H. P. Lovecraft – Chronik des Cthulhu-Mythos I

Kommentierte Werkausgabe: geballte Ladung Cthulhu & Konsorten

Diese Chronik in zwei Bänden vereint erstmals die vollständigen Werke Lovecrafts zum Cthulhu-Mythos neben allen Kurzgeschichten auch die Novellen. Band 1 der Chronik enthält die Novelle DER FALL CHARLES DEXTER WARD sowie bekannte Kurzgeschichten wie „Das Grauen von Dunwich“ und „Der Flüsterer im Dunkeln“. Mit einer Einleitung und ausführlichen Erläuterungen zu den einzelnen Werken von Dr. Marco Frenschkowski. (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) wird allgemein als Vater der modernen Horrorliteratur angesehen. Obwohl er nur etwa 55 Erzählungen schrieb, hat sein zentraler Mythos um die Großen Alten, eine außerirdische Rasse bösartiger Götter, weltweit viele Nachahmer und Fans gefunden, und zwar nicht nur auf Lovecrafts testamentarisch verfügten Wunsch hin.

Aber Lovecrafts Grauen reicht weit über die Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen.

Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit. Auf Einstein verweist HPL ausdrücklich in seinem Kurzroman „Der Flüsterer im Dunkeln“.

PD Dr. Marco Frenschkowski, Jahrgang 1960, ist evangelischer Theologe und Religionswissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte: Antike und moderne Religionsgeschichte sowie das Verhältnis von Religion und Kultur.

_|DIE ERZÄHLUNGEN|_

_1) Dagon_

Ein entkommener Kriegsgefangener des Ersten Weltkrieg strandet nach Irrfahrt auf einer ungastlichen Insel im Südpazifik. Der Strand besteht aus einem schwarzen, toten, schleimigen und ekligen Sumpf, auf dem nichts lebt. Er schleppt sich vier Tage lang (ohne Wasser!) zu einem Hügel hoch, der sich als Vulkankrater entpuppt. Ist dies der Eingang zur Unterwelt, fragt er sich. Sein Blick fällt auf einen weißen Monolithen auf der gegenüberliegenden Felswand. Er ist bedeckt mit Sinnbildern, Flachreliefs und Schriftzeichen: Zu sehen sind humanoide Fischwesen, die aber so groß wie Wale sind.

Eines dieser Wesen taucht aus dem Kratersee auf, um den Monolithen, einen Altar, zu verehren. Der Gestrandete wird wahnsinnig. Er findet heraus, dass es bei den Philistern der Antike einen Fischgott namens Dagon gab und fragt sich, wann Dagons Geschlecht die im Großen Krieg untergehende Welt übernehmen werde.

Da ertönt ein Klopfen an seiner Tür, und eine schuppige Hand zeigt sich. Der Erzähler springt aus dem Fenster seiner Mansardenwohnung.

|Mein Eindruck|

„Dagon“ ist der Prototyp zu dem viel besser erzählten „Der Ruf des Cthulhu“ und schildert die Entdeckung jenes Monster der Tiefes, das von den Großen Alten übriggeblieben ist, die einst von den Sternen kamen, um die Erde zu unterwerfen. (Zu dieser Mythologie siehe meine Berichte zu Lovecrafts Werken.) Um mehr von diesem „antiken Fischgott“ Dagon zu erfahren, lese man auch den erstklassigen Kurzroman „Der Schatten über Innsmouth“, in dem die Fischmonster Neu-England heimsuchen.

Dagon und Co. sind eine Verkörperung des Grauens, das die moderne Wissenschaft sowie der Große Krieg 1914-1918 über den Menschen gebracht hat. Seit Gott und seine Vasallen abgeschafft worden sind, starren die Sterne kalt und erbarmungslos auf uns hernieder. Schutzlos und unbehaust sind wir dem Grauen ausgesetzt. Alte grausame Götter aus uralter Zeit, so Lovecraft, wollen sich unserer bemächtigen. „Das ist nicht tot, was ewig schläft“, raunt es vielfach in seinen Erzählungen.

Bezeichnenderweise geht es immer um Verehrung an Altären, seien sie modern, klassisch oder antik und apokryph. Auf diese Weise wird sinnfällig, dass das Vakuum des abgeschafften Glaube durch Götzenkulte gefüllt werden kann, und dass diese Götzen durchaus von schaurigster, menschenfeindlichster Natur sein können. Sektentode wie in Jonestown und anderswo belegen die reale Gefahr.

_2) Nyarlathotep_

In Neuengland taucht eines Wintertages eine Art Wunderprediger auf, der sich Nyarlathotep nennt und von wundersamen orten erzählt, während er elektrische Tricks praktiziert. Der Ich-Erzähler, der von seinem Freund eingeladen wird, ist von dieser billigen Show nicht gerade angetan und schmäht den Fremden.

Doch das soll er bereuen, denn immer mehr sieht er sich mit seinen Begleitern von einer finsteren Schlucht angezogen, die in der Nähe seines Heimatortes liegt. Es ist schrecklich kalt unter den blanken Sternen, und der Eingang ist mit Schneewehen beinahe blockiert. Kaum haben seine Vorgänger die Schlucht betreten, sind klagende Rufe zu hören. Und auch der Erzähler kann sich dem Ruf von den Sternen nicht verschließen, wie sein wahnsinniges Gestammel am Schluss bezeugt …

|Mein Eindruck|

Der titelgebende Wanderprediger stammt aus Ägypten, erinnert aber an den ebenfalls sensationsheischenden Erfinder Nikola Tesla (vgl. den Film „Prestige“). Der psychologische Vorgang, der zwischen das Gestammel des Chronisten eingebettet ist, lässt sich durchaus nachvollziehen. Nyarlathotep bringt echte Erleuchtung, allerdings von der zwielichtigen Art: eine Wahrheit, die keiner hören will. Denn sie führt direkt zum kriechenden Chaos, das da Azathoth heißt und im Zentrum des Kosmos auf seine Chance lauert …

Der Kommentator Frenschkowski nennt den kurzen, nur vier Seiten langen und ca. 1920 entstandenen Text ein „Prosagedicht“, aber das trifft eigentlich nur auf den Anfang und den Schluss zu. Der Mittelteil schildert Nyarlathoteps Auftritt, die Schmähung und seine Rache.

_3) Stadt ohne Namen_

Der Ich-Erzähler ist entweder ein Abenteurer oder ein archäologischer Forschungsreisender. Er hat sich in die tiefste arabische Wüste begeben, um jene Stadt ohne Namen zu suchen, die den Arabern solche Furcht einjagt. Er stößt zunächst auf harmlose Hausruinen, aber dann auch auf tempelartige Artefakte. Als er am Abend das Heulen eines Windes hört, das nicht aus der Umgebung, sondern aus einer Tempelöffnung hervordringt, begibt er sich sogleich mit einer Fackel dorthin und dringt in den höhlenartigen Tunnel ein.

Die Tunnel, durch die er kriecht, sind seltsam niedrig und eng. Sollten hier wirklich menschliche Bewohner gelebt haben? Gerade, als er in einer Halle anlangt, geht seine Fackel aus. Er gerät jedoch nicht in Panik, sondern setzt auf seinen Tastsinn. Nach einer Weile glimmt ein Leuchten auf, so dass er besser sehen kann. Da sind Massen von Kästen aufgestapelt, in denen reptilienköpfige Wesen in prächtigen Gewändern ruhen. Auf den Wandmalereien erblickt er die Geschichte einer vorsintflutlichen Zivilisation, ihren Aufstieg und Untergang. Auf dem letzten (jüngsten?) Bild ist dargestellt, wie ein Mann von den Reptilienwesen zerrissen wird.

Hinter dieser Freskenhalle führt ein Tor zu einer Treppe, die hinunterführt zu einer Ebene leuchtender Unendlichkeit. Doch die Treppenstufen sind wie die engen Tunnel offenbar nicht für Menschenfüße ausgelegt, sondern für jene Wesen, die er nun am Fuß der Treppe knurren hört. Da hebt der Wind wieder an, heulend und kreischend fährt er in jenen leuchtenden Schlund hinunter. Die Morgendämmerung hat begonnen. Die Wesen klettern die Treppe herauf. Sie tragen Reptilienköpfe …

|Mein Eindruck|

1921 veröffentlicht, ist die Geschichte zwar noch im Geiste Lord Dunsanys, HPLs erstem Lehrmeister, geschrieben, weist aber schon klare Einflüsse anderer Vorbilder auf, so etwa von Lost-race-Autoren wie Henry Rider Haggard („Sie“) und Abraham Merritt („Das Volk der Fata Morgana“, „Das Gesicht im Abgrund“, „The ship of Ishtar“ und viele weitere), die alle in jener Zeit reüssierten. Auch ein gewisser Edgar Rice Burroughs, der Schöpfer von „Tarzan“, war sich nicht zu schade für zwei solche Serien: „Pellucidar“ und die Marsianer, die nach Fantasyregeln leben.

Der typische HPL-Sound unterschiedet diese Story ganz beträchtlich aber von den Machwerken jener Konkurrenten. Erst einmal geht es sehr unheimlich, menschenleer und klaustrophobisch zu, zweitens ist der typische Schauplatz eine versunkene Stadt, die tief ins Erdinnere reicht und drittens sind am Höhepunkt der Story die vermuteten Kreaturen jener angeblich versunkenen Zivilisation immer noch quicklebendig. (Was die Frage nach dem Überlebenden des Chronisten aufwirft, aber die Antwort soll hier nicht verraten werden.)

_4) Die Musik des Erich Zann_

Die erste Geschichte spielt in Paris, und der „Student der Metaphysik“, der uns berichtet, findet die bewusste enge Straße nicht mehr, in der er in einem Mietshaus zum ersten Mal die Musik jenes stummen deutschen Geigers gehört hatte, den er als Erich Zann kennenlernte.

Die Musik, die Zann ihm vorspielte, wenn sein Besucher im Zimmer war, war zunächst ganz normal: Bach’sche Fugen. Doch sobald er gegangen war, spielte er so unheimliche Melodien, dass es den Studenten grauste. Bis zu jenem Tag, da der Besucher den Vorhang vor dem Fenster entfernte und in die gähnende Schwärze des gierigen Kosmos dahinter schaute – und von dort eine Antwort erklang …

|Mein Eindruck|

Diese kurze Geschichte ist sehr stimmungsvoll und detailliert erzählt, so dass wir einen realistischen Eindruck davon erhalten, wie es im Haus des Erich Zann zugeht. Ganz allmählich werden wir zum Geheimnis geführt, das dessen Musik umgibt. Warum bearbeitet der Deutsche seine Geige derart wild und unheimlich – und vor allem beschäftigt uns die Frage: Für wen spielt er eigentlich? Die Entdeckungen, die unser Student der „metaphysischen Wissenschaften“ macht, sind in der Tat schauerlich und gemahnen zunächst an das unheimliche Geigenspiel des Roderick Usher, den Poe unsterblich machte. Doch Lovecraft geht noch einen Schritt weiter: Das Geigenspiel ist keine Beschwörung, sondern eine Art Beschwichtigung oder Abwehrzauber, um etwas fernzuhalten …

_5) Das Fest_

Unser Chronist ist ein junger Mann, der zur Stadt seiner Väter am Ostmeer (= Providence an der US-Ostküste) gereist ist, von der er nur aus seinen Träumen weiß, aber wohin man ihn gerufen hat. Es ist die Zeit des Julfestes, das unter Christenmenschen als „Weihnachten“ bekannt ist. Nur ist unser Berichterstatter alles andere als ein Christenmensch. Das Land wurde vor 300 Jahren besiedelt, doch sein Volk ist weit älter und kam aus dem Meer, weshalb es noch die alten Riten ehrt.

Er trifft in Kingsport ein, der uralten, verwinkelten Stadt unter dem kirchengekrönten Berggipfel, wo der Friedhof noch viele alte Grabsteine beherbergt, darunter auch die von vier Verwandten, die im Jahr 1692 wegen Hexerei hingerichtet wurden. Er findet das Haus an der Green Lane, das noch vor dem Jahr 1650 erbaut worden ist.

Auf sein Klopfen öffnet ein alter Mann, doch weil der stumm ist, schreibt er dem Besucher seinen Willkommensgruß auf ein Stück Papier. Sein Gesicht ist so wächsern bleich, dass es aussieht, als trage er eine Maske. Zwischen Möbeln aus dem 17. Jahrhundert sitzt eine Alte an einem Spinnrad, die ihm zunickt. Nach der Lektüre bekannter Bücher wie dem verbotenen „Necronomicon“ schließt sich der junge Mann seinen Gastgebern an. In Kapuzenmäntel gehüllt, machen sich die drei auf den Weg, um am Julfest teilzunehmen. Er wundert sich, dass er und seine Begleiter im Schnee keine Fußabdrücke hinterlassen…

|Mein Eindruck|

Die Erzählung ist auf sehr spezifische Weise Teil des Lovecraft-Mythos, wonach in der Gegend von Providence und dem nahe gelegenen Salem im 17. Jahrhundert – historisch belegte – Hexenprozesse stattgefunden haben. Dabei habe es sich um echte Hexer und echte Hexen gehandelt, die und deren Verwandte jedoch überlebt haben. Und wenn nicht in Fleisch und Blut, so doch als Gespenst: als untote Erinnerung.

Geister versammeln sich zum Julfest, um unheilige Riten in den Tiefen der Hügel Neuenglands etc. zu feiern. Neuengland ist bei HPL der Hort von Dimensionstoren, aus denen die Großen Alten, die einst von Göttern vertrieben wurden, wieder in unsere Welt einbrechen, manchmal um unheiligen Nachwuchs zu zeugen („Das Grauen von Dunwich“), manchmal um Menschen zu ihren Jüngern zu machen („Der Fall Charles Dexter Ward“). Dass die alten Salem-Hexer („Das Ding auf der Schwelle“) ihnen helfen, dürfte klar sein. Und dass Cthulhus Nachkommen hier ihre Feste feiern, ebenfalls.

Das alles kann aber nicht verhindern, dass dieser Story irgendwie die Pointe abhanden kommt. Denn was ganz am Schluss folgt, ist viel zu schwach in der Wirkung, um aus der Story viel mehr als eine stimmungsvolle Studie in Horrorphantasien zu schmieden.

_6) Der Ruf des Cthulhu_

Der Erzähler untersucht die Hintergründe des unerklärlichen Todes seines Großonkels Angell, eines Gelehrten für semitische Sprachen, der mit 92 starb. Angel hatte Kontakt zu einem jungen Bildhauer namens Wilcox, der ein Flachrelief sowie Statuen erschuf, die einen hockenden augenlosen Oktopus mit Drachenflügeln zeigten.

Wie sich aus anderen Quellen ergibt, ist dies der träumende Gott Cthulhu (sprich: k’tulu), einem der Großen Alten. Er wird in Westgrönland ebenso wie in den Sümpfen Louisianas verehrt, wo man ihm Menschenopfer darbringt. Am wichtigsten aber ist der Bericht eines norwegischen Matrosen, der im Südteil des Pazifiks auf eine Insel stieß, wo der grässliche Gott inmitten außerirdischer Architektur hervortrat und die Menschen verfolgte – genau zu jenem Zeitpunkt, als Angells junger Bildhauer (und viele weitere Kreative) verrückt wurden.

Der Chronist hat alle Beweise zusammen: Cthulhu und seine Brüder warten darauf, die Erde zu übernehmen, alle Gesetze beiseite zu fegen und eine Herrschaft totaler Gewalt und Lust zu errichten. Man brauche sie nur zu rufen, und sie würden in unseren Träumen zu uns sprechen …

|Mein Eindruck|

Dies ist die grundlegende Erzählung, die jeder kennen muss, der sich mit dem Cthulhu-Mythos und den Großen Alten, die von den Sternen kamen, beschäftigt. Die Geschichte ist trotz ihres recht verschachtelten Aufbaus durchaus dazu angetan, die Phantasie des Lesers anzuregen und ihn schaudern zu lassen.

Das Erzählverfahren ist überzeugend, denn zuerst werden mehrere Berichte eingesammelt und überprüft, bevor im Hauptstück, dem Augenzeugenbericht eines Matrosen, das Monster endlich selbst auftreten darf, um seinen langen Schatten durch die Geschichte/Historie zu werfen.

_7) Die Farbe aus dem All_

Es gibt eine Gegend am Miskatonic westlich von Arkham, wo die Berge steil emporsteigen, die man die „Verfluchte Heide“ nennt. Die früheren Bewohner sind fortgezogen, und Fremde werden hier nicht heimisch, weil schlechte Träume sie heimsuchen. Nur der alte Ammi Pierce, der unweit Arkham lebt, spricht über das, was hier einst blühte und gedieh, an der alten Straße, wo die Farm von Nahum Gardner lag. Die neue Straße macht einen großen Bogen nach Süden um dieses Gebiet herum.

Möge der geplante Stausee bald die verfluchte Heide bedecken und die seltsam unnatürlichen Farben auslöschen, in denen sie funkelt. Aber ob man vom Wasser dieses Sees trinken sollte, fragt sich der Landvermesser, der diese Gegend zuerst besucht hat. Die Heide mit ihrem stinkenden Moder, den verkrüppelten Bäumen und dem verdorrten Gras breitet sich jedes Jahr weiter aus.

Folgendes erfuhr er von Ammi Pierce, dem besten Freund der Familie Gardner: Dort, wo einst die florierende Farm von Nahum Gardner stand, umgeben von fruchtbarem Weideland und Obstanbau, existiert nur noch toter Staub, der das Sonnenlicht in merkwürdigen, unirdischen Farben reflektiert.

Alles begann, nachdem 1882 der Meteorit sich in der Nähe von Nahums Brunnen in die Erde gegraben hatte. Ammi ist überzeugt: Eine fremde Macht aus dem All versank in der Erde, kurz darauf setzten rätselhafte Veränderungen bei Tieren und Pflanzen ein. Die Natur schien aus dem Gleichgewicht, die armen Menschen – zuerst Mrs Gardner – wurden von einem Wahnsinn ergriffen oder verschwanden spurlos, und alle Dinge weit und breit begannen, in unbeschreiblichen, widerwärtigen Farben zu leuchten – bis heute…

|Mein Eindruck|

Dies ist eine der besten Geschichten des Meisters aus Providence. Sie besticht den Leser bzw. Hörer durch ihre reportagehafte Genauigkeit, die Kühlheit ihrer genauen Beschreibungen, die trotz des horriblen Inhalts dennoch von der Vernunft gesteuert werden, als habe Edgar Allan Poe selbst die Feder des Schreibers geführt. Auch die „Einheit der Wirkung“, eine zentrale Forderung Poes von der Kurzgeschichte, ist vollständig und vorbildlich erfüllt.

Diese Geschichte steigert sich in Stufen und mit Verschnaufpausen bis zu einem solch phantasmagorischen Moment kosmischen Schreckens, dass es ein Wunder wäre, wenn der Leser bzw. Hörer nicht davon ergriffen würde. Zuerst zeigen sich nur leise Andeutungen, die sich zunehmend verdichten, je schwerer die Beeinträchtigung von Nahum Gardners Farm wird. Ammi Pierce ruft auch Wissenschaftler der Miskatonic Universität herbei, die aber auch nicht allzu viel ausrichten können. Sie finden allerdings Kugeln in einer unirdischen Farbe, und es ist anzunehmen, dass diese Substanzen ihren Weg in den Brunnen und somit ins Trinkwasser der Gardners finden.

Schon bald ändert sich der Geisteszustand von Mrs Gardner. Ihr Mann sperrt sie auf den Dachboden, ihr folgen ihre drei Söhne. Das menschliche Drama nimmt seinen Lauf, bis selbst der Alte vom Wahnsinn ergriffen wird. Erst als Ammie Pierce Nachbarn und besorgte Bücher mobilisiert, um nach ihm zu sehen, erreicht der Horror seinen Höhepunkt. Sie blicken aus dem Farmhaus hinaus auf eine Vision der Hölle. Denn nun wächst das Grauen um eine weitere Dimension: das Grauen wird kosmisch. Es kommt von den Sternen und es kehrt zu den Sternen zurück, allerdings nicht ohne ein sinistres Erbe zu hinterlassen: die sich ausbreitende „verfluchte Heide“.

Diese Heide birgt etwas, das nicht nur physisch existiert, sondern auch die Träume des Heidebesuchers heimsucht. Wie schon Nahum Gardner sagte: „Es zieht einen an, man kommt nicht weg.“ Und deswegen blieb er auf seiner Farm bis zum bitteren Ende, ähnlich wie Ammi Pierce. Und ob der Landvermesser je davon loskommt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

_8) Geschichte des Necronomicons_

Ein kurzer Abriss über die Biografie Abdul Alhazreds, dem Autor von „Al Azif“, dem späteren „Necronomicon“. Der Araber habe es angeblich um 730 n.Chr. geschrieben. Eine Chronologie listet die allesamt unterdrückten Ausgaben auf. Aber nirgendwo steht, warum Alhazred das verfluchte Buch schrieb, noch, was darin steht. Eine Andeutung liefert lediglich der Umstand, dass der Autor angeblich von einem selbst beschworenen Dämon verschlungen worden sei. Motto: Caveat auctor!

|Mein Eindruck|

Eine pseudo-literaturhistorische Abhandlung, die zentrale Fragen außer Acht lässt. Nur für HPL-Anhänger interessant.

_9) Handlung von DER FALL CHARLES DEXTER WARD_

Im Rückblick erscheint es dem Beobachter sonderbar, dass aus einem freundlichen Jungen ein Wahnsinniger in der Psychiatrie wurde, und das binnen weniger Jahre. Man hätte nicht gedacht, dass aus ihm ein Erwecker widernatürlicher außerirdischer Mächte werden würde.

Charles Dexter Ward wächst Anfang des 20. Jahrhunderts als Sohn eines wohlhabenden und anständigen Mannes im schönen Hafenstädtchen Providence in Rhode Island auf. Zu gern streunt er durch die verwinkelten Gassen, die sich von seinem Elternhaus auf dem Hügel bis zu den Hafenkais hinabziehen. Das geht so, bis er im vorletzten Jahr seiner Schule ist. Da entdeckt er seine Vorliebe für Ahnenkunde und Geschichtsforschung.

Ward dringt immer weiter in die Vergangenheit seiner Familie ein und stößt 1918 auf ein von den Stadtvätern seit 150 Jahren unterdrücktes Geheimnis. Wards Ururugroßvater ist ein gewisser Joseph Curwen, der im Jahr 1692 aus Salem, Massachusetts, nach den dortigen Hexenprozessen, ins friedliche, liberale Providence floh. Merkwürdig war nur, das Curwen selbst im hohen Alter, also etwa 1770, keinen Tag älter als 30 Jahre aussah. Ward stößt in Curwens altem Stadthaus auf ein verborgenes Gemälde: Curwen sieht fast aufs Haar genauso aus wie Ward aus, bis auf eine kleine Narbe über dem Auge.

Mit der Verpflanzung dieses Gemäldes scheint das Unheil begonnen zu haben, erinnert sich der engste Freund der Familie, Dr. Marinus Willet. Denn Joseph Curwen ist in der Stadtgeschichte mit einer großen Aktion gegen ihn und seine Machenschaften verknüpft: Auf Curwens Bauernhof in der Vorstadt Pawtuxet wurden unheilige Riten abgehalten, Lichter stiegen gen Himmel auf und einmal wurden im nahen Bach Knochen und eine sonderbare Leiche gefunden, vom grässlichen Gestank, der dort herrschte, ganz zu schweigen.

Die Stadtväter sahen sich gezwungen, mit hundert Mann gegen Curwen vorzugehen und sein Nest auszuräuchern. Sie waren so erbost über das, was sie vorfanden, dass sie Curwen auf der Stelle töteten. Es ist bemerkenswert, dass niemand über die Geschehnisse dort redete. Curwens Grabstein wurde unkenntlich gemacht, sein Name getilgt.

Deshalb versetzt es die Verwaltung ab ca. 1924 in Alarmzustand, als man mehrmals Leute auf dem Friedhof beobachtet, die sich an Grabsteinen zu schaffen machen. Wards Vater und Dr. Willet sind alarmiert, als sich der junge Charles gegen das College entscheidet und sich 1924 lieber nach Europa aufmacht, um dort seine „Studien“ zu vertiefen. Wie sich später zeigt, besucht er frühere Kollegen des „Hexenmeisters“ Curwen, die ebenso wenig gealtert sind: einer in Prag und einer in Transsilvanien. Es sind Freunde aus der Salemer Zeit vor den Hexenprozessen. Und sie alle haben ein bestimmtes Interesse: Nekromantie – die Beschwörung von Toten.

Nach seiner Rückkehr richtet sich Charles ein chemisches Labor ein und beginnt sowohl zu experimentieren als auch Anrufungen und Riten zu vollziehen, dass es seinen Mitbewohnern und selbst den Haustieren graust. Er schlägt den gleichen Werdegang ein, den Joseph Curwen seinerzeit gegangen war – und der kann nur ins Verderben führen. Er findet den Sarg und stiehlt Curwens Leiche, doch hat er sich verrechnet: Curwen bemächtigt sich als Wiedergänger des Geistes und der Gestalt seines jungen Nachfahren und geht wieder seinen alten Umtrieben nach.

Als Dr. Willet am Höhepunkt der schauderhaften Vorgänge um den armen Charles dessen „Bungalow“ untersucht, der auf dem gleichen Grundstück steht wie vor 150 Jahren Curwens Bauernhof, stößt er auf unfassbare Gräuel, die sich in den untersten Gewölben abgespielt haben müssen: Geisterbeschwörungen und Leichenschändungen – Nekromantie.

Leider beschwört Willet aus Versehen einen alten Feind der Menschen: den Großen Alten namens Yog-Sothoth, den „Wächter des Tores“…

|Mein Eindruck|

Im Gegensatz zu dem Verfahren von Edgar Allan Poe ist H. P. Lovecraft nicht am Innenleben seiner Hauptfigur interessiert. Vielmehr bekommen wir Leser immer nur die Perspektive von Berichterstattern und Zeugen vorgesetzt, die beglaubigen sollen, wie furchtbar das Schicksal des jungen Ward doch sei. Dies dient dazu, die Schrecken, die beschworen werden, auch realistisch wirken zu lassen. Die Zeugen – allen voran Dr. Willet – stellen ihre Vermutungen darüber an, was Ward zur Nekromantie bewogen haben mag.

|Locations|

Alle liebevoll geschilderten Schauplätze wie die Stadt Providence, Wards Elternhaus, aber besonders das frühere Stadthaus Curwens und sein abgelegener Bauernhof (eine bevorzugte „location“ aller Cthulhu-Autoren) belegen, wie realistisch der Werdegang des jungen Ward ist. Denn dies ist die Historie, in der er aufwächst – eine redigierte Historie, wie er selbst herausfindet, in der der schwarze Fleck des J. Curwen fast vollkommen getilgt worden ist. Doch eben nur fast. Aus kleinen Hinweisen erschließt sich Ward wie ein Detektiv à la Poe die Vorgeschichte seines eigenen Geschlechts und somit auch seiner Heimatstadt (die für Amerika allgemein steht).

|Wahnsinn – auch in HPLs Familie|

Doktor Willet ist überzeugt, dass bis zu diesem Punkt Ward völlig zurechnungsfähig gewesen sei. Doch an welchem Punkt begann Wards Wahnsinn? In diesem Punkt gehen die Meinungen von Dr. Willet und den Irrenärzten aus Providence und Boston stark auseinander.

Lovecraft ist auch hierfür Experte: Sein Vater kam 1892 in die Psychiatrie und starb dort, als Howard gerade mal sieben Jahre alt war. Man kann sich vielleicht seinen Schrecken ausmalen, als auch seine Mutter begann, geistige Verwirrung und Psychosen an den Tag zu legen. Sie starb 1921 in der gleichen Nervenheilanstalt wie HPLs Vater. (HPL konnte seine Freiheit mit seiner Frau Sonia Greene, einer New Yorker Schauspielerin, nicht genießen: Seine beiden Tanten Annie und Edna wachten nun ebenso streng über ihn wie vormals seine Mutter.)

An welchem Punkt kann man noch von chemischen Experimenten sprechen und wann von Okkultismus? Lovecraft war ein Experte in Sachen Geheimlehren, Okkultismus, Hexenglaube usw. Er hatte als Wunderkind schon mit sechs Jahren begonnen, die ersten Geschichten zu schreiben und verschlang Bücher geradezu: Die Bibliothek seines Vaters umfasste an die 2000 Bände. Ständig tauchen in seinen Geschichten Bibliotheken und Museen als Hort des Wissens – auch verbotenen Wissens – auf. Auf dieser Grundlage beschäftigte er sich, wie sein Held Ward, mit der Geschichte seiner Heimatstadt und der Umgebung, insbesondere Salems – und aufgrund der dortigen Hexenprozesse natürlich mit Hexenwahn usw.. So weist Curwen beispielsweise ein schwarzes Hexenmal auf. Es dient dazu, ihn von Ward zu unterscheiden, der lediglich ein Muttermal hat.

|Entgleisung, Verdrängung|

Wie konnte es zu Wards Persönlichkeitsverdrängung durch Curwen kommen? Im Roman wird es durch eine mittelalterliche Geheimlehre eines gewissen Borellus erklärt. Doch in modernen Begriffen formuliert, könnte man vom übermächtigen Einfluss der Vergangenheit auf die gegenwärtige seelische und geistige Entwicklung des einsamen aufwachsenden, rückgratlosen jungen Ward sprechen. Der Einfluss der Mutter ist völlig ausgeschaltet – sie wird sogar aus Sicherheitsgründen nach Atlantic City in die Kur geschickt. Bleiben also nur standhafte Männer wie Dr. Willet, um Wards Entgleisung zu protokollieren und schließlich zu stoppen.

Was mir leider nicht ganz klar wurde, ist der finstere Drang, der Ward dazu bringt, Curwen auszubuddeln, dessen Forschungen weiterzutreiben, ihn zurück ins Leben zu bringen und so den eigenen Untergang heraufzubeschwören. Einmal verdrängt, ist Ward eine Sache der Vergangenheit. Ich kann es mir nur damit erklären, dass Ward von Curwen Hilfe erwartete, als er Nekromantie und Dämonenbeschwörung ausüben wollte – in dem frevlerischen Bemühen, immer mehr Wissen von den Toten zu erlangen. Ward ging also einen faustischen Pakt mit seinem Vorfahren ein und verlor.

|Spannung bis zur letzten Seite|

Hätte Lovecraft seinen gelungenen „magischen“ Roman wie einen „normalen“ Bildungsroman aufgebaut, so wäre das Thema in Langeweile untergegangen. Lovecraft geht ganz anders vor: Er beginnt mit dem Ende. Ward ist aus der Irrenanstalt ausgebrochen, heißt es, man muss mit dem Schlimmsten rechnen. Doch wie konnte es dazu kommen? Nun beginnt mit dem zweiten Kapitel nicht Wards Geschichte, sondern die von Joseph Curwen, ebenfalls wieder berichtet nach Zeugenaussagen und Briefen, wie sie später Ward zur Verfügung standen.

Das Curwen-Geschehen steigert sich bis zu seinem tödlichen Finale. Als dann endlich der im Prolog erwähnte junge Held auf die Bühne tritt, ahnt der Leser schon den düsteren Schatten der Vergangenheit, der über Wards Haupt schwebt. Und so steigert sich auch diese Hälfte der Romanhandlung zu ihrem Finale.

Auftritt Dr. Willet: Er spürt dem Geheimnis unter dem Grundstück in Pawtuxet nach – und fällt von einem Grauen in den nächsten Schrecken – bis endlich ein oder sogar zwei Finali mehr nötig werden. Wie auch in „Schatten über Innsmouth“ erzeugen die späten Wendungen des Plots eine weitere, kaum für möglich gehaltene Steigerung des Grauens. Allerdings kommt für Kenner dieses Ende nicht sonderlich überraschend. Aber für Spannung ist immerhin gesorgt. Und der obligate Schreck fährt dem Leser denn auch noch in der letzten Zeile in die Glieder.

_10) Das Grauen von Dunwich_

In der ländlichen Gegend der Aylesbury-Hügel Neuenglands soll es mehrere Opferstätten gegeben haben, mit stehenden Steinen und Felsplatten, auf denen satanische Riten vollzogen wurden. Die Wichtigste davon ist der Sentinel Hill: Hier stinkt es, und der Berg grollt – besonders zu Walpurgis (30.4.) und Halloween (31.10.).

Die Menschen, die hier siedeln, sind einfache Bauern – mit zwei Ausnahmen: den bessergestellten Sippen der Whateleys und der Bishops, die beide aus Salem stammen, wo im 17. Jahrhundert die berühmten Hexenprozesse stattfanden. Es geht um einen Sippenzweig, den man allgemein die Hexen-Whateleys nennt und der abgelegen wohnt.

Am 2.2.1913 kommt Wilbur Whateley zur Welt, und sein Vater ist unbekannt. Seine Mutter ist die albinoweiße und entstellte Lavinia, die im Haus ihres Vaters, des Alten, lebt. Wilbur wächst rasend schnell, nicht nur körperlich, sondern auch geistig, und sieht aus wie ein Ziegenbock. Er versetzt alle Hunde in Wut und erschießt auch den einen oder anderen. Schon mit vier Jahren ist er so groß wie ein 15-jähriger. Sein Vater lehrt ihn die Geheimnisse der Großen Alten. Im Obergeschoss lebt aber noch ein weiteres Wesen, das man nie zu Gesicht bekommt, sondern nur hören und – leider – riechen kann.

Als der Alte stirbt, bekommt der junge Wilbur, inzwischen über 2,10 Meter groß, ein Problem: Er muss die Verbindung zwischen dem Wesen im Obergeschoss und dessen Vater Yog-Sothoth herstellen, damit es gelenkt werden kann. Leider fehlt ihm dazu die korrekte Beschwörungsformel in seiner Ausgabe des verbotenen Buches „Necronomicon“. Durch seinen (vergeblichen) Besuch in der Uni-Bibliothek von Arkham alarmiert er die dortigen Gelehrten, der sofort alle anderen Bibliotheken verständigt. Daher versucht Wilbur eines Nachts, das Buch aus der Uni zu rauben – und der Anblick, der sich den Gelehrten bietet, ist nicht abdruckfähig.

Während der Bibliotheksleiter Dr. Henry Armitage fieberhaft das Tagebuch Wilbur zu entschlüsseln versucht, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, bricht das Wesen in Dunwich aus und verbreitet Angst und Schrecken: Durch Unsichtbarkeit unangreifbar, frisst es nicht nur Viehherden, sondern auch deren Besitzer.

Doch dann findet Armitage eine Gegenbeschwörung, und zusammen mit zwei Kollegen sowie den Bauern der Gegend ziehen die Ghostbuster aus, dem dämonischen Ungeheuer, das bislang niemand gesehen hat, aber groß wie ein Haus sein muss, den Garaus zu machen.

|Mein Eindruck|

Dieser fast 70 Seiten lange Kurzroman ist in zehn Kapitel eingeteilt und konsequent auf die Erzielung eines bestimmten Effektes – kosmischen Grauens – ausgerichtet. Der Horror kommt in sich steigernden Stufen, eine unheilvoller als die vorangegangene – bis zum Finale und einer Pointe, die auf den Anfang verweist, wodurch sich die schauderhafte Wirkung noch einmal potenziert (also nichts für zarte Gemüter). Man beachte: Nahe dem englischen Aylesbury befindet sich Stonehenge, und die Novelle kann als Kommentar auf englische Verhältnisse gedeutet werden um 1930 gedeutet werden, als auch dort der Faschismus aufkam.

_11) Der Flüsterer im Dunkeln_

Man schreibt das Jahr 1927, als große Hochwasser die Flüsse des bergigen US-Bundesstaates Vermont anschwellen lassen. Dabei werden merkwürdige Kadaver angeschwemmt, die vage an Krebse mit Schwingen erinnern. Die Zeitungen sind voll von Spekulationen, doch der Ich-Erzähler Albert Wilmarth, seines Zeichens Uni-Dozent in Arkham, will sich diesen Spinnereien nicht anschließen. Dennoch zählt er gewissenhaft all die einheimischen Legenden sowohl der Kolonisten wie auch der Indianer auf. Demnach haben sich in den unzugänglichen Bergen Außerirdische niedergelassen, um nach Metall zu schürfen, dass sie sonst nirgendwo bekommen.

Im April 1928 erhält Wilmarth den ersten Brief von Henry Wentworth Akeley, einem geachteten Privatgelehrten aus uralter angesehener Familie. Er bestätigt, dass diese Berichte und Legenden einen Funken Wahrheit enthielten. In einem zweiten Brief schickt er Dokumente wie etwa Fotos sowie einen schwarzen Stein mit einer unbekannten Inschrift mit. Der Höhepunkt ist jedoch ein Tondokument, das eines der Phänomene dokumentiert, die in jener Gegend am Dark Mountain wahrzunehmen waren: Eine menschliche Stimme und eine summende, nichtmenschliche Stimme preisen ein Wesen namens Shub-Niggurath, die „Schwarze Ziege aus den Wäldern mit den tausend Jungen“.

Wilmarth läuft ein kalter Schauder den Rücken hinunter und ein namenloses Grauen erfasst sein Herz. Soll er den Phänomenen auf den Grund gehen? Der immer ausgedehnter werdende Briefwechsel mit Akeley drängt ihn dazu, sich in größte Lebensgefahr zu begeben. In den Bergen um den Dark Mountain wartet man bereits auf sein Erscheinen, und es wird denn auch durch Akeleys seltsamen letzten Brief ausgelöst.

Akeley äußert sich darin voller Verständnis und keineswegs mehr grauenerfüllt gegenüber den Außerirdischen, verrät sogar einige ihrer Geheimnisse: Sie hätten eine Operationsbasis auf dem Planeten Yuggoth errichtet, der jenseits des Neptun seine Kreisbahn ziehe und von irdischen Astronomen erst in Kürze entdeckt werde (der Pluto). Akeley drängt Wilmarth, schnellstens zu kommen und dabei keinesfalls sämtliche Beweisstücke zu vergessen. Diese würden noch gebraucht. Wilmarth nimmt den Zug und wird am Zielbahnhof von einem schweigsamen jungen Mann abgeholt.

Um Akeleys Haus herrscht zwar eine Grabesstille – keine Spur von Vieh oder Wachhunden – doch der Mann selbst lebt noch, wenn er auch unter einem asthmatischen Fieber leidet und so stark vermummt ist, dass nur sein Gesicht aus dem Halbdunkel hervorschaut, in das das Zimmer getaucht ist.

Mit wachsender Verwunderung lauscht Wilmarth dem halb gesummten Monolog Akeleys, während eine seltsame Vibration sein Gehirn erfüllt. Dann schlägt die Verwunderung in wachsendes Grauen um.

|Mein Eindruck|

Der Übergang von der Horrorstory zur Science-Fiction-Erzählung ist – wie in „Die Farbe aus dem All“ – fließend. Wie schon oben erwähnt, handelt sich bei den Monstren auf Akeleys Grundstück und in den Bergen ringsum tatsächlich um Außerirdische. Sie haben, so erfährt Wilmarth aus dem letzten merkwürdigen Brief Akeleys, eine Basis auf dem Planeten Pluto errichtet, den sie Yuggoth nennen.

Und sie haben eine Technik entwickelt, um das Gehirn vom restlichen Körper abzutrennen und auf Reisen schicken zu können. Tatsächlich begegnet Wilmarth in Akeleys Haus einem dieser mobilen Gehirne, das mittels dreier Schaltungen zu sprechen, zu sehen und zu riechen in der Lage ist. Akeley offeriert Wilmarth, sein Gehirn auf diese Weise zu mobilisieren und zu unbekannten, immens weit entfernten Welten mitzunehmen. Wilmarth fasst dies als Drohung auf: Will man ihn erst seines Körpers und dann seiner Menschlichkeit berauben?

Die Story ist so ungemein geschickt erzählt, dass die Pointe erst ganz am Schluss, im letzten Satz, gesetzt wird, so dass sie den Leser mit voller Wucht trifft. Allerdings ist die Erzählweise nicht kunstvoll genug, um den Leser daran zu hindern, nicht schon frühzeitig die richtigen Schlüsse ziehen zu lassen. Der Schluss kommt also für den gewieften Leser nicht allzu überraschend.

Es gibt auch einen kleinen Insiderwitz, den ich meinem Leser nicht vorenthalten möchte. Im letzten Drittel erwähnt Akeley einen „Hohepriester Klarkash-ton“. Damit ist kein anderer als Clark Ashton-Smith gemeint, einer der engsten Schriftstellerfreunde von H.P. Lovecraft.

Die Erzählung ist einer der Höhepunkte im Zyklus um den „Cthulhu-Mythos“, auch wenn sie meiner Ansicht nach schwächer ist als etwa „Schatten über Innsmouth“. Das liegt zum Teil daran, dass Wilmarth nicht vorbelastet, sondern im Gegenteil geradezu ein Saubermann ist. So bleibt die Grenzlinie zwischen Uns (Wilmarth & Co.) und Denen (Aliens & Handlanger) durchweg aufrechterhalten, wohingegen sie in „Schatten über Innsmouth“ komplett zusammenbricht, was doch einen beträchtlich größeren Horroreffekt auf den Leser ausübt.

Während „Innsmouth“ den Alien IN UNS aufspürt, zeigt uns Akeley den Alien da DRAUSSEN. Dort draußen, das ist Yuggoth alias Pluto, wo die Aliens ihren Stützpunkt errichtet haben, quasi einen Umsteigebahnhof für reisende Gehirne, aber auch Umschlagplatz für auf Erden abgebautes Eisenerz. Deshalb ist der Science-Fiction-Aspekt in dieser Erzählung viel gewichtiger als in den anderen Cthulhu-Stories. Wie bei den mobilen Hirnen (vgl. Stanislaw Lem) nimmt auch die Idee einer Alien-Operationsbasis viele spätere Space Operas vorweg.

_12) Vorwort von Marco Frenschkowski_

In seinem Vorwort stellt der Theologe den Autor vor und grenzt dessen Art von übernatürlichen Erzählungen ganz deutlich von der Fantasy ab. Während die Fantasy das Vertraute in verschiedenen Masken des Ich sucht und somit stets menschliche Themen findet, wird Lovecraft in seinen fiktionalen Erkundungen stets beim Fremdartigen fündig. Seine Götter sind echte Aliens, also andersartige Fremde.In diesem Sinne sind seine Erzählungen auch religiös, aber auf eine ganz eigene Weise. HPL leugnet nicht die Existenz von Göttern, sondern den Glauben an sie, daher nennt ihn Frenschkowski einen Atheisten statt einen Agnostiker.

Der Theologe wirkt etwas widersprüchlich. Erst spricht er dem Cthulhu-Mythos die Merkmale eines Mythos ab, dann fragt er, ob diese Mythologie eine religiöse Bedeutung habe. Ich pflichte ihm allerdings bei, wenn er sagt, dass die Erzählungen HPLs, in denen die Großen Alten vorkommen, noch längst keinen zusammenhängenden Kosmos ergeben. Deshalb lässt sich eher von einem Legendarium à la Tolkien sprechen als von einem erzählerischen Kosmos mit einer eigenen Geschichte. Cthulhu & Co. dienen lediglich als Roter Faden.

_Unterm Strich_

Dieser erste Band aus der „Chronik des Cthulhu-Mythos“ präsentiert mit „Der Ruf des Cthulhu“ und „Der Fall Charles Dexter Ward“ bereits zwei zentrale Texte des sogenannten „Mythos“. Man sollte sie kennen. Doch der nur auf schnellen Konsum bedachte Interessent sei gewarnt: Die Kurzgeschichten mögen schnell zu lesen sein und schnellen Genuss ermöglichen, doch „Der Fall Charles Dexter Ward“ verweigert sich diesem Ansinnen beharrlich (ebenso übrigens wie die anderen Romane HPLs). Dessen Handlung läuft auf mehreren Zeitebenen und mit zwei Hauptfiguren (Ward und Curwen) in einer sehr detailliert geschilderten Lokation ab, nämlich dem freigeistigen Providence, Rhode Island. Hier heißt es „mitdenken und den Überblick behalten“!

Der Theologe Marco Frenschkowski liefert in dieser Ausgabe sehr aufschlussreiche Einleitungen zu den einzelnen Erzählungen, zu ihrer Bedeutung in HPLs Leben und Werk, zu ihrer Entstehungs- und Publikationsgeschichte und zu ihren literarischen Folgen.

Ganz besonders umfangreich widmet er sich dem Roman „Der Fall Charles Dexter Ward“, der zu Lovecrafts ausgefeiltesten Texten gehört. Der Autor widmete sich laut Frenschkowski deshalb so ausführlich der Geschichte, weil er Providence, den Schauplatz der Handlung, wo er ja selbst zeit seines Lebens – bis auf zwei jahre in New York City – lebte, innig liebte. Die Hauptstadt von Rhode Island spielt nicht nur eine zentrale Rolle, sondern ist selbst ein Charakter in der Story. Warum das so ist, wie sich dies äußert, wie es sich belegen lässt und was dies für Folgen in der Story für Ward und Curwen hatte, kann Frenschkowski mit einer Fülle von Forschungsergebnissen und sogar eigenen Erlebnissen vor Ort veranschaulichen.

Hilfreich sind auch seine Hinweise zu „Das Grauen von Dunwich“. Er sagt, dass sich die Geschichte vollständig verstehen lasse, wenn man Arthur Machens Erzählungen „Der große Gott Pan“ (1893) und „Das weiße Volk“ (1899) kenne. Das mag durchaus plausibel sein, denn Lovecraft schrieb nicht für die allgemeine Öffentlichkeit, sondern für einen engen Freundes- und Bekanntenkreis Gleichgesinnter. Bei diesen könnte er solche intertextuellen Bezüge als bekannt voraussetzen. Ja, dabei ging er soweit, dass er augenzwinkernd andere Autoren wie Clark Ashton Smith in seine Text einbaute und von ihnen Namen und Motive borgte. Über seine bekannte Verehrung für Poe und Dunsany braucht man kein Wort mehr zu verlieren.

Dass der Kommentator Theologe ist, erweist sich immer wieder als von großem Vorteil. So ist es ihm möglich, die alchimistischen bzw. magischen Rituale Curwens bis ins kleinste Detail zu entschlüsseln – und sogar HPLs Irrtümer und Fehler aufzuspüren und zu korrigieren.

Obwohl es sich also um keine historisch-kritische Werkausgabe im wissenschaftlichen Sinne handelt (ein Index fehlt ebenso wie eine Bibliografie), erhält man doch für ein geringes Entgelt einen hochwertigen Kommentar, der zum Verständnis der Texte beiträgt, sich aber jeder inhaltlichen Kritik enthält (im Unterschied etwa zu S. T. Joshis HPL-kritischen Arbeiten). Damit steht dem Vergnügen an den Texten nichts mehr im Wege.

Taschenbuch: 499 Seiten
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3865521446
www.festa-verlag.de