Gaiman, Neil / McKean, Dave – Wölfe in den Wänden, Die

Neil Gaiman ist ein faszinierend vielseitiger Autor. Er schreibt für Erwachsene wie auch für Kinder, er schreibt Romane, Bilderbücher und Comics und zeichnet sich dabei immer wieder durch eine blühende Phantasie aus. Skurrile Figuren, sonderbare Halbwelten, irgendwo zwischen (Alb-)Traum und Wirklichkeit – das sind Gaimans unverkennbare Stärken.

Auch „Die Wölfe in den Wänden“ passt da ins Konzept und ist doch ein gänzlich eigenständiges Werk: Ein Bilderbuch, das dank der Illustrationen von Dave McKean ein so schöner visueller Augenschmaus ist, dass man es gerne mehrmals zur Hand nimmt, auch wenn die Geschichte schnell erzählt ist.

Lucy lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem alten Haus. Immer wieder hört sie aus den Wänden merkwürdige Geräusche und glaubt zu wissen, wer dafür verantwortlich ist: Wölfe, die in den Wänden wohnen. Natürlich glaubt ihr niemand. Was soll dort schon durch die Wände krabbeln? Mäuse vermutlich, schlimmstenfalls Ratten, aber doch keine Wölfe!

Doch eines Nachts wird die Familie eines Besseren belehrt und es passiert genau das, was Lucy befürchtet hat: Die Wölfe kommen aus den Wänden. Die Familie flieht in Panik in den Garten, fügt sich ohne Widerspruch in ihr Schicksal und überlässt den Wölfen das Feld. Jedes Kind weiß schließlich, dass alles vorbei ist, wenn die Wölfe aus den Wänden kommen. Nur Lucy ist nicht bereit, das lieb gewonnene Heim aufzugeben. Sie will nicht tatenlos mit ansehen, wie die Wölfe die Herrschaft über das Haus übernehmen. Also schmiedet Lucy einen Plan …

„Die Wölfe in den Wänden“ klingt zunächst einmal wieder nach einem Märchen mit typisch Gaiman’schem Gruselfaktor. Ähnlich wie bei [„Coraline“,]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=1581 steht im Mittelpunkt der Handlung ein kleines Mädchen, das sich dem Schrecken in den eigenen vier Wänden stellt. Scheinbar furchtlos stellt sich Lucy den Wölfen entgegen, ähnlich furchtlos, wie Coraline den Kampf mit der falschen Mutter aufnimmt. Doch während Coraline sich auf ein Kräftemessen mit ungewissem Ausgang einlassen muss, ist das Problem für Lucy schnell beseitigt, nachdem es erst einmal angegangen wird.

„Die Wölfe in den Wänden“ ist eben nur ein 56-seitiges Bilderbuch und kann somit kaum die erzählerische Komplexität eine Romans erreichen. Gaiman erzählt von Lucys Kampf gegen die Wölfe in wenigen, aber durchaus einprägsamen Worten. Auch wenn sich die Geschichte auf den ersten Blick nicht unbedingt durch eine erzählerische Tiefe auszeichnet, so liegt in den wenigen Seiten mit den intensiven Bildern und den punktgenauen Sätzen dennoch eine unverkennbare Botschaft, aus der der Leser seine Lehren ziehen kann.

Während Lucys Eltern sich in ihr Schicksal fügen, ohne etwas gegen die Invasion der Wölfe unternehmen zu wollen, während sie sich erst gar keine Hoffnungen machen, die enttäuscht werden könnten, weil ja alle sagen, dass es sich nicht lohnt, sich Hoffnungen zu machen, zeigt Lucy, dass man mit Mut und Tatendrang etwas bewegen kann. Sie zeigt, dass sich bestimmte ideelle Werte nicht so einfach ersetzen lassen, dass es sich lohnt, um das zu kämpfen, was einem am Herzen liegt.

Bilder und Text vermitteln die enthaltene Botschaft sehr eindringlich. Die sprachlichen und die visuellen Mittel fügen sich sehr überzeugend zu einem stimmigen Ganzen zusammen. Es ist nicht die erste Zusammenarbeit von Neil Gaiman und Dave McKean, und dass die beiden sich sehr gut ergänzen, macht „Die Wölfe in den Wänden“ zu einem besonderen Lesevergnügen.

McKeans Zeichnungen sind gleichzeitig sonderbar realistisch und plakativ. Gesichter wirken ein wenig zweidimensional, teilweise blass oder gar leer, dennoch wird Lucys Angst vor den Wölfen, die sie in den Wänden hört, greifbar. Einzelne Bildbestandteile sind Fotos entliehen und sie geben den Zeichnungen ihren teils sonderbar realistischen Charakter. Unterbrochen wird dieser Stil immer wieder von wüsten Schraffuren, die den Ausbruch der Wölfe begleiten. Die Farben sind insgesamt eher düster gehalten, so dass die Geschichte durchaus eine unheimliche und finstere Seite entwickelt. McKeans Stil ist schon eigenwillig und von einer Art, die den Grusel der skurrilen Halbwelten im Stile eines Neil Gaiman sehr gut ergänzt.

Was bei der Lektüre indes nicht so ganz klar wird, ist die Zielgruppe des Buches. Von der Einfachheit der Texte und der Botschaft der Geschichte ausgehend, ist „Die Wölfe in den Wänden“ durchaus eine kindgerechte Erzählung. Sie enthält sicherlich einige Szenen, bei denen so manches Kind sich fürchten mag, ist aber insgesamt nicht ganz so gruselig wie „Coraline“, das Gaiman ebenfalls für Kinder geschrieben hat. Der Verlag hält sich mit Altersangaben bedeckt und bietet bei einer Orientierung somit keine Hilfestellung, dennoch erscheint mir „Die Wölfe in den Wänden“ eher als ein Märchen für Kinder, das auch Erwachsene lesen können, als dass es auf eine ältere Zielgruppe zugeschnitten ist.

Etwas bedauerlich bleibt, dass das Lesevergnügen aufgrund der Kürze der Geschichte so schnell vorbei ist. Das ist umso bedauerlicher, wenn man den doch sehr hohen Preis von € 18,- für dieses dünne Büchlein im Hinterkopf behält. Der dürfte vermutlich dafür sorgen, dass „Die Wölfe in den Wänden“ einen geringeren Bekanntheitsgrad erlangen wird, als das Buch eigentlich verdient hätte.

„Die Wölfe in den Wänden“ ist ein schönes, faszinierendes, eigenwilliges und skurriles Bilderbuch. Ein Märchen mit dem gewissen Etwas und eine Geschichte, die eine unverkennbare Botschaft transportiert. Ein Büchlein, das gleichermaßen für Kinder wie für Erwachsene geeignet ist, und eine Geschichte, über die man am Ende nachdenken und reden kann. Nur schade, dass das Buch aufgrund des hohen Anschaffungspreises wohl höchstens eingefleischte Gaiman-Fans erreichen wird. Wirklich schade, eigentlich.