Ursula K. Le Guin – Die Kompassrose. Erzählungen

Anspruchsvolle Erzählungen vom Grenzland der Realität

Nach der Sammlung „Die zwölf Striche der Windrose“ (Band 25 der Heyne Science Fiction Bibliothek) stellen auch die Erzählungen dieser zweiten Storysammlung den außerordentlichen literarischen Rang der Autorin unter Beweis. Eine spätere gute Sammlung, die es ebenfalls auf Deutschen gibt, trägt den Titel „Ein Fischer des Binnenmeeres“ (bei Edition Phantasia).

Die Autorin

In Kalifornien als Tochter eines Kulturanthropologen geboren, studierte Ursula K. Le Guin am Radcliffe College und an der Columbia University, lebt aber seit 1962 als freie Schriftstellerin in Portland, Oregon, wo sie an der Uni lehrt. 1962 erschien ihre erste Story („April in Paris“) und 1966 ihr erster Roman, „Rocannons Welt“. Die ersten Romane zeigen bereits Le Guins Verfahren, eine Geschichte über einer (mythologischen) Grundstruktur um bestimmte Metaphern herum anzulegen.

Viele ihrer Geschichten und Romane spielen in einem fiktiven Universum, dem der Ekumen (dt. „Ökumene“). Botschafter und Agenten tauchen auf, die neue Welten für die Planetenliga der Ekumen gewinnen sollen, so etwa in ihrem berühmten Roman „Die linke Hand der Dunkelheit“. In der Fantasy ragt ihr „Erdsee“-Zyklus über die Masse der Produktion turmhoch hinaus. Erst 2002 erhielt sie für ihren neuesten Erdsee-Roman den World Fantasy Award.

Wiederholt wurde Le Guin mit den wichtigsten Preisen der Science Fiction, der Fantasy, aber auch des Mainstream ausgezeichnet. „Sie gehört zu den führenden und formenden Kräften der Science Fiction in den 70er Jahren, und sie fand [als eine der wenigen AutorInnen] auch außerhalb der Science Fiction breite Anerkennung.“ (Reclams Science Fiction Lexikon, 1982) So erhielt sie beispielsweise den National Book Award der USA.

Auf Deutsch sind (bei Heyne) erschienen:

– Erdsee 1-4 (Sammelband)
– Hainish (3 SF-Romane: Rocannons Welt, Stadt der Illusionen, Das zehnte Jahr)
– Winterplanet / Die linke Hand der Dunkelheit
– Das Wort für Welt ist Wald
– Planet der Habenichtse / Die Enteigneten
– Malafrena
– Die zwölf Striche der Windrose
– Geschichten aus Orsinien
– Die wilde Gabe (bei Festa)
und viele weitere.

Die Erzählungen

Die 20 Texte sind in die vier Windrichtungen sowie in Zenit und Nadir eingeteilt. Nur vier der Geschichten erschienen zuvor bereits auf Deutsch: „Das Tagebuch der Rose“, „Kleingeld“, „Das neue Atlantis“ und „Die Rose des Südens“. Zwei Erzählungen erscheinen in dieser Sammlung zum ersten Mal.

Hinweis:

Wer den Himmelsrichtungen dieser Kompassrose folgt, könnte leicht in Verwirrung geraten. Sie ist nämlich dreidimensional und kennt deshalb auch Nadir (ganz unten) und Zenit (ganz oben). Außerdem folgt auf Norden zwar Osten, nicht aber Süden, sondern vielmehr Westen. Merke: Diese Kompassrose zeigt andere Richtungen an als die des Himmels.

***NADIR

1) Der Autor der Akaziensamen und andere Auszüge aus dem „Journal der Gesellschaft für Therolinguistik“ (1974)

Haben Tiere eine eigene Literatur, die die Erforschung lohnt? Wale singen, Delphine haben zahllose Klick-, Fiep- und Quietschlaute – eine Form der Lyrik? Ein erster Hinweis, dass auch unter Ameisen Literatur nicht unbekannt ist, wurde auf einer Reihe von Akaziensamen am Rande eines Ameisenhaufens entdeckt.

Die Samen waren mit Zeichen bedeckt, doch diese Zeichen sind vieldeutig, und ihre Deutung muss auf die Ameisenexistenz angewandt werden. Die Botschaft lautet offenbar: „Fresst die Eier! Nieder mit der Königin!“ Ein Aufruf zur Revolution, kein Zweifel. Denn der Autorin, die neben den Samen gefunden wurde, war der Kopf abgebissen worden…

Wer weiß, was unter Adelie- und Kaiserpinguinen als Literatur gilt? Die Wissenschaft der Therologie spekuliert, weist aber die Idee zurück,. Dass auch Pflanzen… nein, einfach unvorstellbar. ObwohL. Wenn man sich die Muster anschaut, die Flechten (Pilze + Mikroben) auf Steinen erzeugen, könnte man auf gewisse verschrobene Schlussfolgerungen verfallen.

Mein Eindruck

Zunächst scheint dieser Texte eine blenden und sehr kenntnisreiche Satire auf die postmodernen Bemühungen zu sein, in allem und jedem einen Text und somit einen Autor und eine Botschaft zu suchen. Dass Ameisen einen Aufruf zur Revolution verfassen, könnte ins Umfeld passen, aber vielleicht war hier nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Würde man aber alle Lebewesen als beseelt und selbst Gaia als bewusste Entität betrachten (was manche Menschen ja tun), dann bestünde die ganze Schöpfung aus einem Chor von Liedern und Gesängen.

2) Das neue Atlantis (1975)

In dieser Version der Vereinigten Staaten möchte man wirklich nicht leben müssen. Lebensmittel sind ebenso rationiert wie Gas, Wasser und Strom. Familien sind verpönt, die Bundesregierung propagiert Gruppensex und Homosexualität. Die Bundespolizei dieses totalitären Staates überwacht alle und jeden, so dass etliche, unliebsame Zeitgenossen wie etwa ein harmloser Mathematiker ins Internierungs- und Umerziehungslager wandern.

Ein solcher Mathematiker ist Simon, der nach zwölf Tagen im Lager wieder zurück zu seiner Frau Belle in Portland, Oregon (der Heimatstadt der Autorin) zurückkehrt. Sie erkennt ihn zunächst nicht wieder: abgemagert, verletzt, von Alpträumen heimgesucht. Auf dem Schwarzmarkt kauft sie teures Aspirin für ihn, denn alle Medikamente, die die Bundesregierung ausgibt, taugen nichts.

Nach dem erneuten Besuch des FBI – Belle musste ja Simons Rückkehr beim Amt melden – bekommt Simon heimlich Besuch von Max, der dem Untergrund angehört, dem Samisdat. Zusammen tüfteln sie die fehlende Formel für ein neues Energiespeichergerät aus, das Sonnenenergie schon nach kurzer Ladedauer für lange Zeit speichern kann, sich aber fast wie ein USB-Stick transportieren und handhaben lässt – eine unerschöpfliche Energiequelle.

Aber war die Wanze, die das FBI im Zugang zum Badezimmer implantiert hat, wirklich unschädlich gemacht? Während kuriose Nachrichten über einen aus dem Ozean aufsteigenden Kontinent übers TV verbreitet werden, wartet Belle wie auf heißen Kohlen auf die Reaktion des Staates…

Mein Eindruck

Der ans Licht aufsteigende Kontinent mit seiner fühlenden (unbekannten) Bevölkerung entspricht einer Art kollektivem Unbewussten à la C.G. Jung. Sein Hunger nach Licht, Energie und Kontakt entspricht Belles Sehnsucht nach Licht, Energie und Kontakt in ihrem tristen, unterdrückten Leben in Portland, ihrem Hunger nach Hoffnung. Die Solarbatterie wird sozusagen zum Hoffnungsträger für sie wie auch für die Wesen aus der Tiefe (deren Blickpunkt rein subjektiv, aber sehr poetisch dargestellt wird).

Die Solarbatterie und die damit verbundene Technologie verspricht genau das, was heute, in den 2010er Jahren, endlich realisiert wird: unabhängige Stromproduktion, Entmachtung der Energiekonzerne, Entmachtung des darin investierten Kapitals und (ganz vielleicht) Entmachtung der mit dem Kapital verflochtenen Regierungsbehörden. Diese neue Bedrohung der Behörden muss natürlich in Portland in den Untergrund gehen, um nicht im Keim erstickt zu werden. In diesem Ansatz mutet die Geschichte wie ein Text von Stanislaw Lem (der im 2. Weltkrieg unter den Nazis dienen musste, um zu überleben) oder den Brüdern Strugatzki an.

Die Symbolik von Licht und Dunkel, Hoffnung und Kontakt ergänzt diesen Aspekt auf eine unnachahmlich Le-Guin-sche Weise. Dass die „oberirdische“ Handlung aus dem Blickwinkel einer Frau erzählt wird, kann bei einer Autorin, die über Frauen in Zeiten der Anarchie und Revolution („The Day Before the Revolution“, 1973) geschrieben hat, niemanden überraschen.

3) Schrödingers Kater (1974)

Die Erzählung des unzuverlässigen Chronisten erwähnt zerbrochene Paare, überhitzte Luft aufgrund überhöhter Geschwindigkeit und nicht zuletzt das berühmteste Experiment der Quantenphysik: „Schrödingers Katze“. Wie es funktioniert, wird genau beschrieben. Es ist Rover, der hündische Gefährte des Chronisten, der aus seinem Seesack die benötigte Schachtel auspackt und aufstellt. Nun soll der Kater hineinfabriziert und der Deckel geschlossen werden – fertig?

Alles fertig. Also: In Erwin Schrödingers Experiment wurde in die Schachtel ein gewehr gesteckt, dessen Schuss durch ein Lichtteilchen ausgelöst wird, falls es auf seinem Flug irgendwie abgelenkt wird – oder auch nicht. Ob die Katze in der Schachtel wirklich tot, also erschossen, ist oder nicht, lässt sich niemals feststellen, ohne den Deckel der Schachtel abzuheben und hineinzuschauen. Was aber, wenn es genau dieses Nachsehen ist, das die Katze umbringt? (Werner Heisenbergs Unschärferelation beschreibt dieses Dilemma.)

Unsere Chronistin (ihr Geschlecht ist unbestimmt) weiß dies alles und verlangt eine Erweiterung des Bezugsrahmens: Die Experimentatoren sollen in das Experiment einbezogen werden. Genau dies geschieht: Als der Gefährte den Deckel der Schachtel öffnet, ist der hineingesprungene Kater fort – und zugleich wird das Dach des Hauses abgehoben. Die Sterne starren unvernünftig herab…

Mein Eindruck

So sehr die Autorin hier auch ihren Spaß haben mag und der Leser verwirrt sein kann – so ist doch dem Physiker klar, dass hier das Experiment „Schrödingers Katze“ nicht auf den kleinen Bezugsrahmen beschränkt bleibt, sondern auf die gesamte Realität angewandt wird – und zwar wortwörtlich. Ein Schriftsteller darf das, und der Leser ist gut beraten, ihn bzw. nicht beim Wort zu nehmen. Dann kann man ebenfalls seinen Spaß an dieser Story haben.

***NORDEN

4) Zwei Verspätungen auf der Nordstrecke (1979)

In einem nicht näher bezeichneten Land im Südosten Europas oder in Südamerika liegen die Städte Brailava und Krasnoy. Sie werden von der Nordstrecke der Eisenbahn verbunden, die zwei Männern zum Schicksal wird.

Eduard Orte, ein Witwer, ist per Telegramm von seiner Schwester Retsia herbeigerufen worden: Die Mutter hat einen Schlaganfall erlitten. Wegen Überschwemmungen kommt er zu spät, um die Kranke noch lebend anzutreffen. Die Mutter ist tot, aber Retsia und der Bruder Nikola mitsamt Anhang drücken ihm ihr Beileid aus. Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend vermischen sich mit den Eindrücken von einem Haus, das von Familienmitgliedern nur so birst.

Erschreckt hat ihn lediglich der Anblick eines Jungen, der ihn an der Haustür begrüßt, und der nicht nur den gleichen Namen trägt, sondern auch genauso aussieht. Seine Geschwister gehen gar nicht darauf ein. Anscheinend hat Eduard den Jungen geträumt. Abends muss er draußen aus der verglasten Veranda schlafen, und er beginnt zu vergessen…

Edward Russe, ein lediger Hausverwalter, erhält von einem Anwalt die Nachricht, dass sein Großonkel in Brailava verstorben sei und ihm sein Haus vererbt habe. Nach Wochen der Nichtreaktion folgt ein zweiter Brief mitsamt eines Schlüsselbundes und des versteckt formulierten Angebots, das Haus für ihn zu veräußern.

Edward fährt selbst hin, kommt wegen einer Verspätung – eine Kollision des Zuges mit einem LKW – spätnachts an und schließt mithilfe der Schlüssel das Haus auf. Es ist vor allem leer und still. Als er am nächsten Morgen im Sonnenschein erwacht, fällt sein Blick auf die gekreuzten Säbel an der Wand. Sie sollten dringend blankpoliert werden – das meinte er schon vor seinem Weggang. Es gibt viel zu tun. Er ist endlich heimgekehrt.

Mein Eindruck

Diese zwei Geschichten scheinen in dem Phantasieregion Orsinien zu spielen, die die Autorin erdacht und in der Erzählsammlung „Geschichten aus Orsinien“ zusammengefasst hat. Zwei Männer mittleren Alters werden in die Häuser ihrer Jugend und Kindheit gerufen. Das Ergebnis ist unterschiedlich. Eduard Orte begegnet seinem kindlichen Ich und Edwart Russe findet endlich das verloren geglaubte Heim seiner Seele. In beiden Fälle spielt ein Tod, ein Ruf und Familienbande eine Rolle.

Die Erklärung, warum die zweite Hälfte der Geschichte die Überschrift „Seelenwanderung“ trägt, muss sich jeder Leser selbst zurechtlegen. Vielleicht hat sich nämlich bei den „Verspätungen“ der Lauf der Zeit verzweigt und Geschichte B ist eine Variante von Geschichte B. Edward Russe ist eingeschlafen und wird durch das Eisenbahnunglück unsanft geweckt.

Dem Leser ist es überlassen, ob er dem Happy-End, das Russe erlebt, den Vorzug vor dem Schicksal Ortes gibt. Ist es besser, einsam aber zufrieden zu sein, als unzufrieden, aber von lieben Menschen umgeben zu sein?

5) SQ (1978)

Dr. Speakies SQ-Test hat die Welt verändert. Der Test findet heraus, wer geistig gesund ist und wer verrückt. Man sollte nicht glauben, wie viele Verrückte es auf der Welt gibt, findet Mary Ann Smith, die Chefassistentin von Dr. Speakie und unsere Chronistin. Es sind über 60 Prozent, wer hätte das gedacht. Man könnte direkt an der Menschheit zweifeln – oder am Test, wie es zu Anfang die Kritiker taten. Diese Zeiten sind mittlerweile vorüber…

Die Weltregierung, bei der Dr. Speakie seinen Test angewandt hat, hat ihren Mitgliedsländern empfohlen, ebenfalls den SQ-Test machen zu lassen, ganz besonders bei den jeweiligen Regierungsmitgliedern. Diejenigen, die mehr als den Mindestwert von 50 Punkten erzeilten, mussten natürlich in die Vollendungsanstalten eingewiesen und von Pflegern betreut werden, völlig klar.

Wenn aber drei von fünf Menschen in der Anstalt stecken, um therapiert zu werden, entstehen natürlich erhebliche Probleme in den Abläufen der Wirtschaft und Versorgung. Deshalb, so Mary Ann, wurde die Wirtschaft und Versorgung vernünftigerweise in die Anstalten verlegt. Und wenn die Australier nicht beim Test geschummelt hätten, wäre alles reibungslos verlaufen.

Mary Ann ist verwundert, als ihr Dr. Speakie, an den sie seit jeher geglaubt hat, ihr verrät, bei seinem letzten Test vor zwei Tagen habe er die Marke von 90 Punkten überschritten. Was für ein guter Witz! Schließlich ist er jetzt der Interims-Weltpräsident! Doch er besteht darauf und springt ihr an die Gurgel. Mit Hilfe von Bill, dem Hausmeister des Weltregierungsgebäudes, bändigt sie Dr. Speakie. Was bleibt ihr anderes übrig, als die schwere Bürde zu übernehmen, die Welt zu regieren – jetzt, wo fast alle anderen verrückt sind…

Mein Eindruck

„SQ“ ist das Codekürzel für Sanity Quotient, vermute ich. Die Autorin zeigt die Folgen auf, die entstehen könnten, sollte einmal die Disziplin der „Psychometrie“ an die Macht kommen und Menschen in Verrückte und geistig Gesunde einteilen. Ihre Chronistin Mary Ann Smith, eine naiv gläubige Anhängerin von Dr. Speakies Methode, berichtet, wie überraschend schnell sich der SQ-Test ausbreiten ließe. Zunächst in Staaten mit eh schon repressiven Systemen wie China, Libyen und der Sowjetunion. Dann aber auch in liberaleren Systemen wie England.

Witzig sind natürlich die Fehlschläge, so etwa der zunächst erfolgreiche Versuch der Australier, die Tests zu manipulieren und gute Ergebnisse vorzutäuschen. Das geht natürlich nicht lange gut, denn der SQ-Test wird auch auf die Tester angewandt. Am Schluss ist die ganze Welt eine Irrenanstalt – mit ein paar wenigen Doofen wie Mary Ann, die den Laden leiten und über Milliarden von Irren herrschen. Da kann einem schon angst und bange werden. Siehe dazu auch die Story „Das Tagebuch der Rose“.


6) Kleingeld (1981)

Offenbar haben verschiedene Invasionen stattgefunden und die Tante ist gestorben. Aber nicht für die Erzählerin, die sie immer noch sehen kann, zumindest das, was wir als „Geist“ bezeichnen würden. Die Nichte ist ein Medium. Die Tante hat von ihre einen Obolus für den Fährmann Charon mitbekommen, eine uralte Zechine, doch das ist offenbar nicht genug. Sie beschwert sich über das „Kleingeld“.

Dennoch betritt sie das Haus mit den vielen Zimmern und sucht ihre Verwandten. Sie findet Lila, die Mutter der Erzählerin. Natürlich reden beide über die Erzählerin und fragen sich, was nun wohl aus ihr werden solle. Den Körper der Tante bestatten die Erwachsenen, doch die Nichte fällt ihn Ohnmacht. Sie erwacht im Haus ihrer Tante, das nun leer, einsam und ärmlich ist. Ein Steuereintreiber holt Möbel ab, um offene Schulden zu begleichen. Ein anderer Mann droht, der Nichte an die Wäsche zu gehen.

Als die Tante nachts aus dem Boden des Hinterzimmers steigt, ist die Nichte derart angsterfüllt, dass sie deren Angebot annimmt, mit ihr zu gehen, über Charons Fluss in das unentdeckte Land. Aber auch Charon bekommt nur Kleingeld…

Mein Eindruck

Dies ist eine der anrührendsten Geistergeschichten, die ich kenne. Über den Hintergrund wird nicht viel gesagt, wohl aber erfahren wir alles, was wir über die Tante und die Nichte wissen müssen. Der Titel „Small change“ ist ein Wortspiel, denn es bedeutet nicht nur „Kleingeld“, sondern auch „kleine Veränderung“ – eine glatte, ironische Untertreibung. Mit der Veränderung ist nämlich der Tod gemeint.

Man sollte die Geschichte, die zuerst in einer deutschen Anthologie veröffentlicht wurde, möglichst zweimal lesen. Nicht nur, um die Identität der Erzählerin herauszubekommen, sondern auch, was alles mit dem Bild der Weberei, des Webstuhls und des Fadens gemeint ist – dies ist der Ariadnefaden, der hilft, sich im Labyrinth des Jenseits zurechtzufinden. Aber was, wenn der Faden reißt?

***OSTEN

7) Der erste Bericht des schiffbrüchigen Fremden an den Kadanh von Derb (1978)

Ein Angehöriger der Interstellaren Flotte der Erde ist gestrandet und soll dem Fürsten Bericht erstatten: Wie ist denn die Erde so? Anstelle der Fakten aus Astronomie, Physik, Chemie und Biologie erzählt der Offizier ein Märchen. Aber es ist ein Märchen ohne Handlung – es sei denn, die Handlung verläuft sehr langsam und über Jahrtausende hinweg. Denn der Schauplatz ist Venedig.

Dieses Venedig ist die Idee einer Stadt. Sie erscheint zwar ewig, ist aber sterblich: Sie versinkt, sie zerfällt, sie wird zerstört. Und doch ist sie die Essenz der Stadt, und die geflügelten Löwen von San Marco können davon erzählen…

Mein Eindruck

Im Grunde ist dies eine der schönsten literarischen Beschreibungen der Serenissima, die man jemals lesen wird. Sie fängt genau die Stimmung der Stadt ein, imaginiert ihre Vergangenheit (Teutonen, Langobarden, deutsche Pädophile), ihre Gegenwart und ihre allzu gewisse Zukunft im feuchten Element, auf das sie errichtet wurde. Einfach wunderbar. Und für den Kenner sehr amüsant, so etwa bei der Anspielung auf Thomas Manns Roman „Der Tod in Venedig“.

8) Das Tagebuch der Rose (Jupiter Award 1976)

Dr. Rose Sobel ist medizinische Psychoskopin und hat die Aufgabe, das Bewusstsein von Patienten ihrer Vorgesetzten Dr. Nades zu untersuchen, d. h. sowohl die bewusste als auch die unbewusste Ebene. Die neuesten Patienten sind die depressive Bäckerin Ana Jest, 46, und der paranoide Ingenieur Flores Sorde, 36, ein angeblich psychopathischer Gewalttäter.

Ana Jest bietet keinerlei Überraschungen, was man von F. Sorde nicht behaupten kann. Nicht nur ist er ein überaus verständiger, friedlicher und intelligenter Mann, sondern bietet Dr. Sobel auch ein besonderes Erlebnis: Aus seinem Bewusstsein generiert er das perfekte Abbild einer großen roten Rose, wie sie Dr. Sobel noch nie gesehen hat. Was hat das zu bedeuten? Doch das weitere Vordringen verhindert Sordes deutliche Blockade: „ZUTRITT VERBOTEN!“

Sobel beschwert sich über dieses Ausgeschlossenwerden, und Sorde muss ihr erklären, wovor er Angst hat: vor dem Eingesperrtsein, vor Gewalt, vor Unfreiheit und vor allem vor dem Vergessen, das die Elektroschocktherapie bringen wird. Sie dementiert, dass es eine solche ETC geben werde, doch er lächelt nur über ihre Naivität. Sie mag ja eine Diagnose stellen, aber die Entscheidung über die Behandlung treffen andere, so etwa Dr. Nades. Oder die TRTU, was wohl die Geheime Staatspolizei ist. Durch Einblicke in seine Kindheit erkennt sie, wonach er sich sehnt: nach einem Beschützer, der ihm alle Angst nimmt. Seine Idee von Demokratie demonstriert er mit dem letzten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie: Brüderlichkeit, Freiheit usw. Au weia, denkt Rose, er ist also doch ein gefährlicher Liberaler.

Dennoch schafft sie es, ihn aus der Abteilung für Gewalttäter in die normale Station für Männer verlegen zu lassen. Dort lernt er Prof. Dr. Arca kennen, den Autor des Buches „Über die Idee der Freiheit im 20. Jahrhundert“, das Sorde gelesen hat. Das war, bevor es verboten und verbrannt wurde. Prof. Arca hat durch die Elektroschocktherapie sein Gedächtnis verloren. Sorde befürchtet stark, dass er genauso werden wird wie Arca. Rose ist verunsichert. Sie versteckt ihr Tagebuch. Denn dieses Tagebuch enthält auch ihre eigenen geheimen Gedanken und Gefühle, und wer weiß schon, was die TRTU davon hielte?

Mein Eindruck

Rose Sobel denkt, sie wäre eine unbeteiligte Beobachterin, wenn sie einem Menschen ins Bewusstsein blickt. Aber das ist, wie wir durch Heisenbergs Unschärferelation wissen, eine Selbsttäuschung. Der Beobachter beeinflusst das zu Beobachtende und umgekehrt. Ganz besonders bei Menschen. So kommt Rose nicht umhin, von Sorde beeinflusst zu werden, und sich verbotene Fragen zu stellen. Fragen, die auch die klugen Ratgeber, die ihre Chefin empfiehlt, nicht beantworten: Warum haben alle so viel Angst?

Dass etwas mit ihrer eigenen Welt nicht in Ordnung sein könnte, geht ihr nur allmählich auf. Dass die TRTU ihren Patienten vielleicht völlig grundlos wegen „Verdrossenheit“ eingewiesen hat und ihn schließlich fertigmachen will, entwickelt sich nur allmählich zur schrecklichen Gewissheit. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es keine unpolitische Psychiatrie mehr geben kann. Deshalb will sich Rose zur Kinderklinik versetzen lassen. Ob dort die Patienten weniger Angst haben werden?

Die Erzählung ist typisch für Le Guin: Sie zeigt die politische, ethische und zwischenmenschliche Verantwortung der Mitarbeiterin in der staatlichen Psychiatrie auf. Diese Verantwortung ist auf heutige Verhältnisse zu übertragen, falls es dazu kommt, dass in den USA ein Polizeistaat errichtet wird. Und wenn man den Patriot Act von 2001 mal genau durchliest, dann kann es sehr leicht dazu kommen. Ich liebe solche warnenden Geschichten. Sollen sie mich doch dafür einsperren und „therapieren“…

9) Der weiße Esel (1980)

Sita ist die Ziegenhirtin des kleinen indischen Dorfes. Als Nana ihr erzählt, es gäbe tief im Wald einen saftigen Weideplatz, macht sich Sita eines Tages dorthin auf. Weil ihr Großvater sie gewarnt hat, nimmt sie sich vor Schlangen in acht. Schon nach wenigen Tagen werden ihre Tiere vom saftigen Gras fett, was Sita freut. Aber ein weiterer Gast stellt sich an diesem abgeschiedenen Ort ein: ein weißer Esel.

Sita überlegt, wem dieser Esel gehören könnte, und findet niemanden. Es ist ein wilder Esel. Aber sie hat noch nie einen Esel gesehen, der so wohlgenährt war und ein Horn auf der Stirn hatte. Als das Tier seinen Kopf in ihren Schoß legt, lässt sie es gewähren und streichelt es. Erst als Sita erfährt, dass sie verheiratet werden soll, muss sie von ihrem Lieblingsesel Abschied nehmen.

Mein Eindruck

Der weiße Esel ist ein Einhorn, soviel ist dem kundigen Fantasyleser schnell klar. Und dass Einhörner Jungfrauen auswählen, um ihnen den Kopf in den unberührten Schoßs zu legen, ist eine weithin bekannte Legende. Was jetzt noch fehlt, ist der männliche Jäger, der das Symbol der Unschuld erlegt. Dieser Part ereignet sich zum Glück nicht.

Aber Sita ahnt dennoch, dass die Heirat und er damit verbundene Verlust der Unschuld das Ende der intimen Beziehung zu dem wilden Einhorn bedeutet. Sie weiß das, weil sie nun ihre Pflichten als Gattin, Mutter und Hausfrau erfüllen muss, so dass fürs Ziegenhüten keine Zeit bleibt. Somit wird die Geschichte zur Parabel über das Schicksal jeder indischen Frau, ganz besonders auf dem Lande – und vielleicht sogar für das Schicksal aller Frauen seit dem Anbeginn der Zeit.

10) Der Phönix (1982)

Mitten in den Wirren eines Bürgerkriegs zwischen Regierungstreuen und Partisanen macht eine Radioreporterin eine interessante Entdeckung. Ein Bibliothekar hat versucht, aus dem Flammeninferno, in das seine Bücherei von Kämpfern der Partisanen verwandelt worden war, Bücher zu retten, und zwar unter Einsatz seines Lebens.

Als sie herausfinden will, warum er das getan hat, rennt sie gegen eine Mauer aus Schweigen an. Ist dieser Mann vielleicht ein stiller Held der bescheidenen Sorte, fragt sie sich. Und auf welcher Seite steht er überhaupt? Als Antwort erhält sie nur ein enigmatisches „Keine wertvollen“. Er meint: keine wertvollen Bücher. Aber warum hat er dann nur diese und nicht die wirklich wertvollen Bücher gerettet? Je mehr sie ihn fragt, umso größer wird das Rätsel.

Mein Eindruck

Wieder einmal befasst sich die Autorin mit einem ihrer Lieblingsthemen: Revolution. Als Spezialistin für Anarchie hat sie ja den preisgekrönten Roman „Die Enteigneten“ geschrieben und mit „Der Tag vor der Revolution“ eine weitere preisgekrönte Novelle zum Thema veröffentlicht (abgedruckt in der Sammlung „Die 12 Striche der Windrose“, deutsch bei Heyne).

Was tun, wenn’s brennt, scheint die Autorin ihre Reporterin fragen zu lassen. Statt zu antworten „Brennen lassen!“, beschäftigt sie sich mit der Frage, was mit der Kultur während eines Bürgerkriegs passiert. Das titelgebende Theater „The Phoenix“ wird Opfer eines blutigen Anschlags, die Bücherei wird abgefackelt – was ist noch zu retten? Vielleicht nur das nackte Leben.

***ZENIT

11) Intercom (1974)

Ein Raumschiff mit dem schönen Namen „Mary Jane Hewett“ ist seit Lichtjahren unterwegs zum Südarm des Orion. Die Flotte bringt Affenbrotbäume zu den Sternen des äußeren Spiralarms der Milchstraße. Ist das Ziel die Sonne Arcturus? Die Besatzung weiß es nicht. Von „Mannschaft“ kann eigentlich keine Rede sein: Es handelt sich um vier Frauen und einen Mann. Sein Name lautet Mr. Balls (Herr Hoden), was ihn durchaus depressiv macht.

Aber Depression ist gar nichts gegen den Wahnsinn des Verrückten Zweiten Offiziers (VZO) Sie musste eingesperrt und durch einen Türschlitz gefüttert werden. Als der Erste Offizier nach ihr sieht, dreht sie den Spieß um und schließt diese ihrerseits ein. Nun dreht der IO durch und faselt etwas von einem Alien, das an Bord sei. Alle verständigen sich nur durch die Bordsprechanlage, das Intercom. Als der Kapitänin klar wird, dass tatsächlich ein Alien an Bord ist, das unter Schluckauf leidet, ergreift sie drastische Maßnahmen…

Mein Eindruck

Dieses witzige Hörspiel, in dem nur die Durchsagen zu lesen sind, ist eine Parodie auf all die männerlastigen TV-Serien wie „Star Trek“, in denen rechte Kerle zu den Sternen düsen, um irgendwelche Entdeckungen oder unsinnige Aufträge auszuführen – beispielsweise Affenbrotbäume zu den Sternen zu bringen (Es war wohl die „Bounty“, die im 18. Jahrhundert gewisse Baumsetzlinge aus der Südsee in die Karibik transportieren sollte – daraus wurde wg. Meuterei leider nichts.) Der Kapitän heißt natürlich „Cook“ – sie ist fürs Kochen zuständig. Dass sie nur Dosensuppen kochen kann, gehört zu den Dauerleiden, die die Crew zu ertragen gelernt hat – nicht aber das Alien.

Die Parodie beschränkt sich aber nicht auf „Star Trek“ und Co., sondern auch auf „2001 – Odyssee im Weltraum“. Dort sagt Bowman an einer Stelle: „Mein Gott, es [der schwarze Monolith] ist voller Sterne!“ In der Parodie heißt es vom VZO: „Heiliger Gott, es ist voller Zucker.“ Auch Shakespeare kommt nicht ungeschoren davon: „Dem armen Tom ist kalt“, sagt der/die ZVO und zitiert dabei den Narren aus „King Lear“.

12) Die Veränderung des Auges (1974)

Israelische Siedler von der Erde haben auf Neu-Zion 20 Siedlungen errichtet. Um auf der fremden Welt zu überleben, haben sie alle personalisierte Stoffwechselpillen nehmen müssen. Nun entdeckt die Ärztin Miriam, dass ihr Dauerpatient Gennadi, ein Kunstmaler, schon seit bMonaten keine Stoffwechselpillen mehr genommen hat – aber immer noch quicklebendig ist. Den letzten Kollaps hat er sich nur zugezogen, sagt er, weil er sich nicht mit einem Hut gegen die Hitze der orangefarbene Sonne geschützt hatte.

Aber Miriam hasst diese Welt. Sie hat eine psychische Allergie dagegen entwickelt. Dieses dunstige, verwaschene Licht einer beinah schon im Sterben begriffenen Sonne – all das ist ihr zuwider. Und dass sie nicht weiß, ob die abgesetzten Stoffwechselpillen nun Gennadi guttun oder schaden, macht sie umso zorniger.

Das hält sie aber nicht davon ab, ihn weiter zu unterstützen. Schließlich hat sie den Hippokratischen Eid geleistet. Papier! Echtes Papier! Und das in rauen Mengen – Gennadi kann sich vor Freude kaum fassen und malt drauflos. Aber was er malt, sieht ganz anders aus als, was Miriam draußen vorm Fenster sieht. Und auch im einzigen Raum, der mit „irdischem“ Sonnenlicht erhellt wird, wundert man sich über Gennadis neues Bild: Es erstrahlt in hellen, hoffnungsfrohen Farben. Es muss die Erde zeigen, oder, rätseln die Alten. Niemals, wendet Miriam ein. Denn im Unterschied zu ihr selbst und den Anwesenden war Gennadi noch nie auf der Erde…

Mein Eindruck

Die psychologisch interessante SF-Geschichte schildert die Widerstände seelischer und biologischer Art gegen die radikale Anpassung der zweiten Siedlergeneration. Die Siedler, die noch die Erde kennen und leben, können sich nicht von ihren Mustern lösen, ja, es erschiene ihnen sogar als ein moralischer Verrat an ihrer Heimat Israel: „Sollte ich dich je vergessen, Jerusalem…(soll meine Hand verdorren)“, lautet ein jüdisches Gelübde.

Diese Bindung ans Erbe erweist sich nun als Blockade beim Bemühen, die erste einheimische Siedlergeneration, die „Kränklichen“, anzuerkennen als das, was sie ist: etwas Neues und Anderes. Erst durch Gennadis neues Gemälde, das eine neue Sehweise verrät, wird klar, dass die Neuen einen Vorteil haben, der die Alten zum Alten Eisen macht: Sie sind an die neue Heimat angepasst und haben eine Zukunft, die Alten aber nicht.

13) Labyrinthe (1975)

Die Geschichte schildert die Tage der Ratte im Labyrinth – aus dem Blickwinkel der Ratte. Ob es sich wirklich um Rattus norvegicus etc. handelt, wird allerdings nie gesagt: Es könnte sich genauso gut um ein Fremdwesen handeln. Sein Gegenüber ist ein Riese, dem es ausgeliefert ist, und dieser setzt es immer wieder in ein Labyrinth, in dem es Belohnung oder Bestrafung gibt. Wie erniedrigend und demütigend, meint das intelligente und feinfühlige Wesen.

Aber es hilft alles nichts: Es ist keine Kommunikation mit dem Riesen möglich. Es kann sich noch so geschickt mit seinen Tanzfiguren ausdrücken – die Bedeutung wird einfach nicht wahrgenommen. Umgekehrt kann sich der Riese nicht mit dem Wesen verständigen, das er ständig ungenießbarem Essen oder Stromschlägen aussetzt. Was will der Riese, warum ist er so grausam und wie kann es seine Wünsche erfüllen, fragt sich das Wesen. Es gibt keine Antworten und keine Hoffnung…

Mein Eindruck

Unter den vielen wissenschaftskritischen SF-Storys der siebziger Jahre, die gegen den tumben, elenden Positivismus anrannten, ist dies eine der besten. Die Ratte – oder welches Wesen auch immer – ist eine hochentwickelte Intelligenz mit ausgeprägter Moral und Würde. Sein Kommunikationssystem beruht auf Bewegung, insbesondere auf Tanz, ähnlich wie bei den Bienen. Kein Wunder also, dass die Verweigerung der Kommunikation auf SEINER Ebene als Grausamkeit wahrgenommen wird. Eine Story, die durch die Verzweiflung des Subjekts, das als dummes Objekt missbraucht wird, den Leser berührt.

14) Die Pfade des Verlangens (Pathways of Desire, 1979)

Tamara und Ramchandra sind als Mitglieder einer Forschungsexpedition bereits 41 Tage auf Yirdo, der Mond-Welt der Ndif, die um einen riesigen Gasplaneten kreist. Ram hat Durchfall bekommen, und als sich Tamara deswegen an die Mittleren Frauen der Ndif wendet, bekommt er eine Kur aus heißen Steinen, dickem Nahrungsbrei und einem Heilzauber verpasst. Mit den Jungen Frauen der Ndif, die zwischen zwölf und 22-23 Jahre alt sind, haben Ram und Tamara wenig zu tun, und mit den Alten nie.

Das könnte sich als Fehler erwiesen haben, argumentiert nun der Sprachwissenschaftler Ram. Denn die Ndif benutzen zwei verschiedene Sprachen: eine, die zu erstaunlichen 60 Prozent mit der der Neuankömmlinge übereinstimmt, und eine zweite, die nur von den Alten gesprochen wird. Die erste muss durch Telepathie übernommen worden sein, und die alte ist die ursprüngliche. Tamara gefällt diese Theorie nicht und stellt sie zusammen mit Ram auf die Probe.

Ram erhält eine Einladung ins Dorf der Alten. Diese sprechen tatsächlich Altes Ndifisch, das Tamara nur unvollständig beherrscht, Ram aber umso besser. Die Antwort auf seine Frage, wer die Welt (Yirdo) erschaffen hat, ist jedoch seltsam: „Bik-Kop-Mann“ soll sie „zwischen seinen Ohren“, also im Kopf erschaffen haben. Diese Antwort scheint zunächst keine Sinn zu ergeben, denn wer soll dieser „Bik-Kop-Mann“ sein? Erst als Tamara einen Traum – oder eine telepathische Übertragung – erhält und einen etwa 15-jährigen Jungen erblickt, beginnt sie, die umwerfende Wahrheit zu ahnen…

Unterdessen…

…hat Bob, der dritte Forscher und Tamaras Freund, eine Herausforderung der Jungen Männer annehmen müssen. Der Preis des Kampfes ist eine Junge Frau. Er sollte sich also besser anstrengen, doch im Vorgespräch äußert er schwere Zweifel am Sinn dieses Kampfes. „Ram würde das als schwere Einmischung in die inneren Angelegenheiten der zu untersuchenden Kultur tadeln.“

Der Kampf findet zwischen zwei Dörfern statt, Hamo einerseits und Gunda andererseits. Bob kämpft für Hamo, der Gegner für Gunda. Messer sind die Waffen der Wahl. Als Bob sein Messer wegwirft und stattdessen seine Karatetechnik einsetzt, erhält er einen Stich in die Wade. Während Tamara ihn medizinisch versorgt, bekommt der Gegner das Mädchen zur Braut.

Die Alten Männer fragen Bob, ob er Bik-Kop-Mann sei (Tamara hat ihm davon erzählt). Als er dies kategorisch verneint, teilen sie ihm mit, dass er dann sterben werde. Denn die Klinge des Gunda-Kämpfers war vergiftet. Nach Bobs Tod ist Tamara untröstlich und flüchtet sich in Rams Arme. Gibt es für sie eine Zukunft?

Mein Eindruck

Die Autorin ist eine ausgebildete Völkerkundlerin. Sie hat sich deshalb eingehend mit Sprachwissenschaft beschäftigt. In anschaulichen und verständlichen Begriffen wie „Klang“ und „Bedeutungsinhalt“ vermittelt sie dem Leser, worum es hier geht: um das Verständnis zweiter fremder Sprachen, die parallel auf der gleichen Welt existieren. Es ist ein Rätsel, das eine verblüffende und schwer zu glaubende Erklärung findet: Die ganze Welt ist – vermutlich im Computer – von einem 15-jährigen Jungen erdacht worden. Deshalb muss man gar nicht nach Telepathie suchen – der Junge bildet den sprachlichen Vermittler.

Soweit, so schlecht. Aber das ändert nichts an der Tragödie, an der Tamara mit allem Herzblut teilhat: an Bobs Verwundung im Kampf und seinen Tod. Außerdem scheint sich Ram nach seinem Dialog mit den Alten Männern und Mittleren Frauen deutlich zu verändern. Die beiden wachsen also mit ihren Aufgaben und Erlebnissen. Diese werden durch die Fremdbestimmung durch einen „Spieler“ keineswegs entwertet. Die Handlung berührt den Leser auf jeden Fall.

Die Story hat mich ein wenig an Michael Bishops preisgekrönte Novelle „Tod und Bestimmung unter den Asadi“ erinnert. Sie ist in zwei Auswahlbänden der Heyne SF-Reihe abgedruckt: im SF-Jahresband 2000 und im SF Story-Reader 11.

***WESTEN

15) Gwilans Harfe (1977)

Die junge Musikerin Gwilan hat von ihrem Lehrer bei seinem Ableben die wundervollste Harfe vererbt bekommen. Dass sie eine vollendete Herfenistein ist, kann sie bei allen möglichen Anlässen auftreten und ihren Lebensunterhalt verdienen. Doch als bei einem Unglück ihre Harfe zerbricht, muss sie ihr Dasein als Musikerin beenden und etwas Neues anfangen: Sie wird die Frau des Fuhrmanns, der den Unglückskarren fuhr und gründet mit ihm eine neue Existenz.

Ihre Ehe dauert rund 30 Jahre. Sie haben zwei Söhne, die eigene Wege gehen und heiraten. Schließlich stirbt Torm, ihr Mann, an einer Lungenentzündung. Was nun? Sie zieht Resümee ihres Lebens und kommt zu dem Schluss, dass sie a) nicht nur ihre Harfe ist und b) nicht nur Ehefrau ist, sondernn dass ihr c) noch ihre Stimme bleibt. Ein neuer Abschnitt ihres Lebens beginnt…

Mein Eindruck

Gwilan hat den Fehler gemacht, sich zu sehr mit ihrem Instrument zu identifizieren. Es ist fast schon ein Fetisch für sie. Das Gleiche passiert ihr mit ihrem Mann Torm, doch auch dieser lebt nicht ewig. Und was wird dann aus ihr – wird sie einen Selbstwert finden, scheint die Autorin zu fragen. Mit dem schönen Schluss erinnert sie die Leserin daran, dass eine Frau an sich schon einen Wert darstellt – und nicht erst Wert erhält, wenn sie sich über andere definiert.

16) Unglücksland (1979)

Edward hat seine Frau Mary bei einem Autounfall, den ein Betrunkener verursacht hat, verloren. Er ist mit seinem kleinen Sohn Andy bei seiner Schwiegermutter Harriett eingezogen. Harriett ist schon 62, nimmt den Kleinen aber sehr gerne an, was aber nicht unbedingt auch auf Edward zutrifft.

Sie teilt ihm ihre Überlegungen mit, ob die ganze verfahrene Situation aus Verlust, Trauer und Hoffnung nicht etwas mit der Geschichte ihrer Familie zu tun hat: mit dem Unglücksland im Osten von Oregon, einem trockenen, harten, nahezu unfruchtbaren Land. Dieses Land brachte ihrer Familie Ausdauer in Erdulden von Leid bei.

Das hält Edward zum Glück nicht davon ab, eine Beziehung zu seiner Mitarbeiter Elinor aufzubauen, die ein wahrhaft stilles Wasser ist: In der Ruhe liegt die Kraft. Sie gibt Edward Hoffnung und Zukunft. Nun wünscht sich Harriett, sie hätte ebenfalls noch eine eigene Perspektive – ihr Mann ist schon tot. Was soll sie hier noch?

Mein Eindruck

Diese Geschichte ist eher das Psychogramm einer Familie zwischen zwei stabilen Zuständen. Ich konnte kein phantastisches Element entdecken. Höchstens die Verstorbenen, die sich Harriett vorstellt, könnten als Geister gelten – oder als Erinnerungen. Es ist eine inhaltlich komplexe Geschichte, aber typisch Le Guin.

17) Das Wasser ist groß (1976)

Gideon war mal ein bekannter Physiktheoretiker. Jetzt sitzt er in der Klapse. Irgendwie muss er verrückt geworden sein, wundert sich seine Schwester Anna. Lag es am Tod seiner Frau Dorothea und seiner Tochter Kate? Die Anstaltsleitung setzt ihn permanent unter Beruhigungsmittel. Das macht ihn lahm und entmenschlicht, und sie findet die Behandlung würdelos.

Unter einem Vorwand schafft sie es, ihn „auf einen Spaziergang“ mitzunehmen und zum Fluss zu fahren. Dort gehen beide, quasi in Personalunion, ins Wasser. Die letzten Überlebenden der Familie gesellen sich zum bereits verstorbenen Rest – es ist kein Abschied, sondern eine Heimkehr.

Mein Eindruck

Das ist nicht ganz „Einer flog über das Kuckucksnest“ aus weiblicher Sicht. Es ist vielmehr die Verarbeitung eines Volkliedes, einer Ballade: „Das Wasser ist groß, ich kann nicht hinüber / Und wollt ich auch fliegen, kein Flügel trägt mich. / Gebt mir ein Boot, das zwei Menschen fasst, / Denn rudern wollen meine Liebste und ich.“ Hier wird das Motiv der Geschwisterliebe angeschnitten und in der Geschichte ausgebaut: Aus Gideon und Anna wird Gideanna. Was so traurig klingt, ist in Wahrheit ein Weg zum Glück.

***SÜDEN

18) Die Erzählung der Frau (The Wife’s Tale, 1982)

Sie verliebt sich in den jungen Mann auf den ersten Blick. Er ist ledig, attraktiv und geht auf die Jagd. Allerdings kehrt er ohne Beute zurück, und das hätte ihr zu denken geben sollen. Sie mag ihn, denn er ist sanftmütig und hilfsbereit, ist immer für sie da und singt im Chor der Loge. Weil ihre Eltern nach Süden gezogen sind und ihre Schwester aus dem gemeinsamen Haus auszieht, hat sie freie Bahn, sich mit ihm zusammenzutun. Eine Zeremonie ist nicht üblich. Schon bald gibt es dir ersten Kinder.

Dass etwas nicht mit ihm stimmt, erkennt sie erst nach und nach. Er ist stets zu Neumond abwesend und danach riecht er immer anders. Das kleinste Kind erschrickt sich sogar dermaßen, dass es ruft: „Schick es weg! Schick es Weg!“ Deshalb beginnt sie ihn zu beobachten. So wie sie Zeugin, wie er sich in eines der verhasstesten Wesen überhaupt verwandelt: in ein Menschending…

Mein Eindruck

Wir sind an Geschichten von Werwölfen gewöhnt, die sich unter dem Einfluss des Vollmondes und eines Fluches des Blutes verwandeln: von einem Mann (es scheint keine Werwölfinnen zu geben) in einen reißenden Wolf. In diese Geschichte sind die Verhältnisse genau umgekehrt. Die „normale“ Gemeinschaft ist die der Werwölfe und der Außenseiter verwandelt sich in einen Menschenmann. Einmal entdeckt, wird er gejagt und zur Strecke gebracht, ist ja klar.

Aber die Verfremdung, die dem Mann als fremdartigen Menschen widerfährt, hat einen beunruhigenden Unterton. Der andersartige Mann bedroht an einer Stelle die (Wolfs-) Kinder, als wolle er sich an ihnen vergreifen. Zur Zeit der Entstehung der Geschichte wurde die Rolle des Vater sehr infragegestellt, und etliche Frauen stellten Väter als Kinderschänder dar. Wie sich im Laufe der Jahre herausstellte, waren diese Anschuldigungen häufig falsch, außer in Kreisen der katholischen Kirche.

Der O-Titel „The Wife’s Tale“ folgt dem Muster der „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer aus dem 14. Jahrhundert, die jeder Bücherwurm der englischen Sprache kennen muss. Es sind häufig Geschichten von notierenswerten, meist „unerhörten“ Begebenheiten, also „Novellen“ im ursprünglichen Sinn. Sie müssen nicht unbedingt „wahr“ im objektiv-empirischen Sinn sein, sondern können sich bis an den Rand des Märchens wagen. Dem leser ist also überlassen, ob er „The Wife’s Tale“ Glauben schenkt oder nicht. Auf jeden Fall ist die spiegelverkehrte Perspektive sehr reizvoll – aber bis man dies erkennt, muss man jeden Satz ganz genau lesen.

19) Einige Stellungnahmen zum Problem der Zeitknappheit (1979)

Woher kommt es, dass wir immer weniger Zeit haben? Dazu gibt es drei Stellungnahmen, die man nicht allzu ernst nehmen sollte. Die erste Erklärung liefert die Kosmologie, die meint, dass Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie nicht ganz hinhaut, so dass es, analog zu den Schwarzen Löchern im Raum, auch ein sich ausdehnendes Loch in der Zeit gebe. Weil dort die Zeit ausläuft, haben wir immer weniger davon, klare Sache.

Die zweite Erklärung ist chemischer Natur und ganz schön erschreckend. Wir verbrennen bekanntlich seit über 100 Jahren jede Menge Erdöl. Dessen Rückstände, etliche Gigatonnen pro Jahr, aber sorgen dafür, dass die Augenblicke, die die Zeit ausmachen, zusammenkleben. Deshalb nehmen wir nicht mehr wahr, dass es viele Augenblicke gibt, die wir auskosten könnten. Der Wirkstoff, der diesen verblüffenden Effekt herbeiführt, wird Petropsychisches Toxin (PPST) genannt. Neuesten Berichten zufolge hortet die US-amerikanische Regierung jede Menge davon und will sie auch nicht beseitigen…

Das dritte Statement ist keine Erklärung, sondern ein Überblick über die Aktivisten-Gruppen, die der Zeitverknappung entgegen wirken wollen. Nicht jede Haltung ist dabei von Erfolg gekrönt, sondern vielmehr von Rückschlägen frustriert.

Mein Eindruck

Die Autorin macht sich einen Spaß daraus, die Wahrnehmung von Zeitverknappung zu erklären. Ihre Ausführungen klingen hochwissenschaftlich, erweisen sich aber als hanebüchener Humbug. Lediglich der letzte Abschnitt, der sich mit den Aktivisten befasst, lässt sich ernst nehmen. Da ist die Rede von einer Reise in die (damals noch existente) Sowjetunion, die dazu führte, dass der Leiter der italienischen Gruppe „Eppur si muove“ („Und sie bewegt sich doch“, wie Galileo gesagt haben soll) zurücktrat und die Gruppe in eine schwere Krise geriet.

20) Die Rose des Südens. Ein zusammenfassender Bericht über die ‚Yelcho‘-Expedition in die Antarktis 1909-1910 (1982)

Eine Gruppe südamerikanischer Frauen bricht 1908/09 zu einer Antarktis-Expedition auf, von der später niemand mehr etwas außer den engsten Verwandten. Finanziert durch einen ungenannten Wohltäter, schippern sie mit dem Dampfer „Yelcho“, der später Ernst Shackletons Männer retten sollte, zum Ross-Schelfeis und errichten ein Basislager. Nachdem sie ihm hoch und heilig versprochen, sich auf keinen Fall ins unwirtliche Landesinnere vorzuwagen, nehmen sie Abschied vom Kapitän der „Yelcho“.

Selbstverständlich denken sie keine Sekunde daran, sich von der einmaligen Chance, den Südpol zu erreichen, abbringen zu lassen. Die Erzählerin eifert Robert Falcon Scotts „Reise mit der Discovery“ nach, die ihn 1904 genau in diese Ross-Bucht geführt hat. Mit sehr eigenwilligen Methoden überleben die neun Frauen und legen Etappenlager an, bevor sie schließlich im November aufbrechen…

Wenige Tage bevor am 20. Februar des folgenden Jahres die „Yelcho“ zurückkehren soll, bringt die junge Juana ein gesundes Mädchen zur Welt. Nachdem einige mehr oder wenige absurde Namensvorschläge gefallen sind, nennt Juana ihre Tochter des Eises „Rosa del Sur“, Rose des Südens…

Mein Eindruck

Amundsen und Scott, die angeblichen Erstentdecker des Südpols, haben nie von dieser Expedition südamerikanischer Pionierinnen erfahren. Es mag zwar eine alternative Welt sein, wie uns der Herausgeber weismachen will, doch bis auf diese Frauen_Expedition stimmen sämtliche historischen Fakten bis auf den Tag genau.

Die Autorin bringt die weibliche Solidarität und Opferbereitschaft klar zum Ausdruck, denn diese zwei Eigenschaften sind es, die allen Teilnehmerinnen das Leben retten. Die Erzählerin und ihre zwei Begleiterinnen – sie in Dreiergruppen – werden auf dem Gletscher „Nightingale“ (benannt nach einer Frau, versteht sich) nahezu schneeblind und müssen sich eine einzige Schneebrille teilen, als wären sie die antiken Graien, die sich ein Auge teilen müssen. (Dies ist in dem Remake von „Kampf der Titanen“ erneut zu sehen.)

Sehr amüsant, aber auch bezeichnend fand ich die Begründung, warum sie Amundsen nichts von ihrer Erstbezwingung des Südpols sagen bzw. keinerlei Merkmal auf 90° Süd hinterlassen. „Aber ich war sogar damals darüber froh, dass wir kein Zeichen hinterlassen hatten, denn vielleicht kam eines Tages ein Mann dorthin, der der erste sein wollte, fand es, erkannte, was für ein Narr er gewesen war, und starb an gebrochenem Herzen.“ Soviel Mitgefühl mit Männern, v.a. aus diesem grund, findet man heute nur noch selten.


Die Übersetzungen

Die Übersetzung stammt von Hilde Linnert, die von „Das Tagebuch der Rose“ von Sylvia Pukallus. Da die Texte stilistisch meist sehr anspruchsvoll sind, waren die Anforderungen hoch und ich bin nicht immer mit dem Ergebnis zufrieden.

S. 58: „urinierte an eine Decke“. Gemeint ist aber eine ECKE jener Schachtel, in der sich „Schrödingers Kater“ verstecken wird.

S. 102: „dass die Erde … in einer mittleren Entfernung von 149,6 Milliarden Kilometer[n] um eien mittelgroße gelbe Sonne kreist…“ Wenn man berücksichtigt, dass pluto, der neunte „planet“ der Sonne in einer Entfernung von knapp 6 Milliarden km um sie kreist, wird klar, dass die Anagbe von 149,6 Milliarden km ganz schön übertrieben ist. Es muss sich also um Millionen km handeln. Wie konnte einem SF-Verleger solch ein übler Schnitzer unterlaufen?

S. 147: „der Körper Politik“, „der Kadaver Politik“ – sehr schiefe Direktübersetzung von „the body politic“, womit das Staatswesen gemeint ist.

S. 152: „Fernmeldeoffizier vor dem Radio“: Wieder mal ist das Funkgerät gemeint, nicht ein Rundfunkempfänger.

S. 171: „Denken Sie an Ihre Pflichten und an die schwere Würde Ihrer Stellung!“ Gemeint ist statt „Würde“ höchstwahrscheinlich „Bürde“.

S. 195: „während sie durch den Duft durch Licht und Schatten den Weg zum Fluss hinunterging…“ Der Satz ergibt erst dann einen Sinn, wenn man mit Ersetzen anfängt: „während sie durch den Dunst aus Licht und Schatten…“

S. 262: „Es hat einen dunklen Turm. Für wen hältst du mich, Kind Roland?“ Gideo spielt auf Lord Byrons Ballade über „Childe Roland to the Dark Tower Came“ an, die Stephen King die Inspiration zu seinem Dunkler-Turm-Romanzyklus lieferte. Childe Roland ist keineswegs ein Kind, wie die Übersetzerin meint, sondern ein Ritter.

S. 275: „Der nichtbioherabsetzbare Augenblick“ ist die Direktübersetzung von „the non-biodegradable moment“, was in korrektem Öko-Deutsch als „nicht biologisch abbaubar“ übersetzt wird.

S. 276: „Westdeutschland“. Ja, Leute, diese Story entstand 1979, als Deutschland noch geteilt war. Deutschland noch geteilt war.

Die Illustrationen

…stammen von Jobst Teltschik. Es handelt sich um Kombinationen aus Strichen und Punkt-basierten Darstellungen. Ein Bein oder Auge kann also aus Punkten bestehen, ist aber als Objekt in Linien eingebunden. Die Wirkung ist durchaus phantastisch zu nennen.

Das tolle Titelbild aus Kompassrose und den 4 Elementen Erde, Luft, Wasser und Feuer gestaltete Karel Thole.

Unterm Strich

Mit hohem Einfühlungsvermögen, sozialem Engagement und intellektueller Brillanz greift die Autorin spekulative Themen der Fantasy und der Science Fiction ebenso souverän auf wie zeitgenössische und historische Stoffe.

Daher verwundert es nicht, dass manche dieser Texte keinen Bezug zu Science Fiction oder Fantasy haben. Die Autorin fordert ihr Publikum jedenfalls zum Mit- und Nachdenken heraus, denn jede dieser Geschichten will gedeutet, nachbearbeitet werden und entzieht sich dem sofortigen Verständnis. Der Stil, in dem jede Geschichte erzählt wird, ist sehr ausgefeilt und dem Thema jeweils angemessen.

Satirische Texte wie etwa eine Theorie dafür, dass uns Menschen die Zeit ausgeht, wechseln sich hier mit phantastischen, aber mitunter auch völlig gegenwärtigen Erzählungen ab, die jedoch stets einen eindringlichen Eindruck machen. Auch eine vollständig weibliche Sicht der Welt kommt bei dieser Autorin nie zu kurz. So wird unter anderem der (fiktive) Bericht einer Südpolarexpedition wiedergegeben („Rose des Südens“), die 1909/10 nur von Frauen unternommen worden sein soll, also noch vor Amundsen und Scott, den männlichen Erstbezwingern des Südpols.

Ich möchte auf zwei weitere Erzählsammlungen hinweisen. „Die zwölf Striche der Windrose“ ist nicht so experimentell und vielseitig wie „Die Kompassreise“ und enthält zudem mehrere preisgekrönte Novellen. Von Le Guins erfundenem Phantasieland Orsinien erzählen die „Geschichten aus Orsinien“.

Taschenbuch: 301 Seiten
ISBN-13: 978-3453311565

www.heyne.de

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