Cixin Liu – Die wandernde Erde. SF-Erzählungen

Chinesische SF-Erzählungen eines Könners

„Als Wissenschaftler herausfinden, dass die Sonne schon bald erlöschen wird, schmiedet die Menschheit einen waghalsigen Plan. Mithilfe gewaltiger Raketentriebwerke soll die Erde aus ihrer Umlaufbahn herausgerissen werden, um in den Weiten des Alls nach einem neuen Heimatstern zu suchen. Und so begibt sich unser Planet auf eine lange, gefährliche Wanderschaft…“ (Verlagsinfo)

Dieser Erzählband enthält elf, mitunter preisgekrönte Erzählungen vom Autor des TRISOLARIS-Zyklus. Die Rechte an „Drei Sonnen“ sind an Amazon Prime für eine Milliarde Dollar verkauft worden. „Die wandernde Erde“ ist bereits in China als Spielfilm realisiert worden.

Der Autor

Liu Cixin alias Cixin Liu (* 23. Juni 1963) ist ein chinesischer Science-Fiction-Autor. „Cixin Liu ist einer der erfolgreichsten und produktivsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Seine Romane wurden bereits acht Mal mit dem Galaxy Award prämiert.“ (Amazon.de) Lius Werk wird als Hard Science Fiction angesehen, und die Trisolaris-Romane werden demnächst verfilmt.

Liu absolvierte eine Technikerausbildung an der North China University of Water Conservancy and Electric Power und arbeitete als Computertechniker für ein Kraftwerk in einem abgelegenen Dorf in der Provinz Shanxi.

Lius berühmtestes Werk, „Die drei Sonnen“, wurde 2006/07 veröffentlicht. Westlichen Lesern wurde es durch die englische Übersetzung von Ken Liu bekannt, die im November 2014 bei Tor Books erschien und 2015 – als erster Roman eines chinesischen Autors – den Hugo Award für den besten Roman 2015 erhielt. Der Kurd-Laßwitz-Preis 2017 folgte für „Die drei Sonnen“ in der Kategorie „Bestes ausländisches Werk“. 2018 soll die Verfilmung des o.g. Werks unter Regie von Zhang Fanfan in die Kinos kommen.

Weiterhin erschien 2017 die Novelle „Spiegel“ (Original: Jingzi) auf Deutsch, die bereits 2004 in China erschien. Darin gelingt es einem Mathematiker durch Einsatz eines Superstring-Computers, den Urknall und die Entstehung der Welt zu simulieren, und er weiß dadurch alles, was je war.

Der Zyklus „Die drei Sonnen“

1) The Three-Body Problem (2006/2014, dt. 2016 als „Die drei Sonnen“)
2) The Dark Forest (2015, dt. als „Der dunkle Wald“ 2018)
3) Death’s End (2016)

Die Erzählungen

1) Die wandernde Erde (2000; Galaxy Award; verfilmt)

Wissenschaftler finden heraus, dass sich die Erde viel früher als erwartet in einen Roten Riesen verwandeln und dann im Umfang die Erdumlaufbahn erreichen wird. Bevor das passiert, wird bei der Umstellung der Fusion von Wasserstoff zu Helium ein Kataklysmus erfolgen: der Helium-Blitz. Dieser wird alles leben auf den inneren Planeten auslöschen. Folglich muss die Erde rechtzeitig verduften.

Es dauert 42 Jahre, die Erdrotation mithilfe gigantischer Raketentriebwerke zum Stillstand zu bringen. Der Mond geht natürlich verloren. Erst dann kann die Einheitsregierung beginnen, die Erde aus ihrer Umlaufbahn zu schieben. Selbst dieses Unterfangen ist schon von großen Umwälzungen begleitet, die die Menschen nur unter der Erdoberfläche überleben können. Der junge Chronist erlebt hautnah mit, wie die Erde vereist und man ein Schlittenrennen quer über den Pazifik veranstaltet. Dabei lernt er eine nette, aber verängstigte Japanerin kennen, die später seine Frau wird.

Noch knapp ein Dutzend Sonnenumrundungen, um den Swing-by-Impuls auszunutzen, dann geht es ab durch den Asteroidengürtel – üble Hindernisse, die die Flotte da sprengen muss – zum Riesenplaneten Jupiter. Dieser stellt eine weitere Herausforderung dar, verleiht aber erneut Swing-by-Energie, um die lange Reise zum System Alpha Centauri anzutreten. Die Erdoberfläche ist mittlerweile kaum noch wiederzuerkennen…

Mein Eindruck

Wie schon Arthur C. Clarke oder Gregory Benford begnügt sich der Autor nicht mit der Erdoberfläche, sondern schaut weit hinaus ins All: Dort liegt die letzte Überlebenschance für die Menschheit. Der junge Erzähler berichtet von Kindesbeinen an, wie er die lange Reise der wandernden Erde in den Brems- und Beschleunigungsjahren miterlebt hat. Millionen von Menschenleben sind dabei verlorengegangen, darunter einer seiner älteren Verwandten. Es gibt zahlreiche anrührende Momente und viele voller Dramatik.

Werden die jungen Menschen auf dem Raumschiff Erde genug Mut und Einfallsreichtum haben, um die Lichtjahre weite Reise zu überstehen? Die Fortsetzung folgt in der Erzählung „Das Mikrozeitalter“.

2) Gipfelstürmer

Feng Fan stammt eigentlich aus dem Hochgebirge, hat aber nach einem Bergsteigerunglück, das er als einziger überlebte, beschlossen, zur Sühne so weit weg wie möglich anzuheuern: auf dem Seefrachter „Blue Ocean“. Das Schiff fährt immer den Äquator entlang. Während Feng von seinem betrüblichen Schicksal erzählt, bemerkt der unerschrockene Kapitän, wie ein Stern immer größer wird, schließlich zur Kugel wird, näher und näher kommt – bis er schließlich, größer als der Vollmond, über dem Pazifik in eine geostationäre Umlaufbahn einschwenkt: Es ist ein Raumschiff, ein fremdes obendrein. Und es beginnt etwas lebensbedrohliches: Es saugt der Erde das Wasser ab!

Die Folgen sind beeindruckend: Alsbald erhebt sich vor den Augen des Bergsteigers Feng ein neuer Berg, 200 Meter höher als der Mount Everest: 9100 Meter – und alles aus Wasser! Seine Bestimmung könnte nicht deutlicher sein: Er muss ihn besteigen. In einem Rettungsboot und mit dem Segen des Kapitäns macht sich Feng auf den Weg, diesen ungewöhnlichen Berg zu erklimmen. Schon bald merkt er, wie die Schwerkraft abnimmt und es ihm so erlaubt, über die Wellen zu fliegen statt zu schwimmen. Schließlich erreicht er das Alien-Raumschiff. Und das ist erst der Anfang seines Abenteuers…

Mein Eindruck

Den Mittelpunkt und Löwenanteil bildet die Geschichte der Aliens, die so kurios ist, dass sie hier eine gesonderte Erwähnung verdient. Es handelt sich um Wesen auf der Basis von Silizium, die ihre elektronische Intelligenz in integrierte Schaltkreise und Chips gepackt haben (wodurch der Kontakt mit Wasser für sie äußerst riskant ist). Aber sie stammen aus einer Welt, die vier Schichten aufweist.

Ursprünglich befindet sich ihre Heimat in einer nur 6000 km durchmessenden Hohlwelt, in der große Städte schweben. Diese Blase ist von einer Schicht festen Gesteins umgeben, über deren Dicke sich die Gelehrten der verschiedenen Schulen heftig streiten. Kühne Geister beginnen, die Gesteinsschicht mit Bohrern zu durchqueren. Der Abraum landet in der Blasenwelt, was bald zu Ärger führt. Doch selbst nach tausenden von Kilometern stoßen die Bohrschiffe noch nicht auf den angeblich jenseits davon liegenden Raum. Es kommt zu einem Krieg zwischen der Regierung der Blasenwelt und der Allianz der Borgesellschaften. Letztere gewinnen und führen die Bohrung weiter…

…bis eine weitere Schicht erreicht wird: Wasser! Dieses bis dato völlig unbekannte und für Elektrowesen verhängnisvolle Element stellt eine große Herausforderung dar. Es sind spezielle Schiffe zu bauen, die den Ozean durchqueren können. Dann stoßen sie endlich an die Meeresoberfläche: Sie lernen Luft kennen, ein weiteres gefährliches Element. Und erst jenseits des Luftozeans kommt der Raum.

Die Moral von der Geschicht‘? Es gibt überall Berge – und mit denen kennt sich der Bergsteiger Feng Fan gut aus. Die Berge gilt es zu erklimmt. Doch nun erhält er die entscheidende Frage: Was, wenn auch der Rand des bekannten Universum der Menschen nur ein weiterer Berg wäre? Welche Berge würden jenseits davon aufs Ersteigen warten?

3) Das Ende der Kreidezeit

Vor 65 Mio. Jahren hat nicht etwa ein Meteorit den Dinos den Garaus gemacht. Ganz im Gegenteil: Sie sind mit den Ameisen eine symbiotische Beziehung eingegangen, die ihre Evolution enorm beschleunigte – durch das Dampf- und Atom- bis hin zum Informationszeitalter. Heute, am Ende der Kreidezeit, sind zwar die auseinandergedrifteten Kontinente Gondwana und Laurasia von verfeindeten Saurierspezies beherrscht, doch die wahren Herrscher sind, wie sich zeigt, die winzigen Ameisen.

Die Dinos haben inzwischen ein massives Energieproblem, das sie veranlasst, nicht nur mehr AKWs zu bauen, sondern nun auch auf anderen Himmelskörpern nach Energierohstoffen wie Uran zu suchen. Sie bereiten eine atomares Wettrüsten nicht vor, sondern ziehen es auch durch. Die Ameisen hingegen sind kluge Verfechter der Nutzung von erneuerbaren Energien wie Sonnenwärme, Windkraft und Biodynamik (eine Eigenerfindung). Ihre Computerchips funktionieren nicht auf Siliziumbasis, sondern ganz anders. Aber die Dinos sind auf die kleinen Heinzelmännchen angewiesen.

In welchem Ausmaß, zeigt sich, als die Dinos die Forderung der Ameisen nach Abrüstung, Selbstgenügsamkeit, Selbstbeschränkung und Ressourcenschonung ablehnen. Die vereinten Ameisenvölker der Erde treten geschlossen in den Streik. Schon bald sind die Folgen, die der Staatsrat dem Kaiser des Reiches von Gondwana schildert, verheerend. So ziemlich alles kommt zum Stillstand. Noch nicht einmal chirurgische Operationen können mehr vorgenommen werden. Überall fehlen die feinmotorischen Fähigkeiten der Ameisen.

Doch statt klein beizugeben, verbündet sich der Kaiser von Gondwana mit dem Präsidenten der laurasischen Republik und erklärt den Ameisen der Welt den Krieg. Ob das wirklich so eine gute Idee ist, muss sich noch zeigen. Keine der beiden Seiten hat nämlich mit einem Überläufer gerechnet…

Mein Eindruck

Die Ameisen siegen – zunächst. Das Reich und die Republik der Dinos liegen am Boden, doch, wie schon der Chefwissenschaftler der Ameisen geahnt hat, befinden sich die beiden Dino-Territorien in einem Gleichgewicht atomarer Abschreckung (das dürfte dem Leser bekannt vorkommen). Nun wiegen sich die Ameisen in falscher Sicherheit, weil sie alle atomaren Anlagen lahmgelegt haben. Denn es gibt noch eine Abschreckungstechnologie, die sich die perversen Hirne der Dinos ausgedacht haben.

Der zum Schein zu den Dinos übergelaufene Chefwissenschaftler bringt in Erfahrung, was es mit den heimlich abgehörten Begriffen „Leviathan“ und „Luna“ auf sich hat und kehrt bestürzt in seine Heimat zurück. „Was wisst ihr über Antimaterie?“, fragt er die führenden Köpfe der Ameisenkonföderation. Herzlich wenig, wie sich herausstellt. Und noch viel weniger wissen diese, wie man per verschlüsselten Aussetzungsbefehl den Countdown stoppt, den die beiden Antimaterie-Bomben „Leviathan“ und „Luna“ alle 72 Stunden runterzählen. Wird die Rettungsaktion von 150 Mio. Ameisen das Ende der Erde, wie die Dino- und Ameisen-Zivilisation sie kennen, verhindern können?

Man sieht: In dieser schönen und sehr spannenden Tierparabel erinnert der Autor daran, in welchem Gleichgewicht des Schreckens sich unsere Welt seit 70 Jahren befindet und wie pervers das eigentlich ist – wenn man bedenkt, dass ein kleiner Fehler genügt (wie ca. 1982 in der Sowjetunion geschehen und erst in letzter Sekunde verhindert), um den nuklearen Erstschlag auszulösen.

4) Die Sonne Chinas (2002, Galaxy Award)

Shuiwa bricht aus dem kleinen Dorf im trockenen Westen Chinas auf, um sein Glück woanders zu suchen. Er heuert in einem Kohlebergwerk an, das ihm ein Schulkamerad empfohlen hat. Aber hier ist es staubig und höchst ungesund. „In der Stadt gibt es mehr zu verdienen“, sagt sein Kamerad, und Shuiwa bricht erneut auf. In der Stadt arbeitet er als Schuhputzer und verdient tatsächlich mehr. Aber sein Quartier muss er mit zahlreichen anderen tagelöhnern teilen. Unter ihnen fällt ihm ein besser gekleideter Herr auf, der einen Anzug trägt und eine ganz spezielle Erfindung gemacht hat: mit gebündeltem Sonnenlicht, das er in einem umgedrehten Regenschirm aus Nanohaut einfängt, bringt er Wasser zum Kochen.

Herr Lu Hai ist überzeugt vom Erfolg seiner Erfindung, leiht sich Geld und lädt den neugierigen und netten Shuiwa ein, mit ihm den Fernzug nach Peking zu besteigen. Shuiwa nimmt an. Die Fahrt in die Hauptstadt dauert Tage und Tage, aber zu seinem Glück stellt sich hier heraus, dass dringend schwindelfreie Fensterputzer gebraucht werden. Diese sollen die nagelneuen Wolkenkratzer vom Staub der umgebenden Wüste befreien – und das möglichst schnell. Die Hauptstadt soll so strahlen wie ihre Regierung.

Unterdessen bewirbt sich Herr Lu Hai mit seiner Erfindung um die Teilnahme an einem Großprojekt, das „die Sonne Chinas“ heißt. Shuiwa hat einen Bericht darüber in den Fernsehnachrichten gesehen und war sofort begeistert. Denn der gewaltige Spiegel, der in einer geostationären Umlaufbahn errichtet werden soll, dient dazu, die trockenen Gebiete im Westen Chinas, aus denen er stammt, zu begrünen. „Klimaregulierung“ mittels Regulierung und Verschiebung der Sonneneinstrahlung. Shuiwas trockenes Dorf soll endlich Wasser erhalten und grün werden, seinen armen Eltern zum Nutzen.

Was so einfach klingt, ist ein langjähriges Großprojekt. Und hier werden jede Menge Fensterputzer für die Spiegel benötigt. Von Herrn Lu Hai, dessen Erfindung die Solarspiegel bildet, protegiert, gehört Shuiwa zum ersten Dutzend „Spiegelbauern“. Über sie machen sich die Planer aus Technik und Verwaltung zwar lustig, aber als Lu Hai sie mal selbst auf einem Fensterputzplattform zwingt, fangen sie sofort an, sich mental in die Hosen zu machen. Löbliche Ausnahme: ein General. Von da ab begegnet die Nation ebenso wie die Regierung den „Spiegelbauern“ mit Respekt.

Zwanzig Jahre vergehen, und „Die Sonne Chinas“ wird ein vorbildhafter Erfolg. Der Grüne Gürtel erstreckt sich vom Westen, wo Suiwas Eltern leben, bis nach Peking, Die Zukunft der Nation liegt offensichtlich in der Umlaufbahn. Industrielle Anlagen werden errichtet. Doch es gibt eine Lücke: „Warum baut niemand Anlagen auf dem Mond oder dem Mars?“, fragt Shuiwa, denn sein Blick geht stets zum nächsten Horizont. Lu Hai antwortet, dass die Prioritäten der Wirtschaftlichkeit dies verhindern würden.

Da hat Shuiwa eine ungewöhnliche Idee. Da der Solarspiegel mittlerweile ausgedient hat, könnte man ihn doch ohne viel „wirtschaftlichen“ Aufwand in ein Raumschiff umwandeln, dass vom Druck des Sonnenwindes in den Raum hinausgetragen wird: zum Mars, zum Jupiter und noch weiter. Lu Hai zögert erst, doch da er mittlerweile der Direktor des gesamten Weltraumprogramms Chinas ist, sagt er schließlich „jein“: „Ist das nicht eine Selbstmordmission, lieber Freund?“ Shuiwa antwortet: „Aber keineswegs. Der Kälteschlaf wird es uns ermöglichen, schon nach 45 Jahren das Centauri-Sonnensystem zu erreichen – und dort oder weiter draußen eine neue Erde zu suchen, unter der Sonne Chinas.“ Gesagt, getan. Und so segelt Shuiwa wohl noch heute zu den Sternen.

Mein Eindruck

Die für die chinesische Jugend geschriebene Erzählung ist in einem bewusst legendenhaft gestalteten Ton gehalten. Von Anfang an weiß der junge Leser, dass Shuiwa nur eine Chiffre ist, mit der er oder sie sich identifizieren kann. Viele dieser Leser kennen die geschilderten Zustände auf dem Lande und in den Städten, in den überfüllten Zügen und den winzigen Quartieren aus eigener Erfahrung. Sie wissen, wie schmutzig die Luft in Peking ist und wie gefährlich die Arbeit in den Kohleminen.

Das Projekt „Sonnen Chinas“ führt ihnen eine optimistische Lösung dieser Probleme vor Augen: ein Grüner Gürtel, erzeugt und gesteuert von einem technologischen Großprojekt, das sicherlich nur das Reich der Mitte stemmen kann. Die „Spiegelbauern“ sind die ausführenden Helden, und feine, moralisch integre Ingenieure wie Lu Hai sind der Kopf des Projekts. Das klingt zwar ein wenig naiv, aber jede Vision hat einmal verrückt geklungen, bevor sie dann ihre Tragfähigkeit bewiesen hatte. Und feine Leute soll es ja fast überall geben…

Arthur C. Clarke, der Erfinder der Satelliten und Konstrukteur des „Fahrstuhls zu den Sternen“ (eine russische Erfindung), hätte an der „Sonne Chinas“ seine helle Freude gehabt. Dass der große Spiegel, den beispielsweise auch A. Eschbach in seinem Roman „Solarstation“ zu einem Thriller genutzt hat, sich auch als Raumsegler nutzen lässt, ist inzwischen ebenfalls nicht neu. Der Autor hat die Kalkulation genau durchgeführt: Die Geschwindigkeit kann 0,1 bis 0,15 c (Lichtgeschwindigkeit) erreichen, was enorm schnell ist – und obendrein kostenlos: Der Sonnenwind liefert den Lichtdruck frei Haus, Planeten wie Jupiter die Swing-by-Dynamik. Und weil das Dreifachsonnensystem (Trisolaris) weitere Gravitation, Lichtdruck und Swing-by-Energie erzeugt, steht der Weg zu den näheren Sternen offen.

5) Um Götter muss man sich kümmern (2005)

Eines Tages erscheinen im Himmel tausende von Raumschiffen, die die Erde wie Spinnen in einem Netz eingefangen haben. Aus ihnen lösen sich zunächst einzelne, dann viele weitere Landefähren, jede mit einem einzigen Wesen bestückt. Die Wesen sehen aus wie ziemlich alte Menschen, ganz weißhaarig und etwas tatterig. Sie behaupten, die Götter der Menschen zu sein. Als man einen davon zu einer Versammlung der Staatsoberhäupter einlädt und nach seinen Absichten befragt, gibt er an, dass er und Seinesgleichen eigentlich nur Zuflucht in der Heimat suchen, die sie vor Jahrmillionen zu diesem Zweck geschaffen haben. „Wir sind eure Schöpfer.“ Und natürlich erwartet er eine gewisse Dankbarkeit.

Aber gleich zwei Milliarden von diesen Tattergreisen und -greisinnen aufzunehmen, ist ein großer Aufwand. Das ist auch dem Greis klar, und im Austausch bietet er Zugang zu der fortgeschrittenen Technologie, die es seiner Raumflotte ermöglicht habe, mit Beinahe-Lichtgeschwindigkeit ans Ende des Universums und zurück zu reisen. Der relativistische Verzögerungseffekt ließ die Menschen viel schneller altern als die „Götter“ auf ihrer Reise.

Anfangs ist Qiushengs Familie begeistert und geehrt, einen leibhaftigen Gott bei sich aufnehmen zu dürfen. Doch er stellt sich als unnützer zusätzlicher Esser heraus, und nach etwa einem halben Jahr sind die Flitterwochen vorüber. Qiushengs Frau Yulian geht gnadenlos mit dem Gott ins Gericht und zetert, was das Zeug hält. Qiushengs Vater haut in die gleiche Kerbe, ganz egal, ob er den Gott beim Schach besiegt oder nicht. Schließlich ist die Zeit der Trennung gekommen. Aber es gibt ein Problem: Der Staat hat ein Götterpflegegesetz verabschiedet, das für treulose Pfleger üble Strafen vorsieht. Doch endlich hat der Gott ein Einsehen…

Mein Eindruck

Auch Götter werden alt, und dieses Alter wird sich auch eines Tages auf die Spezies Mensch auswirken. Das deutet der letzte Satz an. Wie sich also auf diesen unerfreulichen, aber unausweichlichen Zustand vorbereiten? Die Schöpfer haben mehrere Erden geschaffen, und unsere ist Nummer sechs. Leider ergeht es ihnen als unnütze Esser nicht viel besser als auf den anderen Erden. Wenigstens werden sie nicht massakriert. Weise geworden verabschieden sie sich wieder, bevor es zu Schlimmerem als dem Ausgesetztwerden kommen kann.

Die Geschichte wirft ein Schlaglicht auf eine menschliche und rassische Entwicklungsphase, die utopistische AutorInnen gerne ignorieren: das Endstadium. Dabei übersehen sie, dass das Alter seine Erfahrungen und Errungenschaften mit sich bringt, die es weiterzugeben bzw. zu beerben gilt. Der alte Gott verfügt beispielsweise auch über eine Art „Fernseher“, der ihn in – relativistischer – Echtzeit mit seiner am anderen Ende des Universums weilenden Geliebten verbindet. Diese Verbindung beruht offensichtlich auf Quantenverschränkung, wird aber von Qiushengs schlichtmütiger und ungebildeter Familie nicht mal als Wunder wahrgenommen. (Auch im Glossar wird nicht auf dieses Phänomen eingegangen.) Dabei wäre so eine Art von Telekommunikationstechnik ziemlich nützlich.

6) Fluch 5.0 (o.J.)

Die erste Hackerin, die Fluch 1.0 in die Welt setzte, wollte sich nur an ihrem untreuen geliebten Sa Bi rächen und ihn der öffentlichen Ächtung preisgeben. Doch ihr Virus breitete sich zwar in Windows-Betriebssystemen aus, richtete aber außer der gelegentlich hochpoppenden Meldung keinerlei Schaden an. Auch Fluch 2.0, ein Update, das IT-Archäologen mehr als zehn Jahre später vornahmen, verhält sich friedlich. Das ändert sich mit Fluch 3.0, das eine ebenso zornige junge Frau mit einiger Aggressivität versieht. Man wird sie später die „Fluchbewaffnerin“ nennen. Doch die Möglichkeiten des Virus sind – noch – bescheiden. Das ändert sich mit der rasanten Ausbreitung des Internets.

Die Schäden unter den Web-gestützten Dingen und Prozessen sind zunächst auf die Stadt Taiyuan begrenzt. Inzwischen sind der SF-Autor Liu Cixin und sein Kumpel, der Fantasy-Autor Pan, auf den Hund gekommen und unter die Obdachlosen gegangen. Sie werden sogar von staatlicher Seite mit „Sexualaufklärung“ verwöhnt und finden das Leben durchaus akzeptabel – zumal sie von Retro-Redaktionen wie „Science Fiction King“ als Heroen des entschleunigten Offline-Lebens gefeiert werden.

Aber ganz zufrieden sind sie nicht, und als sie in einer Mülltonne einen noch funktionsfähigen Laptop mit dem Fluch 3.0 finden, beschließt Herr Liu, die Kommandozeile zu ändern. Er will alle Frauen Taiyuans zu Opfern machen. Das ist Pan überhaupt nicht recht, denn schließlich zählt die weibliche Häfte der Menschheit zu seiner – bescheidenen – Leserschaft. Als ein Polizist die beiden beim Streit ertappt, schließen sie rasch einen Kompromiss und geben „*.*“ für alle Menschen in Taiyuan ein.

Die Ausbreitung des intelligenten Fluchs 4.0 hat verheerende Folgen. Aber sie sind nichts im Vergleich zu Fluch 5.0, denn nun wird die Begrenzung auf Taiyuan aufgehoben…

Mein Eindruck

So richtig ernst hat der Autor seine witzige, aber auch erschreckende Erzählung wohl nicht gemeint, sonst hätte er sich nicht selbst darin als einen Loser auftreten lassen. Er kritisiert sich selbst als Autor von Hard-Science-Romanen in Überlänge, der die Allmachtsphantasien der männlichen Leserschaft bedient. Bei seinem Fantasy-Kollegen Pan ist genau umgekehrt, nur eben in der weiblichen Variante. Das ist sicherlich ebenfalls eine Überzeichnung.

Man könnte die flotte Story als eine Satire auf solche Autoren auffassen, wenn da nicht die Sache mit dem Computer-Virus wäre. Der Virus wird nicht nur sehr solide – von einer Frau – programmiert, sondern auch noch vererbt, von IT-Archäologen gefunden, aufgemöbelt, mit einem Upgrade versehen und im Internet verbreitet. Nun kommt das eigentliche Thema: Welchen Schaden der Virus anrichten kann, hängt von der Intelligenz der mit dem Internet verbundenen Geräte ab: Taxis, Gebäude, Züge, Medizinverabreichungsapparate und andere kritische Geräte mehr. Die Apokalypse ist nicht mehr aufzuhalten – eine Horrorvision.

7) Das Mikrozeitalter (2001)

Diese Fortsetzung von „Die wandernde Erde“ schildert die Geschehnisse nach der Zerstörung des inneren Sonnensystems, dem Exodus der Erde und der Erkundung der Galaxis auf der Suche nach bewohnbaren Planeten. Der Kundschafter ist der letzte Überlebende einer Reihe von Erkundern. Als er keine Antwortsignale mehr vom Heimatplaneten mehr erhält, kehrt er um. Während auf seinem fast lichtschnellen Flug die Zeit relativistisch kurz verging, lief sie für die alte Erde ziemlich schnell: über 18.000 Jahre sind vergangen, seit die Sonne eine energiereiche Eruption hatte und alles Leben auf der Erdoberfläche auslöschte. Doch es gibt eine Ausnahme…

Der Kundschafter sieht sich auf der ziemlich öden, sterilen und von Vulkanausbrüchen verwüsteten Erdoberfläche um, als er ein kindliches Stimmchen im Kopfhörer seines Helms vernimmt. Ein kleines Mädchen scheint ihn zu grüßen: Es nennt sich „Repräsentantin der Menschheit“. Welcher Menschheit, wundert sich der Kundschafter. Erst dann bemerkt er die kleinen Kuppeln, auf dem Boden, die aussehen wie überdimensionale Regentropfen. In den Tropfen lebt etwas: winzig kleine Menschen, die nur ein Milliardstel mal so groß sind wie er.

„Willkommen im Mikrozeitalter!“, ruft die Repräsentantin in seinem Kopfhörer. Sie und ihre Gefährten in der winzigen Kuppelstadt singen ein Loblied auf das Makrozeitalter – unseres. Als sie aufbricht, um mit einem federartigen Gefährt auf seine Fingerkuppe zu fliegen, bittet sie ihn, ihr sein Raumschiff zu zeigen. Null problemo, sagt der immer noch von Unglauben erfüllte „Vorreiter“. Auf dem Weg dorthin erzählt sie ihm ihre wundersame Geschichte…

Mein Eindruck

Das Ende vom Loblied der Repräsentantin auf ihre eigene Zivilisation ist vorhersehbar: Der „Vorreiter“ muss sich zwischen Mikro- und Makrokultur entscheiden. Soll er mit seiner komplett eingerichteten Arche eine neue Makro-Zivilisation gründen oder sich der Mikro-Zivilisation anschließen? Wie er sich entscheidet, darf hier nicht verraten werden.

Merkwürdig ist in unseren westlichen Augen jedoch die Behauptung der Mikros, sie hätten die beste aller möglichen Welten errichtet. Da klingt nach Staatspropaganda, wie sie sich der KP von China nicht besser wünschen könnte. Was die Propaganda wert ist, sieht man in der Handhabung der Coronavirus-Epidemie: Nicht nur wurden unrealistische, geschönte Fall- und Opferzahlen veröffentlicht, auch die medizinischen Kapazitäten selbst hat die Regierung wohl erheblich überschätzt. In Lius Mikro-Utopia fällt denn auch kein Wort über mögliche Krankheiten und Epidemien.

8) Weltenzerstörer (2002)

Der Kommandant der Raumpatrouille stößt im Sonnensystem auf einen großen Kristall, der eine Botschaft überbringt: „Der Weltenzerstörer kommt!“ Die Botschafter kommt vom Sternsystem Epsilon Eridani, das nicht allzu weit entfernt liegt. Der Kommandant, der eigentlich gefährliche Asteroiden zerstören soll, erfährt, was der Weltenzerstörer macht: Sein Torus legt sich um eine blühende, wasserreiche Welt und plündert sie aus, die Erdbewohner werden als Schlachtvieh gehalten. Danach wird die Erde vollends zerstört. Es gibt also keine Chance.

Das sieht auch der Botschafter Beißer so, der aussieht wie ein Dinosaurier und die Erdlinge davor warnt, dass der Weltenzerstörer komme. Sie hätten nur noch eine Gnadenfrist von 100 Jahren. Die Staatsoberhäupter neigen zu Verhandlungen, werden aber vom Botschafter gefressen. Nein, es dürfte wohl keine Verhandlungen geben. Immerhin können sie sich ausbedingen, dass 100.000 Menschen auf den Mond evakuiert werden. Damit der Mond das Zerstörungswerk übersteht, muss er aber aus seiner Umlaufbahn geschoben werden – mit Atomraketen. Auch bei dieser Arbeit ist der Kommandant mit von der Partie – mit einigen Hintergedanken.

Die hundert Jahre sind um. Der Weltenzerstörer nimmt Kurs auf die Erde. Da befiehlt der inzwischen sichtlich gealterte Kommandant das Sprengen der ersten Lage von Atomraketen. Sie werden den Mond gemäß dem Gesetz der Impulserhaltung anschieben. Eine zweite, tiefer liegende Lage von Atomraketen versetzt den Mond in die Lage, seine Flugbahn zu korrigieren. Zu spät merkt Beißer, der Botschafter, was der Kommandant in Wahrheit vorhat. Denn der Weltenzerstörer hat eine Achillesferse, die es auszunutzen gilt…

Mein Eindruck

Wie in „Drei Sonnen“ sind auch hier die Dimensionen, in denen die Geschichte spielt, wahrhaft intergalaktisch. Und es gibt auch diesmal eine Galgenfrist: 100 Jahre. Nach der Hälfte der Zeit ist noch kein Mittel gefunden, und der Botschafter grinst bereits schadenfroh. Da enthüllt der stets namenlose Kommandant der Raumpatrouille seinen Geheimplan, aber nur seinem engsten Kreis von Mitarbeiter, und setzt ihn vor aller Augen um.

Schadenfroh verfolgt der Leser, wie der Plan funktioniert – zunächst. Doch die List bleibt nicht unerwidert, und ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Der Epilog hält noch eine gewaltige Überraschung bereit, die diese Story zur Fortsetzung der Geschichte „Am Ende der Kreidezeit“ macht. Ob man mit der Selbstaufopferung des Kommandanten einverstanden ist oder nicht, muss jeder Leser selbst entscheiden.

9) Die Versorgung der Menschheit (2005, GALAXY Award)

Drei Jahre sind seit dem Verschwinden der Alten vergangen, doch nun ist ihr Mutterschiff zurückgekehrt und löst sich in seine Tochterschiffe auf, bis deren Vielzahl einen neuen Ring aus Stahl um die Erde legt. Der Auftragskiller Glattrohr bekommt von 13 Superreichen den Auftrag, drei ganz bestimmte Zielobjekte „abzukühlen“. Die drei Objekte stellen sich als ein Obdachloser, ein wohnsitzloser Maler (dem er ein Gemälde abkauft) und eine bettelarme junge Müllsammlerin heraus. Obwohl es gegen sein Berufsethos ist, stellt Glattrohr die verbotene Frage: Was soll das überhaupt?

Der Sprecher der Superreichen macht eine Ausnahme und erklärt dem Killer den Sinn dieser Aktion. Die zurückgekehrten Alten haben den Plan, die gesamte Menschheit auf dem Kontinent Australien in ein Reservat zu sperren und sie auf demjenigen Niveau zu ernähren, das dem durchschnittlichen Minimum entspricht. Logischerweise muss man dafür sorgen, dieses Minimum anzuheben. Und dafür muss man eben entweder Geld unters arme Volk bringen oder die Geldverweigerer eliminieren. Das sieht Glattrohr ein und legt die drei Zielobjekte um.

Doch er wird ertappt. Nicht von der Polizei, versteht sich, sind von einem Repräsentanten der Alten. Die sind nämlich schon längst auf der Erde. Also war die ganze Aktion von vornherein sinnlos. Der Repräsentant erzählt ihm, wie es der ersten der vier von den Alten gegründeten Erden erging: zwei Milliarden rechtlose Arbeitslose mussten den Preis ihre Atemluft an den einzigen verbliebenen Unternehmer und Besitzer entrichten. Bis eines Tages aller Sauerstoff aufgebraucht war und er sie zum Exodus von ihrer Welt zwang…

Mein Eindruck

Das „Komitee zur Verflüssigung des Wohlstands“, das die 13 Superreichen darstellen, klingt zu satirisch, um ernstgenommen werden zu können. Und so ist denn auch der Rest der Parabel, die diese Geschichte darstellt, in einem Ton erzählt, der wenig mit Gefühlen, aber viel mit Strukturen und Theorien zu tun hat. In den Vordergrund schiebt sich die Frage, wie der Reichtum der Welt bzw. Nation gerecht verteilt werden kann. Denn ungerechte Verteilung gibt es mehr als genug: Superreiche und Einziger Unternehmer demonstrieren dies zur Genüge.

Wie Glattrohr, benannt nach der besonderen Machart des Laufs seines Revolvers, feststellt, ist es keine Lösung, einfach Koffer voller Geld zu verschenken. Es gibt Verweigerer. Zwar nur ein Prozent, aber wer will bestimmen, dass dieses eine Prozent weniger lebenswert wäre als der Rest der Menschen? Faschisten vielleicht, Steinzeit-Kommunisten womöglich schon. Am Ende trennen sich der Auftragskiller und der Repräsentant der Alten in Frieden. Aber es gibt noch einen „Job“ zu erledigen…

Ganz schlüssig kommt mir die Argumentation nicht vor, aber wenigstens haben die meisten Figuren Namen und sind nicht bloß Funktionsträger.

10) Durch die Erde zum Mond (2003, GALAXY Award)

Zwei Tiefkühlperioden von jeweils 74 und 50 Jahren erlauben es unserem Berichterstatter, dem Physiker Shen Huabei, die verheerenden Folgen seines Geisteskindes zu beurteilen, mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Shen hat eine Substanz erfunden, die ultrafest ist und somit die Durchdringung der Erdkruste erlaubt. Dort, in der Tiefe des Erdmantels, müssen unglaubliche Schätze zu heben sein, die der ausgebeuteten Erdoberfläche wieder auf die Beine helfen würden. Doch seine Hoffnung wird getrübt durch die Entdeckung, dass er in sechs Monaten an Leukämie sterben wird. Welches Vorbild wird sein Sohn Shen Yang einmal wählen: den visionären Vater oder die entschlossene Realistin seiner Mutter? Yang wählt die reale Zukunft, während Huabei in den Kälteschlag geht.

74 Jahre später erwacht er in einem Kryo-Krankenhaus in den Bergen. Dennoch zerrt ihn einen Bande von sechs erbosten Leuten direkt aus dem Bett, steckt ihn in eine Limousine und expediert ihn zum Tunneleingang. An der Eingangsstation soll sein Urteil vollstreckt werden, sagen sie. Welches Urteil für welches Verbrechen, fragt er verständnislos. Für das Grauen, das sein Sohn Yang mit seinem Tunnel zur Antarktis über die Welt gebracht habe!

Yang hat den Geistesblitz seines Vaters weiterentwickelt und entschlossen in die Tat umgesetzt: den Tunnel von China bis zur Antarktis. In nur 42 Minuten ist man dort, ohne Energie zu verbrauchen – die Schwerkraft besorgt den Rest. Inzwischen ist der Kontinent frei von Eis und Schnee, dank des Klimawandels und der zerstörten Ozonschicht. Neuland, so weit das Auge reicht! Die stärksten Nationen sowie Argentinien haben sich die größten Kuchenstücke gesichert und den Kontinent ebenfalls ausgebeutet und zerstört.

Worauf sind dann die Vollstrecker des Urteils so wütend, fragt Huabei, als er in seinem Schutzanzug Richtung Erdkern fällt. Es gab zwei große Unglücke, und beide verursachten viele Todesfälle und erhebliche Umweltverschmutzung. Da man Shen Yang nicht mehr belangen kann, der sich in den Tunnel davongemacht hat, hält man sich nun an seinem Vater schadlos.

Doch als Huabei am anderen Tunnelende anlangt, wird er gleich noch einmal, zum Selbstschutz, eingefroren. Als er erneut erwacht und erneut durch den Tunnel fällt, hat sich der Fluch des Tunnels zu einem Segen gewandelt…

Mein Eindruck

In diesem Auswahlband bildet diese längere Erzählung einen weiteren Höhepunkt. Wer sich gewundert hat, warum diese Fortsetzung vor dem Start-Text „Mit ihren Augen“ gestellt worden ist, sieht die Wahl nach der Lektüre beider Texte gerechtfertigt. Tatsächlich wäre „Mit ihren Augen“ weniger zu verstehen, würde man die Novelle „Durch die Erde zum Mond“ nicht kennen. Auch sämtliche Prämissen aus „Mit ihren Augen“ werden in der „Fortsetzung“ wissenschaftlich plausibel untermauert und so erst glaubhaft und verständlich gemacht. (Die Anmerkungen sind dafür ebenfalls nützlich.)

Shen Huabeis selbsternannter Richter Deng Yang, der Sohn eines Huabei-Kollegen und „Opfers“ von Shen Yang, erklärt seinem „Delinquenten“ des langen und breiten, wie es zu den Unglücken kommen konnte, für die Huabei nun büßen soll. Das ist eine etwas unglückliche Erzählkonstruktion, aber sie dient dazu, den Leser ebenso aufzuklären wie die Figur Huabei und beide gespannt darauf zu machen, was sie am Ende des Tunnels wohl erwartet. Wenn es nach Deng Yang geht, wäre es der Tod im Tunnel. Doch dazu kommt es glücklicherweise nicht, denn Huabei hat noch ein Abenteuer vor sich…

Vielleicht hat sich der Autor Jules Verne zum Vorbild genommen, vielleicht auch Voltaire (beide werden im Text erwähnt), doch keinesfalls den Roman „Der Tunnel“ des deutschen Autors Bernhard Kellermann aus dem Jahr 1913. Der 1933 verfilmte utopische Entwurf eines Transatlantiktunnels erschien als SF-Klassiker in der SF-Reihe des Heyne Verlags.

11) Mit ihren Augen (1999; 2018 nominiert für den Prix Imaginaire)

Fünf Terraschiffe sind bereits Richtung Erdkern geschickt worden, als beim sechsten etwas schiefgeht. Einer der beiden Motoren hält dem plötzlich angestiegenen Druck im Erdmantel nicht mehr stand und verglüht in 4000 Grad heißem Eisen-Nickel-Magma. „Sonnenuntergang Nummer Sechs“ ist nahe dem flüssigen Erdkern gestrandet, doch die drei Besatzungsmitglieder sind noch am Leben und können per Neutrinofunk senden. Wenig später sterben zwei von ihnen und zurück bleibt eine einsame junge Frau. Doch sie gibt die Hoffnung nicht auf.

Der Neutrinofunk erlaubt es nämlich, nicht nur Audio- und Videokanäle zu übertragen, sondern auch die Gehirnfrequenzen für den Tast- und Geruchsinn. Die Terranautin wendet sind an ihre Zentrale, deren Direktor sich wiederum an den jungen Mann wendet, welcher als Auge und Ohr der Terranautin fungieren soll. Er bekommt nicht verraten, wo sich die Klientin befindet – top secret. Aber er empfängt ein Bild von ihr. Der in der Luft schwebende Stift bleibt ihm ebenso in Erinnerung wie der unzureichend ausgestattete Schutzanzug, den sie trägt. Für eine Astronautin ist sie merkwürdig angezogen. Er setzt die künstlichen Augen auf, die als Schnittstelle für die Kommunikation dienen.

Erst als sie 200 Blumen einen Namen gegeben hat und die köstliche Kühle eines Gebirgsbaches virtuell gekostet hat, beginnt er sich zu wundern, was für ein Schicksal sie erlitten haben mag. Bei einem weiteren Besuch im VR-Zentrum fällt ihm ein besonderes Bild ins Auge. Da fällt es ihm ein, dass es außer dem Weltraum noch einen Ort gibt, wo die Schwerkraft aufgehoben ist…

Mein Eindruck

Dies war die erste Erzählung, mit der der Autor ca. 1999 auf sich aufmerksam machte. Sie verbindet Hard Science mit emotionaler Wucht und einem romantischen Schluss. Die Geschichte ist rund, weiß emotional zu gefallen und wissenschaftliches Interesse zu wecken. Die Figuren verweisen noch nicht, wie in der Fortsetzung „Durch die Erde zum Mond“, auf Jules Verne, aber viel fehlt nicht mehr. Inhaltlich hängt die Geschichte schon mit der Fortsetzung zusammen: Dort ist die einsame Terranautin die Enkeltochter des Berichterstatters Shen Huabei.

12) Nachwort, Anmerkungen usw.

Im Nachwort geht Nicholas Cheetham auf die Eigenarten der chinesischen SF-Literatur ein: „Die neue Reise in den Westen“ heißt sein Essay. Der Titel deutet bereits an, dass es darum geht, den neuen Erfolg der seit Dekaden existente SF-Literatur Chinas im Westen zu erklären.

Die Anmerkungen zu den Übersetzungen, die von verschiedenen Übersetzern stammen, sind unentbehrlich, um viele chinesische wie auch wissenschaftliche Ausdrücke zu verstehen und Phänomene zu verstehen, auf die verwiesen wird, seien sie nun literarisch oder kulturell. Auch viele chinesische Namen erhalten so einen willkommenen Sinn.

Eine Anmerkung zur chinesischen Sprache und Schrift reiht sich in diesen Apparat positiv ein.

Den Schluss bildet ein Auszug aus dem Bestseller „Die drei Sonnen“.

Mein Eindruck

Dieser Anhang erlaubt es dem Einsteiger in Lius Werk, es nicht nur besser zu verstehen, sondern auch die traditionsreiche chinesische SF, von der wir noch viel mehr lesen werden, wenn es nach dem Heyne Verlag geht. Der Romanauszug weckt hoffentlich den Appetit des Einsteigers.

Die Übersetzung aus dem Chinesischen

Ganz unterschiedliche Übersetzer zeichnen für die Übertragung der Texte verantwortlich Dementsprechend verschieden ist auch die Qualität der Texte, was Stil, Fehler und Inhalt angeht. Folgende Fehler habe ich gefunden.

S. 44: „Eine halbe Stunde [später] konnte man…“ Hier fehlt ein wichtiges Wort.

S. 91: „wurde sie von einem heftige[r] Windstoß zerborsten…“ Mal vom holprigen Deutsch abgesehen, ist die Endung in „heftiger“ falsch. Es muss „heftigen“ heißen.

S. 117: „Eigenschaf[t]en“: Das T fehlt.

S. 164: „wir beide nehme[n] die Vernichtung…“ Das N fehlt.

S. 183: „zähl[t]e…“ Das T fehlt.

S. 267: „Yulian… roch das Gas, [als] sie den Kuhstall…“ Das Wörtchen „als“ fehlt.

S. 279: „Unterschiedliche Zivilisation[en] altern…“ Die Pluralendung -en fehlt.

Unterm Strich

Der titelgebende, über 60 Seiten lange Text ist verfilmt worden, meiner Meinung nach zu Recht. Denn die Novelle schildert auf dramatische Weise das Schicksal nicht nur einer Familie, sondern auch Chinas und der ganzen Erde. Die Grundidee ähnelt der von „Drei Sonnen“: Die Erde und mit ihr die Menschheit wird schon bald vernichtet werden. Das gleiche lesen wir in „Der Weltenzerstörer“. Immer wieder müssen sich die Menschen, besonders die Ingenieure etwas einfallen lassen, um diesem traurigen Schicksal zu entgehen. Das sorgt auf jeden Fall für spannende und zuweilen anrührende Lektüre.

Aber der Fortschritt kann auch schiefgehen. Das zeigt angeblich die Novelle „Von der Erde zum Mond“, jedenfalls behauptet das selbsternannte Ankläger, Richter und Henker in einer Person, Deng Yang. Darin wird über den Wissenschaftler bzw. Ingenieur das vermeintlich verdiente Urteil gefällt und sogleich vollstreckt: Sein Sohn habe großes Unheil über die Welt gebracht. Dass es auch Dinosaurier und selbst Ameisen zu einer technisch hochstehenden Zivilisation bringen können, die dennoch an ihren Konflikten scheitert, zeigt die Novelle „Am Ende der Kreidezeit“. Sie ist nicht ohne ironischen Witz.

Neben diesen eher technisch orientierten Erzählungen gibt es aber auch welche, in denen die Zeit und das Alter eine wichtige Rolle spielen. So etwa in „Um Götter muss man sich kümmern“, das in „Die Versorgung der Menschheit“ fortgesetzt wird. Der Autor entwirft mehr oder weniger langfristige Szenarien, in denen menschliche Zeitspannen, Lebenserwartungen und Verhaltensweisen relativiert werden. Natürlich integrieren auch die zwei Kryopausen in „Durch die Erde zum Mond“ diesen Text zu diesem thematischen Komplex.

Tipp

Insgesamt sollte man diesen Erzählband entweder als Liu-Fan, der schon „Drei Sonnen“ kennt, lesen oder als Einsteiger in die moderne chinesische SF-Literatur. Für beide Zielgruppen hält der Band viele positive Entdeckungen bereit. Dies ist auch Vorbereitung auf die Reihe von Liu-Romanen, die 2020 noch erscheinen werden, so etwa „Kugelblitz“.

Für die Druckfehler – siehe oben – gibt es Punktabzug.

taschenbuch: 684 Seiten
Originaltitel: The Wandering Earth, 2008
Aus dem Chinesischen von Karin Betz, Johannes Fiederling und Marc Hermann.
ISBN-13: 9783453319240

www.heyne.de

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