Kommentierte Werkausgabe Teil 2: Kosmischer Horror
Diese Chronik in zwei Bänden vereint erstmals die vollständigen Werke Lovecrafts zum Cthulhu-Mythos. In Band 2 sind die Novellen BERGE DES WAHNSINNS, DER SCHATTEN ÜBER INNSMOUTH und die Kurzgeschichten „Träume im Hexenhaus“, „Das Ding auf der Schwelle“, „Der Schatten aus der Zeit“ und „Jäger der Finsternis“ enthalten. Mit einer Einleitung und ausführlichen Erläuterungen zu den einzelnen Werken von Dr. Marco Frenschkowski. (erweiterte Verlagsinfo)
Der Autor
Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) wird allgemein als Vater der modernen Horrorliteratur angesehen. Obwohl er nur etwa 55 Erzählungen schrieb, hat sein zentraler Mythos um die Großen Alten, eine außerirdische Rasse bösartiger Götter, weltweit viele Nachahmer und Fans gefunden, und zwar nicht nur auf Lovecrafts testamentarisch verfügten Wunsch hin.
Aber Lovecrafts Grauen reicht weit über die Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen.
Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit. Auf Einstein verweist HPL ausdrücklich in seinem Kurzroman „Der Flüsterer im Dunkeln“.
PD Dr. Marco Frenschkowski, Jahrgang 1960, ist evangelischer Theologe und Religionswissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte: Antike und moderne Religionsgeschichte sowie das Verhältnis von Religion und Kultur.
DIE ERZÄHLUNGEN
1) Handlung von BERGE DES WAHNSINNS (entstanden 1930)
Was geschah auf der Expedition in jenes Bergtal in der Antarktis, dass der Student Danforth dem Wahnsinn verfiel? Als der Expeditionsleiter William Dyer Danforth in der Nervenheilanstalt besucht, berichtet Danforth wieder von den Alten Wesen, die in Wahrheit seit jeher über die Erde geherrscht hätten. Dyer widerspricht ihm nicht, denn er hat sie ja selbst gesehen.
Genau deshalb besucht er einen Professor in Boston, um ihn zu bitten, dass er die neuerliche Expedition, die Starkweather und Moore 1932 organisiert haben, in die Antarktis aufbricht. Er warnt ihn eindringlich vor den Gefahren, nicht zuletzt vor dem schier unaussprechlichen Horror, auf den er und Danforth dort gestoßen sind. Dyer warnt eindringlich vor dem Versuch, die Eismassen abzuschmelzen oder gar Bohrungen vorzunehmen. Waren diese doch seiner eigenen Expedition zum Verhängnis geworden. Da der Professor mehr und vor allem deutlichere Begründungen fordert, muss Dyer genauer berichten, was sich vor zwei Jahren, anno 1930, zugetragen hat …
Dyers Expeditionsbericht
Prof. William Dyer ist Geologe an der Miskatonic University von Arkham, unweit Boston. Da Prof. Frank Pabodie neuartige Bohrer hergestellt hat, sieht sich Dyer in der Lage, auch in der Antarktis nach ungewöhnlichen Gesteinen zu suchen. Er lädt den von ihm bewunderten Anthropologen Prof. Lake ein mitzukommen, und dieser sagt freundlich zu. Außerdem werden die drei Profs von ihren jeweiligen Assistenten begleitet, darunter Danforth, Moulton und Gedney. Lake hält Danforth für einen „Backfisch“, aber immerhin haben beiden das verfluchte Buch „Necronomicon“ des verrückten Arabers Abdul Alkazred gelesen, ein zweifelhaftes Vergnügen, das nicht jedem Menschen vergönnt ist, denn das Buch ist in einem verschlossenen Raum der Bibliothek der Miskatonic-Uni weggesperrt.
Die zwei Schiffe „Miskatonic“ und „Arkham“ gelangen schließlich unter dem Kommando von Kapitän Douglas ins Zielgebiet, dem Rossmeer. Hier ragt der immer noch aktive Vulkan Erebus empor, und der Rossschelfeisgletscher bricht hier ins Meer ab. Die Gegend gemahnt Danforth an die kalten Ebenen von Leng, über die er bei Alhazred gelesen hat. Er vermeint ein sonderbares Pfeifen zu hören, das sich mit dem Wind vermischt, der von den Perry-Bergen herunterbläst. Eine Luftspiegelung gaukelt ihm emporragende Burgen auf diesen steilen Höhen vor.
Am Monte Nansen weiter landeinwärts schlägt die Expedition ihr Basiscamp auf, und mit den vier Flugzeugen erkunden sie das Terrain ebenso wie mit Hundeschlitten. Schon bei den ersten Grabungen stößt Prof. Lake auf höchst ungewöhnliche Fossilien, die es hier gar nicht geben dürfte. Zwar ist bekannt, dass vor 50 Mio. Jahren die Erde sehr viel wärmer war und Dinosaurier auch Antarktika bewohnten, doch all dies endete vor spätestens 500.000 Jahren mit der ersten Eiszeit, der weitere folgten. Lake, dessen Funde bis ins Präkambrium zurückdatieren, setzt seinen Willen durch, noch weitere Stellen zu suchen. Auf einer weiteren Schlittenexkursion findet er mehr solche Fossilien, die es nicht geben dürfte.
Lakes Expedition
Am 24. Januar, mitten im Hochsommer der Südhalbkugel, startet Lake, um ein Camp 300 km entfernt auf einem Plateau zu errichten. Dem Expeditionsleiter berichtet er mit Hilfe des Funkgeräts. Seine Stimme ist gut zu verstehen. Sie mussten notlanden, und das Camp ist von quaderförmigen Strukturen und Höhlen umgeben. Eine Bohrung führt dazu, dass ihr Bohrer in eine Höhlung unter dem Eis fällt. Beim Eindringen in diese Höhle stoßen Lake und Moulton auf Specksteine, die fünf Zacken ausweisen, also eindeutig bearbeitet wurden – mitten zwischen Saurierknochen und Abdrücken von Palmblättern. Außerdem stoßen sie auf große tonnenförmige Gebilde, von denen sie vierzehn Stück bergen und aufs Plateau schaffen, um den Inhalt zu untersuchen.
Die Hunde reagieren sehr aggressiv auf diese Gebilde, und als Lake sie seziert, erinnern sie ihn an die Cthulhu-Wesen, die Alhazred beschrieb: eine fünfeckiger Kopf mit einem Kranz seitlich angebrachter Wimpern usw. Und es hat fünf Hirnhälften. Lake erinnert sich: „Das ist nicht tot, was ewig liegt, bis dass die Zeit den Tod besiegt.“ In seiner letzten Nachricht berichtet Lake, die Köpfe seien von der Sonne aufgetaut worden. Dann meldet er sich nicht mehr.
Die Rettungsexpedition
Mit dem zurückgehaltenen fünften Flugzeug fliegt Dyer mit Danforth und Pabodie zu Lakes Camp. Sie finden entsetzliche Verwüstung vor. Alle Hunde wurden zerfleischt, von den Männern ist zunächst keiner zu sehen, obwohl überall Blut ist – und Gestank. Sie stoßen auf sechs Gräber, die sternförmig angelegt sind, aber wo sind die restlichen acht Wesen? Die Leichen von elf Männern sind zum Teil seziert, doch von einem Mann fehlt jede Spur: Gedney. Er hat auch einen Hund mitgenommen. Können sie ihn noch retten?
Dyer und Danforth machen sich auf den Weg, um die ausgedehnte fremde Stadt, die sich beim Anflug entdeckt haben, zu erkunden und vielleicht eine Spur von Gedney zu finden. Welches Wesen mag das Camp derartig verwüstet haben? Sie werden es herausfinden und wenn es sie den Verstand kostet …
Mein Eindruck
Die Antarktis-Expedition des Geologen Dyer stößt auf eine uralte Stadt, die von einer außerirdischen, vormenschlichen Zivilisation errichtet wurde. Und Andeutungen legen nahe, dass auf dem Meeresgrund noch viele weitere solche Städte auf ihre Entdeckung warten. Ob das für die heutige Menschheit so gut wäre, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. In der Stadt unter dem Eis vertreibt ein unheimlicher Wächter die neugieriger Forscher, und solche könnte es auch in weiteren Ruinen geben. Dyers Assistent Danforth hat den Wächter und dessen Brut gesehen und ist darüber verrückt geworden ….
Lovecraft setzte mit diesem Kurzroman das Romanfragment „Arthur Gordon Pym“ von Edgar Allan Poe fort. Wo Poes Romanfragment abbricht, greift er die Szenerie, wenn auch nicht die Figuren, wieder auf, insbesondere den unheimlichen Ruf „Tekeli-li! Tekeli-li!“ Diesen Ruf stoßen zwar bei Poe weiße Vögel aus, doch bei Lovecraft wird der Ruf einem weitaus gefährlicheren Wesen zugewiesen. Um was es sich dabei handelt, wird nie hundertprozentig klar, denn es ist protoplasmisch und somit formlos.
„Berge des Wahnsinns“ ist einer der bedeutenden Kurzromane, die Lovecraft am Ende seines Lebens – er starb sieben Jahre nach der Niederschrift bzw. ein Jahr nach der Veröffentlichung – innerhalb seiner Privatmythologie schrieb. Bemerkenswert ist auch, dass es sich im Grunde um moderne Science-Fiction handelt, ja sogar Hard SF, da jedes realistische Detail der Expeditionen genau beschrieben wird. Sogar John Campbell konnte 1938 in seiner Novelle „Wer da?“ – mehrfach verfilmt als „The Thing“ – darauf aufbauen.
Ähnlich wie in „Schatten aus der Zeit“ und „Der Flüsterer im Dunkeln“ entwirft Lovecraft die Grundzüge seiner Mythologie, wonach erst die Alten Wesen von den Sternen kamen und die Stadt unterm Eis bauten, bevor die Cthulhu-Wesen anlangten und mit ihnen einen Krieg führten, an dessen Ende Wasser und Land zwischen den Rassen aufgeteilt wurden. Überreste beider Zivilisationen sind für Expeditionen wie die Dyers noch aufzuspüren, natürlich nur an sehr verborgenen Orten.
2) Handlung von DER SCHATTEN ÜBER INNSMOUTH (entstanden 1931)
Diese lange Erzählung aus dem Cthulhu-Mythos erklärt, wie es zu dem massiven Einsatz von Regierungstruppen 1927/28 in dem kleinen (und fiktiven) Küstenstädtchen Innsmouth kommen konnte. Der Ich-Erzähler ist der gerade volljährig (21 Jahre) gewordene Amateurhistoriker Robert Olmstead (dessen Name im Text nie genannt wird). Er will nach der Schule seine Mutter an der Küste besuchen, verfügt aber nur geringe Geldmittel. Daher beschließt er, die kürzeste Busstrecke zu fahren, um ebenso zeitig wie billig voranzukommen. Um von der Miskatonic University über Newburyport nach Arkham zu gelangen, muss er über Innsmouth fahren.
Er hört warnende Gerüchte und Geschichten über diesen Ort und recherchiert in der Bibliothek. Aber erst der Besuch des Museums von Newburyport überzeugt ihn, dass an den Innsmouth-Bewohnern etwas recht Merkwürdiges ist. Dort ist eine Tiara oder Priesterkrone ausgestellt, auf der Fischwesen in ein unbekanntes Metall eingraviert sind. Die Innsmouth beherrschende Familie der Marshs wolle diese Krone zurückhaben, seit sie über 50 Jahren von einem Seemann versetzt wurde, erzählt die Museumsführerin. Olmstead läuft ein Schauder über den Rücken.
Der Busfahrer ist eine selt- und schweigsame Gestalt: mit einem watschelnden Gang, vorstehenden Augen, einer Hautkrankheit und sonderbaren Falten an den Halsseiten. Und Joe Sargents Hände sind nicht rosa, sondern blaugrau. Sein Geruch ist abstoßend. In Innsmouth selbst, das am Fluss Manuxett liegt, fährt man an der Kirche des Dagon vorbei, in der der Priester eine Tiara trägt.
Olmstead steigt im einzigen Hotel ab, dem Gilman-House, denn der nächste Bus fährt erst am Abend nach Arkham. Ein Lebensmittelhändler, der aus Arkham stammt, zeichnet ihm eine Straßenkarte, warnt ihn aber vor dem Armenviertel, wo in vielen Häusern, obwohl sie verschlossen sind, merkwürdige Geräusche erklingen. Zum Glück ist weder Walpurgisnacht (30.4.) noch Halloween (31.10.), an denen für die Leute aus Innsmouth hohe (heidnische!) Festtage sind. Als Historiker ist Olmsteads Neugier geweckt.
In den Straßen sind weder Katzen noch Hunde zu sehen, die wenigen Kinder sehen affenartig aus, die Kirchen sind leer und verfallen, vom Hafen weht ständig Fischgeruch herüber, denn die Fischgründe sind außergewöhnlich reich, und fremde Fischer werden ferngehalten. Am Horizont ist das sogenannte Teufelsriff zu sehen, in dem eine Höhle fremde Kreaturen beherbergen soll, die aus der Tiefe hinter dem Riff stammen.
Dagons Jünger
Genau das bestätigt ihm auch der fast neunzig Jahre alte Säufer Zadok Allen, den Olmstead mit Whisky zum Reden bringt. Dessen unglaubliche Story: Der alte Obed Marsh habe ca. 1840 die Südsee befahren, wo er die Kanaken besuchte, die dem Fischgott Dagon bzw. Cthulhu Menschen opferten, um dafür reichen Fischfang und Gold zu erhalten. Marsh sei mit den Göttern einen Pakt eingegangen und habe den Kult nach Innsmouth gebracht. Das Amphibienvolk habe sich mit der Zeit mit den ihm geopferten Menschen vermischt und die Rasse mit dem Innsmouth-Look hervorgebracht. Zuerst würden diese Menschen ganz normal aussehen, aber nach einer Weile zu einem Wesen mit Fisch- und Froschmerkmalen mutieren. Denn in dieser Form sei es potenziell unsterblich. Einmal habe Zadok Allen diesen Kult verraten und die Menschenopfer seien ausgeblieben. Doch 1846 sei dann nicht etwa die Pest ausgebrochen, sondern die Rache des Fischvolks über Innsmouth gekommen. Seitdem halte er, Allen, die Klappe. Aber er habe den dritten Eid auf Cthulhu nie geschworen, beteuert er – und verschwindet.
Pogrom
Allerdings hat man ihn mit Allen gesehen. Als es Abend wird, steht kein Bus für ihn bereit, obwohl das Vehikel gerade Passagiere aus Newburyport transportiert hat. Man gibt ihm ein anderes Zimmer. In der Nacht versuchen Unbekannte, in sein Zimmer einzudringen, doch ahnungsvoll hat er Vorkehrungen dafür getroffen. Doch als etwas Schwereres die Treppe hochkommt, verlässt er das Haus durchs Fenster und flieht über die nächtlichen, mondhellen Dächer und Straßen.
Grauenerregende Szenen der Verfolgung durch einen fisch- und froschartigen Mob, mit tiaratragenden Priestern in der Mitte, erschrecken Olmstead und zwingen ihn, einen anderen Fluchtweg zu suchen. Da alle Ausfallstraßen blockiert sind, bleiben nur die verlassenen Bahngleise, die nach Rowley führen. Doch wird man ihn entdecken?
Ein Jahr später, nach dem Truppeneinsatz, studiert Olmstead am College. Er erhält den ersten Hinweis, dass seine eigene Ahnenreihe eine Gefahr darstellen könnte. Der Familienschmuck seiner Urgroßmutter enthält eine Tiara mit Fischwesenmotiven, Armreife und einen abnorm gestalteten Brustschmuck. Er fällt in Ohnmacht.
Zwei Jahre später, im Winter 1930/31, beginnen die Träume von einem Volk aus der Tiefe. Sie rufen ihn …
Mein Eindruck
Man merkt also: Bis unser Held überhaupt in die Bredouille gerät, ist es ein ziemlich langer Weg. Der „Schatten“, den Innsmouth vorauswirft, ist offenbar ziemlich lang. Aber auch als sich Olmstead durch die verbarrikadierten Straßen an den Verfolgern vorbeischleicht, als befände er sich in einem Karl-May-Roman, ist nicht sicher, ob es zu Handgreiflichkeiten kommen wird. Denn dem Autor HPL geht es weniger um die Action in einem konkreten Fall, sondern um die allgemeine und weltweite Bedrohung der Menschheit durch eine Rasse, die unsterblich ist und ihr Territorium zurückwill. Innsmouth ist ihr Brückenkopf in die USA.
Der Autor baut die globale Dimension dieser Bedrohung Stufe um Stufe auf. Dazu gehört nicht nur die genetische Degeneration und konsequente körperliche Veränderungen an Betroffenen, sondern auch der totale Kollaps der bisherigen kulturellen Errungenschaften. Letztere werden vielmehr ersetzt durch antihumane Bedingungen, wie etwa Menschenopfer, Verehrung eines Großen Alten (Cthulhu) und Verfolgung all seiner Feinde. Es wäre ein Rückfall in alttestamentarische Zeiten, und der zuständige Gott ist nicht Jahwe, sondern Cthulhu bzw. Dagon.
Der ultimative Horror entsteht aber bei Olmstead nicht nur die Invasion der Fischmenschen, sondern durch die Entdeckung, dass er einer von ihnen wird. Dieses kosmische Grauen schlägt ein Jahr später um in Wahnsinn: Olmstead folgt Cthulhus Ruf und ist somit ipso facto kein Mensch mehr. Das erinnert an die biblische Prophezeiung, dass sich die Sünden der Väter auf die Nachkommen bis ins 10. Glied (oder so) vererben würden. Olmsteads Pech ist es, dass er keine Ahnung hat, welche Sünden seine Väter begangen haben – ja, dass sie überhaupt seine Väter sind! Will also indirekt heißen: Wer seine Herkunft nicht kennt, wird ihr möglicherweise zum Opfer fallen. Und wer seine Geschichte nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen, da er die Warnung nicht (er)kennt.
Die Erzählung ist ein Meisterstück des stimmungsvollen Grauens, wie sie HPL von Anfang beabsichtigte. Um diese Wirkung zu erzielen, brauchte er aber auch drei Anläufe. Da sich Beklemmung, Grauen und Wahnsinn nicht aus Aktion, sondern vielmehr aus Befindlichkeit ergeben, ist der Held der Story stets Bedrohter und Opfer, fremd in einer seltsamen Welt, die plötzlich anderen Regeln gehorcht. Genau diese Befindlichkeit ist die des Autors zeitlebens gewesen. Daher erzählt HPL, wenn er von Olmsteads Expedition ins Herz der Finsternis berichtet, zugleich auch von sich selbst – der Welt möglicherweise zur Warnung.
3) „Träume im Hexenhaus“ (entstanden 1932)
Walter Gilman ist ein Student der Mathematik und Geometrie an der Miskatonic Universität in Arkham (= Salem bei Boston). Durch seine Beschäftigung mit ungewöhnlichen Dimensionen, Linien, Kurven der nichteuklidischen Geometrie ist er auf Hinweise gestoßen, dass an der Uni und mehr noch in Arkham selbst einst Aktivitäten okkulter Machenschaften gegeben habe. Tatsächlich lagern im versperrten Keller der Uni viele verbotene Bücher wie das verfluchte „Necronomicon“. Doch Walter ist auf ein Haus mit einer okkulten Geschichte mitten in Arkham gestoßen: das Haus der Hexe Keziah Mason, die im Jahr 1692 darin eingekerkert wurde und die auf rätselhafte Weise daraus entwich. Bei ihr sah man eine rattenähnliche Kreatur mit langem Fell, die ebenfalls verschwand …
Obwohl dies alles vor 235 Jahren geschah, zieht es Walter wie magisch an und er lässt sich das Mansardenzimmer der Hexe geben. Es weist in seiner Architektur einige ungewöhnliche Winkel auf, die ihn wie magisch anziehen. Der Zugang zum Dachspeicher ist ebenso vernagelt wie der Zugang zu einem Fenster. Was mag wohl dahinter liegen? Ein großes Rattenloch hingegen lässt sich gar nicht verschließen, so sehr man es auch versucht. Die Ratte nagt immer wieder ein neues Loch. Walter kennt sowohl das Geständnis der Hexe als auch ihren ständigen Begleiter, der als Brown Jenkin bekannt war und, wie Walter herausfindet, es immer noch ist. Es soll sich um ein rattengroßes Wesen handelt, doch verfüge es über ein menschenähnliches Gesicht und menschliche Hände statt Pfoten. Und in seinem Gesicht ragen lange Reißzähne aus seinem Maul.
Anfang Februar beginnen Walters Träume, und er glaubt zu schlafwandeln. Zu seinem Leidwesen setzen sie sich sehr lebhaft fort und zwar so lange, bis der 30 April gekommen ist: die Walpurgisnacht. Die alte Frau ist ihm mit ihrem Gefährte erschienen, und offenkundig sind beide Boten für einen großen Schwarzen Mann, bei dem es sich möglicherweise um Azathoth, den Herrscher des Chaos, oder um Nyarlathotep, seinen ersten Boten, handelt.
Zunächst nehmen sie ihn im Traum mit auf fremde Planeten, und er staunt über die dortigen Wesen und ihre Zivilisation. Doch als er dort eine Figur aus einer Balustrade bricht, erscheint diese am nächsten Tag in seinem Zimmer. Waren Traum und Reise echt und wirklich? In der Tat ergibt eine chemische Analyse, dass die Metallfigur fremdartige Elemente enthält, die man auf Erden nicht kennt.
Doch für die Walpurgisnacht hat die alte Hexe Walter für einen ganz besonderen Dienst ausersehen, und alle Utensilien liegen schon bereit: eine mit Runen versehene Schüssel, eine ebensolches Messer. Nun fehlt nur noch das in der Schüssel darzubringende Opfer …
Mein Eindruck
Die Novelle „Träume im Hexenhaus“ kann leider wenig überzeugen, denn ihre Schwäche ist die zentrale Figur Walter Gilman. Statt sich einen Mentor zu suchen, der ihm im Kampf gegen den Einfluss der Hexe beisteht, liefert er sich immer weiter aus und muss dafür schließlich den Preis bezahlen. Die Wege Walters sind ebenfalls sehr dem Zufall überlassen, wenn man sie mal aufmerksam verfolgt, und dass sein Ende in der Walpurgisnacht besiegelt ist, stets schon lange vorher fest, so dass nur wenig Spannung aufkommt. Ich habe mich daher gelangweilt.
Obwohl die fiebrigen Phantasmagorien Gilmans in vielerlei Hinsicht zu fesseln und zu faszinieren vermögen, weist die Erzählung etliche Schwächen auf. Gilman und sein Mitstudent Elwood weigern sich, eins und eins zusammenzuzählen und Traum und Realität miteinander in Verbindung zu setzen. Mag sein, dass ihnen ihr mathematischer Verstand dies verbietet. Sie erklären sich die Traumerlebnisse mit Gilmans Nachtwandeln, doch wo kommt dann die fremdartige Metallfigur her?
Sie sind von wohlmeinenden Nachbarn umgeben, die sie beobachten und ebenfalls ihre Meinung zu den seltsamen Vorkommnissen beitragen, vor allem Kratzen, Poltern, Schritte, sowie ein violettes „Hexenlicht“. Auf diese objektivierende Weise lassen sich die Erlebnisse Gilmans rational erklären. Natürlich ist er ein Fall für den Nervenarzt, das ist ihm auch klar. Aber er geht nie hin. Das ist Pech für ihn, aber Glück für uns: So können wir seinen Opfergang bis zum bitteren Ende mitverfolgen.
Der Autor lässt keine offenen Enden in seinem Gewebe übrig. Am Schluss enthüllen uns Abrissarbeiten, was sich hinter dem vernagelten Fenster und im ebenso unzugänglichen Dachboden verbirgt: allerlei unappetitliche Dinge, die hier nicht ausgebreitet werden sollen.
4) Das Ding auf der Schwelle (entstanden 1933)
„Es ist wahr, dass ich meinem besten Freund sechs Kugeln durch den Kopf gejagt habe, und dennoch hoffe ich mit dieser Aussage zu beweisen, dass nicht ich sein Mörder bin. Zunächst wird man mich einen Wahnsinnigen nennen – wahnsinniger noch als der Mann, den ich in seiner Zelle in der Heilanstalt von Arkham niedergeschossen habe.“
Also spricht Daniel Upton, der Berichterstatter des grausigen Unglücks, das seinem Jugendfreund Edward Pickman Derby zugestoßen ist. Dieser Dichter des Absonderlichen und Student des Okkulten weist, wie etwa auch Charles Dexter Ward, autobiografische Züge auf. Auch er wurde verhätschelt und in eine seltsame Familie geboren. Er trieb sich lieber mit den Bohémiens und Säufern von der verrufenen Miskatonic Uni in Arkham herum, statt einem ordentlichen Beruf nachzugehen.
Jedenfalls solange, bis er mit 38 die Frau seines Lebens (oder seines Todes?) traf und heiratete: Asenath White ist die Tochter des alten Hexenmeisters Ephraim White aus dem verrufenen Innsmouth, wo man um 1850 einen Pakt mit seltsamen Wesen aus dem Meer geschlossen hatte (siehe „Der Schatten über Innsmouth“). Daniel Upton erinnert sich an White als „wölfisch“ und „gestorben im Wahnsinn“. Asenath, gerade mal 23 Jahre alt, scheint dessen Kräfte geerbt zu haben. Insbesondere als Hypnotiseurin leistet sie Ungewöhnliches, nämlich den Austausch der Persönlichkeit des Hypnotisierten, so dass dieser sich selbst durch Asenaths Augen sehen kann.
In Ed Derby hat sie ihr ideales Opfer gefunden. Sie hypnotisiert ihn und bemächtigt sich zeitweilig seines Körpers. Das geht über Jahre hinweg, und beide verändern sich so stark, dass sich Upton wundert: Während sich Derby von einem schlaffen Lethargiker zu einem dynamischen, lebensfrohen Macher entwickelt, sieht Asenath von Jahr zu Jahr älter aus. Doch die Wirklichkeit ist weitaus grauenerregender. Denn es ist nicht Asenath, die ihren Körper bewohnt, sondern ihr Vater, der sie schon im Kindesalter übernommen hat …
Mein Eindruck
Edward Derby ist der dekadente Sprössling, der sich dem verderblichen Einfluss schwarzer Magie zuwendet und so an Asenath White bzw. ihren Vater Ephraim, den unsterblichen Hexenmeister, gerät. Der Letzte, der de la Poer stößt, wie der Protagonist in „Innsmouth“, unversehens auf die schrecklichen Wurzeln seiner eigenen Familie, allerdings natürlich nicht in der Neuen, sondern in der Alten Welt, in England. Immer wieder wird bei Lovecraft das Grauen importiert: von anderen Weltgegenden, aber wichtiger noch – aus der alten Zeit. Denn in grauer Vorzeit, so HPLs Privatmythos, herrschten die Großen Alten auf der Erde, bevor sie vertrieben wurden. Daher bleiben von ihnen nur Spuren ihres Einflusses. Und wer lange genug nach seinen eigenen Wurzeln sucht, wird auf diese Wurzeln stoßen. Das „kosmische Grauen“ verschlingt den unseligen Sucher.
Ähnlich passiert dies auch Edward Derby, aber auf ganz andere Weise. Denn die verhängnisvollen Wurzeln verbergen sich in seiner Gattin Asenath, die wiederum von ihrem Vater besessen ist. Dieser wiederum ist ein Diener der Großen Alten, denen er die Unsterblichkeit per Seelenübertragung durch Körpertausch verdankt. Für den armen Ed kommt jede Hilfe, die ihm sein entsetzter Freund, unser Reporter vor Ort, gewähren könnte, häufig zu spät.
Mit zwei Ausnahmen: Als Ed aus den Bergen und Wäldern Maines taumelt, fährt Dan ihn nach Hause, wobei Ed ihm die (vermutete) Wahrheit erzählt – bis zu einem gewissen Punkt, an dem Asenaths Geist ihn wieder übernimmt, sozusagen per Fernsteuerung. Die andere Ausnahme ist natürlich der Gnadenschuss für Edward Derby, das heißt: für seinen Körper.
„Das Ding auf der Schwelle“ ist vielschichtiger aufgebaut als frühere Erzählungen, bietet aber garantiert Grauen höchster Qualität und Wirkung. „Das Ding“ ähnelt im Aufbau einer längeren Sinfonie, die sich in Phasen der An- und Ent-Spannung dem Finale nähert.
5) Der Schatten aus der Zeit (entstanden 1935)
Professor Peaslee bricht während einer Vorlesung bewusstlos zusammen und erwacht erst Stunden später. Er leidet unter völligem Gedächtnisverlust. Sechs Jahre später beginnt er mit der Konstruktion einer seltsamen Maschine. Kurz darauf findet man ihn wieder bewusstlos. Die Maschine ist verschwunden. Die Schriften, die er in den letzten Jahren verfasste, verbrannt. Am nächsten Tag kehrt er ins Bewusstsein zurück, ohne sich an die vergangenen sechs Jahre erinnern zu können. Was ist passiert? Seine Alpträume zeigen ihm nach und nach die schreckliche Wahrheit …
Mein Eindruck
Die lange Novelle hat zwei Höhepunkte: das Finale und die Jahre zwischen 1908 und 1913. Dieser erste Teil vor der Ankunft in Australien ist lediglich unheimlich und fußt auf Peaslees sonderbarer Erfahrung zwischen 1908 und 1913. An diese erinnert sich aber nur bruchstückhaft in Träumen. Dass Träume nur sehr bedingt als Erkenntnismittel und reale Wahrnehmung anerkannt werden, dürfte bekannt sein. Demzufolge hält er diese Traumerinnerungen nur für Halluzinationen, eine komplexe Neurose, ein Streich, den ihm sein Unterbewusstes spielt.
Daher fällt es ihm nicht allzu schwer, sich selbst zu beruhigen und wieder zum Alltag überzugehen, den er einigermaßen gut an seiner Miskatonic-Universät bewältigt. (Diese Uni wurde von Lovecraft frei erfunden, ebenso wie der Ort Arkham, in der sie liegen soll. Arkham taucht jedoch viele Male in HPLs 55 Erzählungen auf. Die Stadt wurde als Providence in Rhode Island interpretiert.) Mit dem Schreiben der Artikel für die Psychologie-Zeitschrift hält er das Kapitel für erledigt.
Was, wenn alles wahr wäre?
Doch dann kommt der verhängnisvolle Brief aus Australien und scheint die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Was, wenn Peaslee in den uralten Wüsten-Ruinen den Beweis fände, dass seine Träume nicht Hirngespinste waren, sondern in einer bizarren Realität fußten? Dann müsste er nicht nur sein psychologisches Weltbild revidieren, sondern auch seine Auffassung von der Natur der Zeit. Denn wie sonst wären der große Rasse jene Geistprojektionen möglich, die ihren Vertreter erlauben, Wesen in fernster Zukunft wie Vergangenheit zu „übernehmen“, um aus deren Erfahrungen zu lernen?
Neben seinen Spekulationen über relativistische Zeit gemäß der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins gehört die Beschreibung dieser Großen Rasse zu Lovecraft größter Leistung in diesem Kurzroman. Die Welt vor 150 Millionen Jahren: Sie hält für jeden Dinosaurierfreund zahllose Wunder bereit, und SF-Fans dürfen sich über Luftfahrzeuge und Atom-U-Boote freuen. Der Autor saugte sich diese Dinge nicht aus den Fingern, sondern befand sich durch seine umfangreiche Korrespondenz auf der Höhe seiner Zeit, was die Entwicklung von Wissenschaft und Technik anbelangt. (Von seinem Brieffreund Robert E. Howard leiht er sich hier z. B. den Namen Kimmerien aus, in dem dessen Fantasy-Figur CONAN Abenteuer erlebt.) Manche Passagen erinnerten mich deutlich an „Utopia“ von Thomas Morus. Selbstverständlich kannte der belesene Autor auch dieses grundlegende Werk.
Wozu Zeitreisen?
Die Kardinalfrage ist jedoch, warum die Große Rasse überhaupt ihre Vertreter in ferne Zeit projiziert. Warum konnte es überhaupt zu Peaslees sonderbarem Schicksal kommen? Wenn ich alles richtig verstanden habe, so fürchtete die Große Rasse die Wiederkehr der Großen Alten, die besiegt und in Verliese gesperrt hatten. Jeden Tag fiel ihr Blick auf deren finstere Basalttürme und gemahnte sie daran, was passieren könnte, wenn die Bewachung versagen oder enden sollte. (In Robert Jordans Zyklus „Das Rad der Zeit“ gibt es das gleiche Problem.) Was, wenn der „Schatten aus der Zeit“ ausbricht?
Um diesem unausweichlich scheinenden Tag des Jüngsten Gerichts vorzubeugen und herauszufinden, wann es stattfindet, sendet die Große Rasse ihre Späher aus. Sie suchen – wie Peaslees alter ego – alle Dokumente, die auf den Feind hindeuten. Daher liest Peaslee beispielsweise das „Necronomicon“. Es geht aber auch um Orte, wo sich die Großen Alten verstecken könnten: im Himalaya, in der Arktis, in den Wüsten Innerarabiens (wo Abdul Alhazred herkam). Alle ihre Funde schreiben sie auf und speichern sie, beispielsweise in jener Maschine, die Peaslee baute und am 26.9.1913 an den unbekannten Besucher verlor. (Wie die Scouts in die Zeit reisen können, erfahren wir meines Wissens nicht. Dafür sind wohl die Physiker zuständig.)
Der Tod der Sonne
Dass die Große Rasse natürlich auf den „Tag des Jüngsten Gerichts“ gestoßen sein muss, ist logisch, denn sonst wäre sie nicht verschwunden. Doch leider erlebt Peaslee nicht die heftige Reaktion, die dieser epochale Fund in der Rasse ausgelöst haben muss. Vielmehr scheint sich sein alter ego nur mit Archivarbeiten und diversen Forschungsreisen in der Welt vor 150 Mio. Jahren beschäftigt zu haben. Das ist alles schön und gut, aber auch etwas langweilig: Es gibt keinen Konflikt, der Spannung erzeugen würde.
Selbst die Nachricht, dass die Herrschaft des Menschen von der der Käfer abgelöst werden würde, überrascht uns nicht. Wir haben schließlich H. G. Wells’ „Zeitmaschine“ gelesen, in der genau dieses Endzeitszenario in den gruseligsten Farben ausgemalt wird. Dass die Erde einfach erkalten werde, ist jedoch inzwischen widerlegt: Zuvor wird sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufblähen und alle Leben auf der Erde verbrennen, das sich nicht tief genug vergraben hat. Erst Äonen später, wenn die Sonne allen Treibstoff verbrannt hat, wird sie zu einem Zwergstern (rot oder weiß, bitte Farbe aussuchen) schrumpfen und die Erde als Schlackeklumpen zurücklassen.
Der zweite Höhepunkt
Keine Sorge: Ich werde hier nicht verraten, was Peaslee auf seiner nächtlichen Exkusion durch die Ruinen findet. Doch ich kann sagen, dass dies – wie stets in seinen besten Novellen – der beste Teil der ganzen Story ist. Der Autor erzählt anschaulich, spannend, mit geschickt eingesetzten Verzögerungen und Pannen, bis alles bereits verloren scheint. Es kommt zu einer Art Showdown, den der Forscher gerade noch zu überleben scheint – sonst könnte er uns wohl nicht davon berichten (das ist ja immer die Crux des Erzählens eines Abenteuers).
Was haben wir nun von seinem sonderbaren Bericht zu halten? Die Hirngespinste eines Wahnsinnigen, dem die Begegnung mit einem der Großen Alten nicht gut bekommen ist und nun völlig durchdreht? Denn man bedenke: Schenkt man dem Bericht Glauben, so muss man auch seine dringliche Warnung ernstnehmen: vor dem Schatten aus der Zeit, der lauert. Ulkig, dass er schon seit Millionen Jahren so vor sich hinlauert, ohne etwas zu unternehmen.
6) Jäger der Finsternis (The Haunter of the Dark, entstanden 1937)
Wurde der Anthropologe Robert Blake in der Nacht des 8.8.1935 vom Blitz erschlagen? Oder hat ihn sich eine Kreatur der Großen Alten geschnappt? Die Meinungen der Gelehrten und Experten gehen auseinander. Was hier also erzählt wird, hält sich an Blakes Tagebuch. Darin berichtet er von seiner Faszination mit dem düster empor ragenden Kirchturm aus dem Federal Hill des Städtchens Providence (HPL wohnte hingegen auf dem College Hill einen Kilometer entfernt). Bei näherer Untersuchung zeigt sich, dass das verwahrloste Gebäude schon seit fast 60 Jahren keinen sakralen Charakter hat. Ab 1846 hatte ein Archäologe hier einen Sektenkult namens Starry Wisdom (Weisheit von den Sternen) eingerichtet.
Blake findet in der Turmstube, wo eigentlich Glocken sein sollten, nur sieben leere Stühle und Steinplatten, ein Reporter-Skelett aus dem Jahr 1897 – und eine Schatulle mit einem leuchtenden Stein darin. Hineinschauend erblickt er grauenerregende kosmische Weiten und schwarze Planeten, wo die Großen Alten hausen. Dann begeht er einen schwerwiegenden Fehler: Von einem Geräusch über sich erschreckt, klappt er die Schatulle zu. Da nun kein Licht mehr das Ding im Turmhelm fernhält, treibt es alsbald lautstark sein Unwesen in der entweihten Kirche, so dass die gläubigen italienischen Einwanderer das Zähneklappern kriegen. Doch das Ding weiß, wo sich Blake aufhält und holt ihn …
Mein Eindruck
Dies ist eine sehr dicht aufgebaute und stimmungsvoll erzählte Geschichte, die zielbewusst auf den grauenerregenden Schluss zusteuert, der nur aus panischem Gestammel des Tagebuchschreibers besteht. Aus dem, was Blake in der alten Kirche fand, haben andere Autoren ganze Erzählungen geschmiedet. Und weil so viele Fragen offenblieben, schrieb Robert Bloch, dem die Story gewidmet war, eine Fortsetzung (abgedruckt in „Hüter der Pforten“, Bastei Lübbe).
Durch die äußerst realistisch wirkende Erzählweise rückt der unwahrscheinliche Kern der Begebenheiten in den Bereich des Glaubwürdigen. Als der Horror beginnt, wirkt er dadurch umso stärker auf uns. Wie schon in „Cthulhus Ruf“ bemüht der Autor Zeitungsartikel, Polizistenanekdoten, verschlüsselte Notizen eines Reporters und natürlich Blakes Tagebuch, um so viel Objektivität wie möglich vorzuspiegeln. Dies ist die Arbeitsweise des späten Lovecraft – der Meister starb ein Jahr später – und rückt die Erzählung in den Rang der Top Ten (von 52) unter Lovecrafts Erzählungen (die Novellen und Kurzromane ausgenommen).
7) Vorwort von Marco Frenschkowski
In diesem Band findet sich ein anderes Vorwort als in Band 1. Hier stellt Frenschkowski den Autor und Menschen HPL in den amerikanischen Kontext der 1920er und -30er Jahre, ohne allerdings tiefere Parallelen zu ziehen. Klar wird allerdings, dass HPLs Werk sich den Forderungen des damaligen Publikumsgeschmacks verweigerte und zu einem erratischen Block in der Literaturhistorie wurde. Vergleicht man HPLs Stil mit dem der klassischen Moderne seitens Eliot, Pound, Joyce und Lawrence, so wird deutlich, dass HPL mehr im 18. Jahrhundert zu Hause war als im 20. Das entsprach auch seinem Selbstverständnis als (niemals arbeitender) Gentleman britischer Herkunft und Vorbilds.
Der Theologe fragt, ob HPLs Geschichte nicht einfach nur Monsterstories waren. Keineswegs, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen wird die Identität und Bedeutung der Menschheit als Ganzes auf eine Episode am Rande des Alls reduziert – keine kleine Kränkung für die „Krone der Schöpfung“. Zum Zweiten fragen sich die mehr oder weniger einsamen Protagonisten stets, wer sie wirklich sind. Das Grauen kommt diesmal nicht von außen, sondern von innen, am besten zu sehen in „Schatten über Innsmouth“.
Die Übersetzung
Die Erzähltexte sind bemerkenswert frei von Druckfehlern. Nicht so die Kommentare, wo schon mal ein Druckfehler vorkommen kann. Der dickste davon findet sich auf S. 424, wo es eigentlich „sich“ heißen sollte, wo aber „sind“ steht.
Unterm Strich
Dieser zweite Band der Cthulhu-Chroniken präsentiert mit „Berge des Wahnsinns“ und „Schatten über Innsmouth“ zwei zentrale Romane des Autors. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, so dass man sich fragen kann, ob sie vom gleichen Autor stammen (HPL war Ghostwriter für viele Amateurschriftsteller). Während sich „Berge des Wahnsinns“ ganz auf die Außenwelt konzentriert, liegt der Fokus bei „Innsmouth“ vor allem auf dem Grauen, das von innen herauswächst – bis es den Protagonisten in den Wahnsinn treibt.
Die übrigen Erzählungen, die chronologisch angeordnet sind, runden den Cthulhu-Mythos hervorragend ab. „Schatten aus der Zeit“ bietet eine noch umfassendere Kosmologie als „Berge des Wahnsinns“ und „Flüsterer im Dunkeln“. Nur über die Berücksichtigung von „Träume im Hexenhaus“ könnte man sich ein wenig wundern. Der Text wird allgemein als missglückt angesehen.
Die Kommentare
Der Theologe Marco Frenschkowski liefert in dieser Ausgabe sehr aufschlussreiche Einleitungen zu den einzelnen Erzählungen, zu ihrer Bedutung in HPLs Leben und Werk, zu ihrer Entstehungs- und Publikationsgeschichte und zu ihren literarischen Folgen.
Da „Berge des Wahnsinns“ als sehr gelungene Erzählung eine der Hauptsäulen des Cthulhu-Mythos geworden ist, widmet Frenschkowski diesem eigenständigen Poe-Sequel nicht weniger als zehn engbedruckte Seiten an Erläuterungen. Man sieht also, dass sich hier ein wahrer Schatz an Hintergrundinformationen auftut, den es zu ergründen gilt. Dass HPL auf der Höhe seiner Zeit war, belegen nicht nur Details aus „Berge des Wahnsinns“, sondern andere Motive in seinem Werk, so etwa die Entdeckung des Planeten Pluto im Jahr 1930, den er stets als „Yuggoth“ auftreten lässt.
„Schatten über Innsmouth“ ist der einzige Text, den Lovecraft zu Lebzeiten als Buch in Händen halten durfte (1936). Abgesehen von der Tatsache, dass eine steigende Spannung und zunehmende Action in den ersten zwei Dritteln gibt, ist die Novelle Ausdruck von HPLs wachsender Zivilisationskritik. Frenschkowski identifiziert die Dagon-Anhänger Innsmouths mit Neuenglands Freimaurer-Logen, von denen es eine beträchtliche Menge gab. Außerdem ist interessant, dass es seit 1860/70 viele verfallende Küstenstädtchen in Neuengland gab, denn sowohl Walfang als auch Küstenfischerei brachten nichts mehr ein. Offener Inzest machte die Runde, und weitere Abweichungen waren nicht schwer vorzustellen. Dem leser bleibt es überlassen, ob der kryptische letzte Satz positiv oder negativ zu werten ist.
Bei „Träume im Hexenhaus“ fragt sich der HPL-Kenner wirklich, was dieser „grandios missglückte“ Text hier zu suchen hat. HPL hat sich hier wohl übernommen, indem er zu viele Dinge, die ihm wichtig waren hineinpackte, ohne sie jedoch plausibel zu begründen. Frenschkowski ist der gleichen Meinung, findet aber einige Pluspunkte, die den Text retten.
Während „Das Ding auf der Schwelle“ ausgezeichneten psychologischen Horror liefert, nimmt uns HPL in „Der Schatten aus der Zeit“ wieder mit auf eine kosmische Reise in die fernsten Weiten. Es ist eine SF-Story reinsten Wassers, ohne dass „Science-Fiction“ drübersteht. Vergleiche zu Olaf Stapledons visionärem Roman „Die letzten und ersten Menschen“ (London 1930) liegen nahe, doch Frenschkowski weiß zu belgen, dass HPL diesen wichtigen SF-Roman wohl nicht kannte, sondern seine eigene Utopie entwickelte.
Ich glaube, „Jäger der Finsternis“, HPLs letzte eigenständige Story, war bislang unter dem Titel „Der leuchtende Trapezoeder“ bekannt. Ich bin aber nicht ganz sicher. Sie ist eine der besten im Spätwerk und sehr effektvoll. Frenschkowski enthüllt uns eine zweite Bedeutungsebene, indem er den erwähnten Federal Hill als katholisches Ausländerviertel beschreibt, das den Protestanten wie HPL, die auf dem College Hill lebten, höchst suspekt war. Daher also die „Sekte“, die die Rolle der katholischen Kirche übernimmt.
Obwohl es sich also um keine historisch-kritische Werkausgabe im wissenschaftlichen Sinne handelt (ein Index fehlt ebenso wie eine Bibliografie), erhält man doch für ein geringes Entgelt einen hochwertigen Kommentar, der zum Verständnis der Texte beiträgt, sich aber jeder inhaltlichen Kritik enthält (im Unterschied etwa zu S. T. Joshis HPL-kritischen Arbeiten). Damit steht dem Vergnügen an den Texten nichts mehr im Wege. Insbesondere die beiden Romane „Berge des Wahnsinns“ und „Schatten über Innsmouth“ bilden den Grundstock für jede Beschäftigung mit Lovecraft.
Hinweis: Nachdem Titania Medien bereits eine hervorragende Hörspiel-Umsetzung von „Berge des Wahnsinns“ auf die Beine gestellt hat, soll noch 2012 eine ebenso aufwändige Hörspielfassung von „Schatten über Innsmouth“ folgen.
Fazit: volle Punktzahl.
Taschenbuch: 457 Seiten
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3865521453
http://www.festa-verlag.de