch hinsichtlich der fünf Monster attestieren, die die „Arche“ freilässt. Während der T. Rex noch recht konventionell anmutet, ist es das Wandernde Netz, das aus monomolekularen Schneidefäden besteht, nicht. Richtig fies sind die Höllenkätzchen, die es ausgerechnet auf die Katzenhasserin Celise Waan abgesehen haben: Sie spucken eine zersetzende Säure, die zugleich das Opfer lähmt. Es gibt also noch Gerechtigkeit in dieser erzählten Welt.

Am Schluss beschließt Haviland Tuf, als einziger Überlebender des Kampfes um den Schatz, Öko-Ingenieur zu werden.

6) Lucius Shepard: Delta Sly Honey (dito, 1986)

Südvietnam während des Krieges unweit der Front bei Quang Tri. Draußen im Dschungel lauert Charlie, der Vietcong, auf GIs, die sich auf Patrouille unvorsichtig verhalten. Im Lager von Noc Linh arbeitet Randall J. Willingham in der Leichenabteilung und lädt Körper unvorsichtiger GIs aus dem Leichensack in den bereitstehenden Aluminiumsarg, bevor letzterer in die Heimat expediert wird. Leider schikaniert ihn Hauptsergeant Moon fortwährend: Wer mächtig ist, braucht einen Prügelknaben, an dem er seine Macht demonstrieren kann.

Randalls wird seine wachsende Depression im Lagerradio los, das im Gemischtwarenladen des PX einquartiert ist. Nach einer Weile spricht Randall jedem mit seiner Südstaatlerredeweise aus der Seele, allen außer Sgt. Moon, versteht sich. Aber ein Militärpolizist namens Curt, der ebenfalls aus den Südstaaten stammt, hält seine Hand über Randall und versucht, Moon vom Piesacken abzuhalten. Schnell zeigt, dass Moon die besseren Karten hat.

Randalls Eigenart besteht darin, verschollene oder erfundene Platoons anzufunken. Eine seiner erfundenen Platoons nennt er mit ihrem geheimen Rufcode „Delta Sly Honey“. Diesmal meldet sich Delta Sly Honey, was alle Zuhörer – inklusive Randall – verblüfft – und auch ein wenig gruselt. Delta Sly Honey weiß erstaunlich viel über das Innenleben von Randall und über sein Unglück mit dem verhassten Sgt. Moon. Binnen weniger Tage ist Moon der bestgehasste Mann auf dem Stützpunkt. Doch Willingham ist in den Dschungel verschwunden, um dieses Phantom-Platoon zu finden.

MP Curt macht sich Sorgen um Moon, der ihn anfleht, ihm zu helfen und ihm öffentlich beizuspringen. Curt weigert sich, weil er sonst nämlich das gleiche Schicksal wie Moon teilen würde. In einer Vollmondnacht wird er Zeuge, wie mehrere sonderbar bemalte GIs Moon packen und ihn offenbar irgendwie dafür bestrafen wollen, was er Randall angetan hat. Sie nennen sich Angehörige von Delta Sly Honey. Zu seiner Bestürzung kann Curt nicht verhindern, dass die seltsamen Typen Moon die Kehle durchschneiden. Während Curt vor Schreck wie gelähmt ist, hauen sie ab.

Als Randall J. Willingham zurückkehrt, bricht keiner seiner Kameraden in Jubel aus, ganz im Gegenteil. Sie tun gerade so, als hätte Randall die Lepra, findet Curt. Als sich ein Angestellter im PX-Laden über ihn lustig macht, rastet Randall komplett aus. Kaum betritt Curt den Laden, steht er schon wieder den bemalten Typen von Delta Sly Honey gegenüber, Leuten, die es eigentlich gar nicht geben dürfte…

Mein Eindruck

In dem Zwischenreich zwischen Leben und Tod, das in dieser Vietnam-Fabel geschildert wird, kann es nicht ausbleiben, dass Menschen und Geister sich miteinander vermischen. Geister treten als Menschen auf: Delta Sly Honey. Und Randall J. Willingham ist möglicherweise von Anfang an kein Mensch, sondern ein Geist, ein Überwesen, das den GIs aus der Seele sprechen kann.

Natürlich darf ein Erzähler seine Figuren nicht dem Unglauben des Lesers preisgeben, indem er die Unterscheidungslinie verwischt. Mit dem Militärpolizisten Curt führt er einen halbwegs unparteiischen und vernünftigen Beobachter der gespenstischen Vorgänge ein. Doch auch Curt kommt zu keinem endgültigen Urteil. Das einzige Mal, als er auf einen Angehörigen von Delta Sly Honey feuern will, klemmt die Pistole. (Merke: Waffen jeder Art sind NICHT vertrauenswürdig.)

Unterm Strich entsteht im Kopf des Lesers das lebhafte Bild einer GI-Existenz am Rande der Wirklichkeit, dort wo Leben und Tod, Vernunft und Magie ununterscheidbar werden. Dort spielen die meisten von Shepards Erzählungen.

7) James Tiptree jr.: Yanqui Doodle (dito, 1987)

Ein Land namens Bodegua, das zwischen Nicaragua, El Salvador und Honduras liegen muss, wird vom Streitkräfte-Komitee des US-Kongresses besucht, also von Senatoren. Ein halbes Dutzend Generäle begleitet sie, denn sie sollen sehen, wie sich die US-Jungs und ihre einheimischen Helfer im Kampf gegen die sozialistischen Rebellen, den Guevaristas, bewähren. Schließlich geht es um die Bewilligung von viel Geld für diesen Hinterlandkrieg.

Senator Biller ist der einzige der Politiker, der bohrende Fragen an die pro-amerikanischen einheimischen Kämpfer von der Libra stellt, und Kindersoldaten antworten ihm (durch eine Dolmetscherin). Von den Zwölfjährigen bekommt er unsinnige Antworten. Dabei überhört er das Nahen feindlicher Helikopter und eines Jeep mit einem besonderen Fahrer…

Den GI Don Still hat es nach einem Jahr Dschungelkrieg in Bodegua übel in einem Minenfeld erwischt. Er erwacht in einem Hospital, ist schon verbunden worden und wird in eine Spezialabteilung verlegt: Er soll seine Drogensucht auskurieren – kalter Entzug. Das ist so ungefähr das Schlimmste, was sich Don vorstellen, und das wird es auch: die Hölle auf Erden. Ihm fehlen die Durchhaltepillen (D, gelb), die TL-Pillen (für traumlosen Schlaf) und schließlich auch die KZ-Pillen für die Kampfzone.

Zunächst denkt er, die Alpträume seien nicht real, doch nach und nach muss er erkennen, dass die aufgeschnittene Schwangere und das durchbohrte Neugeborene keine Hirngespinste, sondern echte Erinnerungen sind. Und der Typ, der beide auf dem Gewissen hat, das ist er selber. Von da ab betreibt er seinen Selbstmord mit Akribie und Täuschung. Doch er ist nicht der erste, der das versucht, und so werden seine Versuche vom Pflegepersonal vereitelt.

Eines Tages bekommt er Ausgang im hinteren Garten. Die Pfleger haben nicht damit gerechnet, dass er dort, wo er eigentlich seine Notdurft verrichten wollte, einen toten GI und ein MG finden würde. Und – Wunder aller Wunder! – dessen Pillenkapsel ist noch vollständig gefüllt! Fortan sind Dons Tage wieder im grünen Bereich. Als der Vorrat an D-Pillen schwindet, muss er zwangsläufig auf KZ-Pillen umsteigen. Paranoia erfüllt ihn – und mächtige Energie. Sein erstes Opfer ist die gewissenhafteste Pflegerin. Doch um an mehr Pillen zu gelangen, muss Don an die Front zurück. Die liege weit im Norden, sagt ihm der Busfahrer.

Und so kommt es, dass GI Don Still noch am selben Abend die US-Limousinen des Streitkräfte-Komitees von Senator Biller vor den Lauf seines MGs bekommt…

Mein Eindruck

Das Lazarett als Kampfzone, der Kopf des drogensüchtigen GI als Schlachtfeld – das ist die klare Anklage der bekannten streitbaren Autorin Alice Sheldon. Da sie früher mal für den Geheimdienst CIA arbeitete, weiß sie, wovon sie schrieb. Der ganze Skandal kam während der Enthüllungen um die Iran-Contra-Affäre heraus, in deren Mittelpunkt ein Offizier namens Oliver North stand: eine unheilvolle Verbindung von Drogen und Waffen, US-Soldaten in Nicaragua und El-Salvador. Die Unterstellung, dass die Soldaten unter Drogen standen, findet sich so auch bei den Autoren Lucius Shepard und Joe Haldeman – das war ja schon während des Vietnamkriegs geheime Praxis.

Der heutige Leser könnte den Eindruck haben, dass Stills Angriff auf die Senatoren wohlfeile Propaganda sei, aber es ist erstens eine KZ-drogeninduzierte Paranoia und zweitens eine Vergeltung für die Qualen, die er im Hospital während des kalten Entzugs erleiden musste. Diese Qualen sind erstaunlich eindrücklich und kenntnisreich beschrieben, so dass man fast meinen könnte, die Autorin habe sie selbst (oder ihr Mann) erlebt. John lennon hat sie jedenfalls erlitten und auch in seinem Song „Cold Turkey“ besungen.

8) Ian McDonald: Vivaldi (dito, 1989)

Z minus 62, Abstand 44.000 km: In 62 Tagen wird die Raumsonde „Vivaldi“ auf das Schwarze Loch treffen, das auf den schönen Namen „Nemesis“ hört. Es liegt in der Oortschen Wolke, über 2 Billionen km entfernt und doch ungemütlich nahe. Es ist eine ESA-Mission, und Dr. Hugh Mac Michaels hat sie von seinem älteren Partner Prof. Vorderman buchstäblich geerbt, per Testament. Vor 21 Jahren war das Projekt nur ein Traum in ihren Köpfen, 13 Monate später wurde „Vivaldis“ Trägerschiff mit seinem Ionenantrieb auf die Reise geschickt.

Hugh trauert seiner geliebten Tochter Gemma nach, die sechs Monate zuvor bei einem Autounfall in Neu-Schottland ums Leben gekommen ist. Gemma liebte das Vivaldi-Projekt und die Vorstellung, dass die Sonde zu einem Geisterstern, einer früheren Sonne, unterwegs sei. Wenige Wochen nach dem Begräbnis entdeckte er, dass seine ihm entfremdete Frau Moira ein holografisches Simulacrum von Gemma hat erschaffen lassen, das spricht und aussieht wie die echte Gemma. Hugh hat sich übergeben müssen.

Jubel bricht im Kontrollzentrum aus: „Vivaldi“ scheint trotz der gewaltigen Anziehungskraft des Schwarzen Lochs gerade noch die Kurve zu kriegen. Sie schrammt am Ereignishorizont entlang, entfernt sich – da kommt ihr ein zerborstener Komet in die Quere. Die Computer korrigieren automatisch den Ausweichkurs, doch in die falsche Richtung. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr.

Wenige Minuten später (nach einer entsprechenden Übertragungsverzögerung über 0,5 Lichtjahre hinweg) stellt die Fernmessstation den Ausfall aller Übertragungen fest. In diesem Moment wird Hugh klar, was er wegen des Gemma-Simulacrums unternehmen muss…

Mein Eindruck

Vordergründig handelt es sich um die Erkundung eines Kollapsars, der zu einem Schwarzen Loch geworden ist, und um das astronomische Abenteuer, das damit verbunden ist. Doch in Wahrheit macht der Autor eine kluge Aussage darüber, wie man mit den Erinnerungen an einen geliebten Menschen, den man verloren hat, umgehen sollte. Soll man ihn wirklich wiedererschaffen, selbst wenn es die technische Möglichkeit dazu gäbe? Hugh Mac Michaels kommt zu einem anderen Schluss – und entzündet ein Streichholz…

9) Robert Silverberg: Vox (The Secret Sharer, 1987, LOCUS Award)

Der neue Kapitän des zehn km langen Frachtraumschiffs „Schwert des Orion“ hat einen schweren Stand. Obwohl Adam der jüngste an Bord ist, wird er gleich quasi ins kalte Wasser geworfen. Wenn er sich nicht bewährt, kann er ja immer noch als Putzkolonne arbeiten. Aber was ist schon dabei? In ferner Zukunft ist die Galaxis von Menschen besiedelt, und die Frachter klappern bloß noch ihre kreisförmige Route ab. Immerhin ist die Fracht recht wertvoll: 7000 Passagiere in verschiedenen Zuständen, Milliarden an Goldreserven, die für die Zentralbanken der Siedlerwelten bestimmt sind, sowie diverse Gerätschaften für die Terraformung der Kolonien.

Dass das Schiff mit einer sehr hohen Geschwindigkeit unterwegs sein muss, versteht sich von selbst, denn schließlich liegen Lichtjahre zwischen diesen Welten. Durch die relativistischen Effekte gibt es für die Crew kein zurück mehr an Land. Roacher etwa, verdienstmäßig die Nr. 14 an Bord, ist schon 200 Jahre auf diesem Kahn. Sein Kumpel Bulgar ist Nr. 19. Adam, der neue Käptn, muss sich erst noch einsortieren. Dass die Crew kaum noch menschenähnlich ist, dürfte aus dem Gesagten hervorgehen.

Die erwähnten 7000 Passagiere sind nur zum Teil lebendig und liegen im Kühlschlaf, der Großteil existiert nur als Matrix, als elektronisch gespeicherter Bewusstseinsinhalt. Irgendwo zwischen Kansas Four und Strappado bemerkt Adam über seine Maschinenschnittstelle ein leichtes Zucken im Bewusstsein, doch die befragte KI verneint dessen Existenz: alles sei normal. Wenige Minuten später nimmt Adam eine deutliche Störung, die von der KI bestätigt wird. Etwas geht vor sich. Auf halbem Weg durchs Schiff spricht ihn eine tonlose Stimme an: „Hilf mir.“ Doch bevor er antwortet, unterbricht ihn die KI mit einem Notruf: Einer der Passagiere sei „schwer beschädigt“.

Fünf weitere Besatzungsmitglieder, darunter Ingenieur Roacher, befinden sich an der beschädigten Schlafkapsel. Der Zustand des beschädigten Passagiers, auf dessen gesicht ein entsetzter Schrei gefroren liegt, verschlechtert sich: Er ist nicht mehr zu retten. Adam ordnet seine Organverwertung an. Die Ursache ist unbekannt. Ein Matrixpenetration, vermutet Roacher, eine Infiltration die KI. Kurz gesagt: ein frei umherschwebender Geist, der nun die Schaltkreise der „Schwert des Orion“ unsicher macht.

Zurück in seiner luxuriösen Kapitänskabine vernimmt Adam erneut den körperlosen Hilferuf: „Bitte, hilf mir.“ Er bringt die Stimme dazu, sich zu identifizieren. Sie stellt sich als die 17-jährige Leeleaine Eliane vor, sie stamme aus einer Hinterwäldlerregion auf Kansas Four und wolle als nächstes einen für sie bereitliegenden Körper, der auf Cul-de-Sac auf sie warte, in Besitz nehmen. Sie hatte gar nicht vor, den Passagier zu töten, als sie ihn infiltrierte; der brachte sich vielmehr selbst um, als er in Panik seinen lebenserhaltenden Behälter beschädigt. Ausgebrochen sei sie bloß, weil ihr stinklangweilig war. Das war auch der Grund gewesen, ihre Heimatwelt zu verlassen und dabei auf einen Körper zu verzichten. Sie ist ziemlich impulsiv, erkennt Adam.

Adam kann die Beweggründe von „Vox“, wie er sie nennen soll, nachvollziehen, denn es sind seine eigenen. Daher nimmt er die Matrix von Leeleaine in sich auf und verbirgt sie vor dem Rest der Besatzung. Nun beginnt die Reise für das Pärchen interessant zu werden. Die Matrix wird im ganzen Schiff vergeblich gesucht und daher bekommen die 16 Crewmitglieder allmählich gruselige Gefühle.

Die beiden kommen sich näher und erreichen bei einem virtuellen Raumspaziergang eine geistige Verschmelzung. Als die Besatzung ihnen auf die Spur zu kommen droht, versteckt der Captain die Matrix in einem virtuellen Raum und führt dann ein riskantes Annäherungsmanöver an ihren Zielplaneten durch, das Leeleaine die Flucht ermöglicht. Der Abschied fällt beiden schwer, denn er ist für immer.

Mein Eindruck

Es war von vornherein die erklärte Absicht des Autors, den gleichnamigen Kurz-Roman „The Secret Sharer“ wörtlich: „der stille Teilhaber“) des von ihm verehrten Autors Joseph Conrad zu verwenden. Dennoch fühlten sich einige Mitglieder der SF-Community irgendwie auf den Schlips getreten oder auf den Arm genommen. Und heute mag sich so mancher Filmfan an den Plot von „Passengers“ (2017) erinnert fühlen, in denen Chris Pratt und Jennifer Lawrence als ungleiches Pärchen zu überleben versuchen müssen. Das Problem ist aber nicht eine misstrauische Besatzung, sondern das Passagierschiff selbst, das zunehmend Fehlfunktionen aufweist und schließlich zu explodieren droht.

Zurück zu Captain Adam. Während die Love Story ebenso konventionell ist wie das Motiv des blinden Passagiers, so ist die Umsetzung doch futuristisch. Es ist das Schiff selbst, das diese Möglichkeiten eröffnet. Hier wird die Grundfrage anschaulich beantwortet: „Was bedeutet es, unter diesen speziellen Bedingungen ein Mensch zu sein?“ Das Schiff besteht nicht nur auf Material, sondern aus vielen nichtmateriellen Entitäten. Dazu gehören zunächst die KIs, mit denen die Crewmitglieder per Human-Maschine-Schnittstelle (HMI) verbunden sind. Dann gibt es die Abteilungen, die nur virtuell oder probabilistisch als Anhängsel oder Unterabteilung existieren. Nur weg den Zugangscode kennt, hat dort Zutritt. Deshalb Adams Geliebte dort sicherer als in seinem Kopf. Und der Moment des Skywalks erhebt das Paar auf eine transzendente, befreiende Ebene des Bewusstseins.

Die Erzählung bietet daher nicht nur was für Herz, nämlich die Liebesgeschichte mit ihren verschiedenen Entwicklungsstufen, sondern auch die Wunder des sehr ungewöhnlichen Raumschiffs „Schwert des Orion“.

Die Übersetzungen

Die Texte wurden von Profis ins Deutsche übertragen. Dennoch unterliefen ihnen ab und zu Fehler. Und über Stilfragen lässt sich bekanntlich streiten.

S. 12: „mit Fell bedeckt, [der] auf dem Kopf…“ „Der“ sollte durch „das“ ersetzt werden.

S. 24: „das Odeur tropischer Blumen, [der] an… erinnert.“ „Der“ sollte durch „das“ ersetzt werden.

S. 47: „Hombre de Hierro“ heißt auf Neudeutsch „Iron Man“.

S. 52: „Fö[r]deration“: korrekt sollte es „Föderation“ heißen.

S. 195: „Gestern habe ich einen kleinen Happen zu mir…“ Hier fehlt wohl das Wörtchen „genommen“.

S. 368: „…statt dessen machte[n] sich immer mehr Schmerzen… bemerkbar.“ Das N fehlt.

S. 437: „Sassenach-Firma“: Der Begriff wird nicht erklärt, aber für einen Schotten sind alle Engländer südlich der Landesgrenze „Sachsen“ (auch wenn sie ab und zu Normannen waren).

S. 454: „wir waren mit vollen Adnexen [u]und Extensionen“ Das U fehlt.

S. 480: „Wiegendruckstock“ wird nicht erklärt. Zu „Druckstock“ siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Druckstock.

S. 518: „Ich bin ein[e] Matrix.“ Das E fehlt.

S. 524: „Ich akzedierte [die KI] 49-Henry-Henry“. Solche technischen Begriffe wie „akzedierte“ hat der Übersetzer durchweg stehenlassen. Das trägt nicht gerade zur Verständlichkeit des Textes bei. Gemeint ist in diesem Fall der simple Zugriff auf die KI.

S. 533: Ein unverständlicher Satz: „…dass Menschen ein Bedürfnis nach Ritualen und starren Sterilisierungen besitzen.“ Gemeint sind vermutlich „Stilisierungen“. Dann würde der Satz halbwegs Sinn ergeben.

Illustrationen

Fast alle Texte (außer „Vox“) sind mit Illustrationen von Birgit Kreimeier, Klaus Porschka, John Stewart und Jobst Teltschik versehen. Das Umschlagbild schuf Allan Craddock. Man bekommt also für wenig Geld ein Buch, das heute leicht das Fünf- bis Zehnfache der 10 D-Märker von 1989 kosten würde.

Unterm Strich

Im Rückblick bietet dieser Jahresband ausschließlich Top-AutorInnen des phantastischen Genres bzw. solche, die es inzwischen geworden sind. Die drei tragenden Säulen der Textsequenz sind die drei Novellen, die Joe Haldeman, George R.R. Martin und Robert Silverberg beigetragen haben. Mit ihrem Umfang von jeweils rund 100 Seiten bilden sie am Anfang und Schluss quasi Buchstützen und in der Mitte einen Träger.

In die Zwischenräume passen Texte, die ebenfalls von hoher Qualität sind. Dazu gehören die Texte von Walter Jon Williams (seine verschmitzte Story „Dinosaurier“ ist in vielen Anthologien zu finden), James Tiptree Jr. alias Alice Sheldon mit „Yanqui Doodle“ und Lucius Shepards Gruselgeschichte. Auffällig häufig kommen darin Soldaten und Agenten vor. Ja, die Tiptree-Story sieht der Shepard-Story „Salvador“ sogar zum Verwechseln ähnlich, selbst wenn sie ganz anders endet.

Aus diesem Rahmen fallen die kürzeren Beiträge von Mann, Fowler und McDonald. Besonders der Beitrag des Nordiren McDonald („Chaga“, „Kirinja“) wird mir als sehr anrührend in Erinnerung bleiben: Er setzt den Sturz einer Raumsonde in ein Schwarzes Loch mit der Verlust einer geliebten Tochter in Bezug. Welche Schlüsse und Konsequenzen sich daraus ergeben, ist bemerkenswert.

Die zahlreichen Stil- und Druckfehler führen zu einem Punktabzug.

Taschenbuch: 619 Seiten
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453031487

www.heyne.de

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