Jules Verne – Von der Erde zum Mond (Hörspiel, 1967)

Die Eroberung des Erdtrabanten war in der Literatur schon seit der Antike – etwa bei Lukian – ein gängiges Motiv. Die meisten Autoren ließen sich irgendwelche fantastischen Tricks einfallen, um von A nach B zu gelangen, was ihre Geschichte denn auch als Fabel auswies. Doch erst Verne strengte sich an, eine technische Lösung für das Problem der Personenbeförderung zum Erdmond zu suchen. Und er fand sie in Gestalt einer 300 Meter langen Superkanone. Sie funktioniert allerdings auch nur in seiner Geschichte …

Der Autor

Jules Verne wurde 1828 in Nantes geboren und starb 1905 in Amiens. Bereits während seines Jurastudiums schrieb er nebenher, manchmal mit einem Freund, Theaterstücke und Erzählungen. Sein erster Erfolgsroman „Fünf Wochen im Ballon“ erschien 1863. Seine großen Romane waren in der Folge Bestseller. Heute wird er neben H. G. Wells als einer der Begründer der modernen Science-Fiction-Literatur angesehen.

Mit „Die Eissphinx“ schrieb er eine Fortsetzung von E. A. Poes Horrorerzählung „The Narrative of Arthur Gordon Pym“.  Sein erster Zukunftsroman „Paris im 20. Jahrhundert“ lag lange Zeit verschollen in einem Tresor und wurde erst vor ca. 20 Jahren veröffentlicht. Die Lektüre lohnt sich, auch wegen der erhellenden Erläuterungen der Herausgeberin.

Das Hörspiel

Das Hörspiel wurde 1967 vom WDR unter der Regie von Otto Düben produziert. Den Text hat Dieter Rotkohl bearbeitet, bei der „technischen Realisation“ tauchen die bekannten Namen (Christian) Brückner und Raudszus auf, die im Zusammenhang mit anderen Produktionen in Erscheinung treten.

Zu den Sprecherinnen und Sprechern gehören Ursula Langrock, Kurt Lieck, Alois Garg, Herbert Fleischmann, Günter König, Hans Paetsch, Heinz von Cleve und Alwin Michael Rueffer. Manche dieser Stimmen waren zu jener Zeit häufig im Fernsehen zu hören, wie ich mich erinnere. Die Namen kann ich aber nicht mehr zuordnen.

Handlung

„Die Eroberung des Mondes“, das ist für den Baltimorer „Gun Club“ keineswegs eine leere Phrase, sondern eine ganz konkrete Zielsetzung. Luna soll amerikanisches Territorium werden und niemandem sonst gehören. Nur damit klar ist, um was es bei diesem Abenteuer geht.

Natürlich interessieren sich die Massenmedien des Jahres 1865 stark für das, was die „verrückten“ Kriegsveteranen des Clubs vorhaben. Der Reporter, der den Sekretär des Klubs interviewt, deutet sehr leise an, dass die allesamt von der Teilnahme am blutigen Bürgerkrieg mehr oder weniger leicht lädierten Klubmitglieder vielleicht einen Dachschaden haben könnten. Immer wieder taucht ein Mann auf, der einen Teil seines Schädels mit Guttapercha (eine Art Kautschuk, also Gummi) abgedichtet hat …

Ach, wie den Veteranen der Krieg fehlt! Will man sich als Waffennarr nicht in diverse europäische Kriege stürzen (1866: Preußen vs. Österreich-Ungarn), so bleibt dem Gun Club nur eines, verkündet Club-Präsident M. P. Barbicane: Man brauche stattdessen eine große Forschungstat. Er schlägt die erwähnnte Eroberung des Mondes vor, der quasi zum 37. Staat der Union gemacht werden soll. (Alaska wurde erst 1867 gekauft.) Tausende von Mitgliedern sind begeistert dafür.

Barbicane lässt sogleich Astronomen und Ingenieure die technischen und geografischen Details klären. Unterdessen hören wir einen kleinen Jungen seine Oma über die diversen Monde des Sonnensystems aufklären und was die Astronomie aus historischer Sicht zu Luna zu sagen hatte. Von Poesie und Mystik keine Spur: Der Mond ist eine „nackerte Kugel“, wie der Bayer sagt.

Sobald feststeht, dass eine 292 m lange Kanone eine 2,92 m große Kugel zum Mond schießen müsse, um Erfolg zu haben, werden auch die wirtschaftlichen Dimensionen deutlich. Die ganze Welt muss Beiträge liefern, um das gigantische Unternehmen zu finanzieren. Das lässt sich ganz gut an, bis Barbicane schließlich von unerwarteter Seite einen Schuss vor den Bug erhält. Ein gewiser Captain Nicholl aus den USA wettet, dass die einzelnen Phasen des irren Vorhabens nicht gelingen werden. Am 18.10. nimmt man diese Wette an. Fortan besteht zwischen Nicholl und Barbicane eine persönliche Feindschaft.

In Florida unweit der Stadt Tampa errichtet der Gun Club eine Arbeiterstadt, die von der Armee gegen allfällige Angriffe der Seminolen-Indianer geschützt werden muss. Die riesige Kanone namens „Kolumbiade“ wird nach langen Vorbereitungen in einem unteridischen Schacht gegossen. Chefingenieur Murcheson rechnet mit acht Monaten bis zur Fertigstellung. Mondfahrer Michel Ardant aus Frankreich besteht auf einer kegelförmigen Form des Geschosses, obwohl ein Tierexperiment mit einer Kugel erfolgreich verlaufen ist. Es bereitet ihm auch kein Kopfzerbrechen, dass Luna keine Atmosphäre besitzt und sein Luftgehalt gegen null tendiert. Ihm geht es um die Ehre.

Darum geht es auch Captain Nicholl und Club-Präsident Barbicane: Die ehrenwerten Gentlemen duellieren sich in einem dichten Gehölz vor den Toren Tampas. Bevor sie jedoch durch Unheil den Erfolg des Unternehmens gefährden können, versöhnt der vernünftigere Club-Sekretär Marsden die beiden Kontrahenten. Damit auch sichergestellt ist, dass keiner schummelt, wollen beide unbedingt mit zum Mond fliegen. Nicholl hat beim Verlust seiner Wetten schon mehrere tausend Dollar verloren und will wenigstens nicht das Ticket zahlen müssen.

Live-Reportage aus Tampa: Am Abend des Abschusses hat sich eine riesige Menschenmenge um die „Kolumbiade“ versammelt. Reden werden geschwungen, als ginge es darum, ein Schiff wie die „Titanic“ zu Wasser zu lassen.

Der Abschuss selbst gleicht dem gewaltigen Ausbruch eines Vulkans, und tagelang ist die Atmosphäre über Tampa bedeckt von Wolken. Bang warten die Observateure, ob sie die Kapsel in den Lufträumen erspähen können – oder ob sie in tausend Stücke zersprengt wurde …

Mein Eindruck

Es waren Erzählungen wie diese, die Jules Verne, diesem Pionier der Zukunftsliteratur, den undankbaren Ruf eintrugen, allzu sehr auf die technische Machbarkeit von Visionen zu vertrauen, ohne zu hinterfragen, ob das Vorhaben denn auch so sinnvoll sei. Dieser Ruf hängt ihm heute noch an, man hat ihn so zum Gegenspieler des skeptischen H. G. Wells stilisieren können. Dass dieser pauschale Ruf ungerechtfertigt ist, haben jüngere Untersuchungen nachgewiesen.

Dennoch stilisiert das Hörspiel Vernes Vision des Mondschusses zu einer technischen Meisterleistung empor. Sowohl eine gesprochene Einleitung als auch ein abschließendes Zitat des Autors sollen dies belegen. Das damit verbundene Wirtschaftsunternehmen bei Tampa ist ja auch nicht von schlechten Eltern und verdeutlicht die globale Bedeutung des Unternehmens.

Allerdings habe ich mich gefragt, wie zurechnungsfähig diese Leutchen vom Baltimorer Gun Club denn sein können. Sie duellieren sich, wetten gegeneinander und würden nicht davor zurückschrecken, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, genau wie im Bürgerkrieg. Vermutlich gehörte dies zum ganz normalen Machismo des 19. Jahrhunderts.

1967, als das Hörspiel – genau 100 Jahre nach dem Buch – entstand, konnte man diese Erzählungen vielleicht noch unbedarften Jungs vorsetzen, die das sicher total aufregend fanden. Auch ein Großliterat wie Arno Schmidt ist begeistert: „Mehr als hundert Jahre vor dem ersten [bemannten] Mondflug [von 1969] hat Jules Verne seine Helden zum Mond geschossen, ganz aktuell raketisch.“ Ob „raketisch“ ein reguläres Wort ist, sei mal dahingestellt. Und es ist natürlich zutreffend, dass nur zwei Jahre später die Amis drei Leutchen auf die Mondoberfläche schafften (oder war’s ein Betrug, wie manche behaupten?).

Boys just wann have fun!

Dass die großen Jungs, die sich „Ingenieur“ nennen, auch mal Spaß haben wollen, versteht sich von selbst. Das bekommen zwei Tierchen bei einem wichtigen Experiment zu spüren. Leider haben die Jungs (Frauen kommen praktisch nicht vor) nicht bedacht, dass sich eine Katze und ein Eichhörnchen, die man auf engstem Raum in einer Kanonenkugel einsperrt, nicht unbedingt bestens vertragen. Als Taucher das Geschoss wieder bergen, finden sie vom Eichhörnchen keine Spur mehr vor. Die Katze hingegen erfreut sich bester Gesundheit – kein Wunder! Dem Eichhörnchen errichtet man ein Denkmal als einem „Märtyrer der Wissenschaft“.

Dass beinahe auch die wilden, wilden Seminolen auftreten, dürfte besonders Karl-May-Fans ansprechen. Man wünscht sich direkt den Frieden stiftenden Auftritt von Winnetous Blutsbruder Old Shatterhand.

Die Inszenierung des Hörspiels

Vernes Erzählung ist klugerweise zu einer Reihe von Dialogszenen, Interviews und Reportagen umgestaltet worden, die sich ausgezeichnet für das Audiomedium des Radiospiels eignen. Die Sprecher werden allesamt ihrer jeweiligen Aufgabe gerecht. Es klingt stellenweise wie eine dieser Histo-Dokus aus dem 19. Jahrhunderts, jedenfalls recht lebendig und anschaulich. Am Abend des Abschusses steigt die Spannung natürlich ins Unermessliche. Eine Live-Reportage lässt uns mitfiebern.

In diesem entscheidenden Moment kommt auch das Sounddesign voll zur Geltung. Wenn auch in der Zeit, als hierzulande „Raumschiff Orion“ entstand – mit dem berühmt-berüchtigten Bügeleisengriff auf dem Steuerpult -, die Spezialeffekte längst nicht so ausgereift waren wie heute, so konnte der Tonmeister doch auf entsprechendes Archivmaterial zurückgreifen: Kanonendonner, Vulkanausbrüche, Windgeräusche und dergleichen standen ausreichend zur Verfügung. Für die visionären Augenblicke waren Klänge einer kleinen Elektro-Orgel zuständig. Es klingt recht heimelig.

Unterm Strich

Die bekannte Geschichte ist auch im Hörspiel sehr übersichtlich erzählt. Lebendig und anschaulich wird sie durch die Umgestaltung in Dialogszenen, Interviews und Reportagen. Neben all der Spannung und der Begeisterung für die technische Meisterleistung kommt auch die Komik nicht zu kurz: „Märtyrer der Wissenschaft“, fürwahr! Diese Aspekte machen das Hörspiel zu einem netten Audio-Erlebnis, das man sich immer wieder gerne anhört, um neue Details zu entdecken. Spätestens 2067, zum 200. Geburtstag des Buches.

Umfang: 59 Minuten auf 1 CD