Wolfgang Jeschke (Hrsg.) – Heyne Science Fiction Jahresband 1997


Ernüchternde Zukunft, digitale Romantik: Auswahl erstklassiger SF-Stories

Der SF-Jahresband 1997 vereint Geschichten und Kurzromane von Michael Flynn, Elisabeth Vonarburg, Ben Bova, Stephen Baxter, Lucius Shepard, Charles Sheffield und – last but not least – Marcus Hammerschmitt. Insgesamt bietet der Band eine sehr gehalt- und niveauvolle Sammlung erstklassigen Materials, das von den Illustrationen ideal ergänzt wird. Die Story von Lucius Shepard über „Muschelkratzer-Bill“ landete zum Beispiel bei zahlreichen Awards auf den vordersten Plätzen.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für kenner“ im Kichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) Michael Flynn: Auf den Flügeln eines Schmetterlings (anders als auf der Umschlagrückseite angegeben!)

Dies ist eine Variante auf die Ereignisse bei der Eroberung des Inkareiches durch den spanischen Conquistador Hernando Pizarro im 16. Jahrhundert. Gesehen aus der Perspektive eines Zeugen des Geschehens, das zur Gefangennahme des Inka führt, nimmt die Geschichte einen alternativen Verlauf: Der Führer der Spanier ist nämlich ein Zeitreisender, der den Rebellen des „Leuchtenden Pfads“ im Peru des 20. Jahrhunderts angehört. Durch sein Eingreifen scheitert die Eroberung.

2) Elisabeth Vonarburg: Mane, Tekel, Phares

Die Erzählung berichtet vom Besuch zweier Angehöriger eines Paralleluniversums im Kanada der nahen (alternativen?) Zukunft. Der Künstler Todd, in den sich die Berichterstatterin und Kunstagentin Petra verliebt, erweist sich als Menetekel (siehe den Titel!), als Prophet, der in seiner Kunst auf die Mißstände in der Seele der Zeitgenossen hinweist und damit heftige Kontroversen auslöst. Schade, daß Vonarburg die geheimen Regierungsbehörden bemüht, um Todd zu einer Art verfolgter Jesusfigur aufbauen und dann zum Verschwinden zwingen zu können.

3) Ben Bova: Dein Reich komme

Die Gangsterbosse im Ghetto von Phildelphia kidnappen den Führer des Weltrats, der doch nur den armen Unterprivilegierten helfen will. Durch das Eingreifen eines Helfershelfers dieser Bosse kann der Weltratführer allerdings freikommen. Der Sinneswandel dieses Helfers, eines Elektrikers, wird in einem Augenblick möglicher Hoffnung herbeigeführt, der in der Rezitation des Vaterunsers gipfelt. Über die Botschaft dieser Story kann man sehr geteilter Meinung sein.

4) Stephen Baxter: Goldwimper

Ohne solches Brimborium kommt der Wissenschaftler Stephen Baxter aus. Er erzählt von Leben auf dem Merkur, dem sonnennächsten Planeten, eine recht heiße Gegend. Dennoch entdeckt eine menschliche Expedition in den Tiefen der Merkurschichten Wasser – der Merkur hat einen geschmolzenen Kern. Dort unten leben sogar Organismen mit einem Bewußtsein, Wesen wie „Goldwimper“, die der Story den Titel liefert. Sie führt ihr Volk zu besseren Nahrungsplätzen und in den Kampf gegen feindliche Organismen. Doch getrieben von einem Parasiten drängt sie an die Oberfläche, wo die Menschen sie finden und sich gewaltig darüber wundern.

5) Lucius Shepard: Muschelkratzer-Bill (Barnacle Bill)

…ist wahrscheinlich die Story mit der meisten Action in diesem Band. Die Hauptfigur ist ein geistig zurückgebliebener Bursche, dessen einziger Job im Entfernen von muschelartigen Dingern von der Außenhaut der Raumstation der Menschen ist. Von hier sieht er den Starts der die Sterne erkundenden Schiffe zu, doch bislang hat noch keines davon Erfolg gehabt. In der frustrierten Stimmung auf der Station ist er stets das erste Opfer der Spannungen. Die Lage verschärft sich, als eine Sekte der „unsichtbaren Herrlichkeit“ die Station übernehmen will. Bill greift ein, als er merkt, dass „seine“ Muscheln die Station verlassen.-

Geschickt und anrührend erzählt, bietet die Story einen ernüchternden Ausblick auf eine nicht so leuchtende Zukunft im Weltraum.

6) Marcus Hammerschmidt: Wind

…ist ebenfalls eine Dystopie. Die deutschen Lande sind von einem dichten elektronischen Sicherheitsnetz überzogen, und die abweichenden Kultursprengsel wie Ökos und Autonome sind in kleinen Freistaaten eingepfercht. Als dem Windgeneratorwärter Eddie eine brisante Botschaft über eine effizientere Energietechnik zugespielt wird, beginnt quer durch diesen Nachtwächterstaat eine Hetzjagd, die es in sich hat, ein veritabler Thriller, bei dem mächtig „Wind“ entsteht. Das wird nicht kitschig oder klischeehaft erzählt, sondern in der Szenesprache schnoddrig daherberichtet. Der Schluß ist angemessen: eine seltsame Art von Happy-end.

7) Charles Sheffield: Die Rechenmaschine von South Georgia

Der Viktorianer Charles Babbage versuchte den ersten Computer zu bauen, scheiterte aber. Doch seine Unterlagen und Bauteile gingen nicht verloren, sondern fanden ihren Weg in ein winziges Kaff in Neuseeland, eine ehemals britische Kolonie. Zwei Burschen, die über Computer Bescheid wissen, finden hier erstens eine tragische Liebesgeschichte und zweitens Hinweise auf den Verbleib der von Babbage geplanten und in Neuseeland realisierten Rechenmaschine. Und auf Aliens! Sage noch einer, Wissenschaft und Computer seien keine romantischen Themen!

Unterm Strich

Insgesamt bietet der Band eine sehr gehalt- und niveauvolle Sammlung erstklassigen Materials, das von den Illustrationen ideal ergänzt wird. Die Story von Lucius Shepard über „Muschelkratzer-Bill“ landete zum Beispiel bei zahlreichen Awards auf den vordersten Plätzen.

Taschenbuch: 573 Seiten
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13: 978-3453119109

www.heyne.de

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