Ursula K. Le Guin – Die Gräber von Atuan (Erdsee 2)

Geds Gabe: die Wiederherstellung von Einheit und Frieden

„Die Gräber von Atuan“, der zweite Band des ERDSEE-Zyklus, setzte einen hohen, sehr hohen Maßstab. Im Erdsee-Zyklus hat Ursula Le Guin eines der schönsten und interessanten Fantasy-Universen geschaffen: eine Welt, die nur aus meerumspülten Inseln besteht und in der Magie funktioniert – Magie, die Urmächte der Welt und des Lebens beherrscht.

Neben Tolkiens Werk (1954/55), das sich nicht explizit an Jugendliche richtete und mit christlichen Motiven überfrachtet ist, ist das von Hallmark Productions verfilmte „Gräber von Atuan das klassische Fantasy-Abenteuer für junge Leser.

Die Autorin

Ursula Kroeber Le Guin, geboren 1929 als Tochter des berühmten Anthropologen Kroeber, ist eine bessere Schriftstellerin als C.S. Lewis (was etwa Jugend-Fantasy angeht), mit einem klareren Stil als Alan Garner (GB), origineller als Susan Cooper oder Joy Chant und schreibt flüssiger als alle ihre amerikanischen Nachahmer.

Am bekanntesten wurde sie durch ihren – kürzlich verfilmten – Erdsee-Zyklus, in dessen Universum sie immer neue Romane spielen lässt. Aber da sie von Haus aus einen anthropologischen Hintergrund hat (s.o.), spielen ihre frühen SF-Geschichten verschiedene Szenarien für die Weiterentwicklung des Menschen oder von alternativen Kulturen durch. Dazu gehört der frühe Hainish-Zyklus, der Roman „Die Geißel des Himmels“ und die preisgekrönten Romane „Die linke Hand der Dunkelheit“ (1969) sowie „Der Planet der Habenichtse“ (1974). In „Linke Hand“ beschreibt sie eine Kultur, die nicht von zwei verschiedenen Geschlechtern und deren determinierter Sexualität beherrscht wird. „Habenichtse“ entwirft die große Utopie der Anarchisten: keine Herrschaft, keine sozialen Unterschiede, nur Nächstenliebe und Freiheit – in Armut.

In zahlreichen Storysammlungen hat sich Le Guin sowohl in der Fantasy wie auch in Mainstream und SF als scharfsinnige Theoretikerin und Beobachterin erwiesen. Zu diesen Collections gehören besonders „Die zwölf Striche der Windrose“, „Die Kompassrose“, „Ein Fischer des Binnenmeeres“, „Four Ways to Forgiveness“ und zuletzt „Changing Planes“ (2005).

Le Guin hat auch Gedichte und Kinderbücher geschrieben, mit der Norton Anthologie zur Science Fiction erwies sie sich als wichtigste – und umstrittene – Initiatorin weiblicher Science Fiction in den siebziger Jahren. Eine interessante und aktuelle Würdigung ihres Werks findet sich in Thomas M. Dischs Sachbuch „The dreams our stuff is made of. How science fiction conquered the world“ (1998). Diese kritischen und kenntnisreichen Essays werden sukzessive im „Heyne SF Jahr“ veröffentlicht. Relevant zu Le Guin sind die Kapitel „Can girls play too? Feminizing science fiction“ und „The third world and other alien nations“. Le Guin starb 2018.

Der Erdsee-Zyklus

Denn „Wizard of Earthsea“ setzte einen hohen Maßstab. Neben Tolkiens Werk (1954/55), das sich nicht explizit an Jugendliche richtete und mit christlichen Motiven überfrachtet ist, ist „Wizard“ das klassische Fantasy-Abenteuer für junge Leser. Auch die Frauenbewegung in der Fantasy schätzte „Wizard“ und seine Folgebände sehr. Werke wie „Die Traumschlange“ von Vonda McIntyre erinnern daran.

Die Erdsee-Romane

A Wizard of Earthsea. 1968 (Der Magier der Erdsee. 1979)
The Tombs of Atuan. 1970 (Die Gräber von Atuan. 1979)
The Farthest Shore. 1972 (Das ferne Ufer. 1979)
Tehanu: The Last Book of Earthsea. 1990 (Tehanu. 1992)
The Other Wind, 2001 (Rückkehr nach Erdsee. 2003)

Kurzgeschichten

The Word of Unbinding. 1964 (Das lösende Wort. In: Die zwölf Striche der Windrose. 1980)
The Rule of Names. 1964 (Die Namensregel. In: Die zwölf Striche der Windrose. 1980)
Dragonfly. 1997 (Schwebender Drache. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
Darkrose and Diamond. 1999 (Schattenrose und Diamant. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
The Finder. 2001 (Der Finder. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
The Bones of the Earth. 2001 (Die Gebeine der Erde. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
On The High Marsh. 2001 (Im Hochmoor. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
The Daughter of Odren. 2014 (Die Tochter des Fürsten von Odren. In: Erdsee: Die illustrierte Gesamtausgabe. 2018) Inhalt
Firelight. 2018 (Feuerschein. In: Erdsee: Die illustrierte Gesamtausgabe. 2018)

Vorgeschichte: „Der Magier der Erdsee“

Die Inselwelt der Erdsee ist umgeben von Ozean, und hier wächst der junge Ged als Neffe der Dorfhexe zu einem jungen Zauberer heran. Er beeinflusst die Tiere und rettet sein Dorf vor Räubern durch die Steuerung des Wetters. Er erwirbt sich den Gebrauchsnamen Sperber, denn in dieser Welt muss der wahre Name eines Menschen geheimgehalten werden. Das Wissen um Namen ist der Schlüssel zur Macht eines Zauberers.

Mit 13 zieht Ged bei einem richtigen Magier ein, Ogion. Dieser spürt große macht in dem Jungen und weiß, dass der schlaksige Junge eines tages ein großer Erzmagier werden könnte. Doch Ged muss große Geduld lernen, Geduld als Quelle der Weisheit. Schließlich darf Ged auf die Schule der Magier auf der Insel Roke. Er stellt sich als gelehriger Schüler heraus, doch fällt er in Ungnade, als er sich eifersüchtig in einen Wettstreit mit einem Mitschüler verwickeln lässt. Durch Geds stümperhafte Handhabung von Mächten, die er noch nicht kontrolliert, wird ein Schatten oder „gebbeth“ in die Welt eingelassen, ein Wesen des Bösen.

Von dem „gebbeth“ wird der Junge schwer verwundet, doch man kann ihn wieder heilen. Er verlässt die Insel, um eine Stelle als Dorfmagier anzutreten und so seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er lernt die Drachen kennen und überwindet viele alte Bedrohungen, doch ständig wird er vom „gebbeth“ bedroht, das seine einzigartige Verantwortung und seine seelische Bürde ist.

Allmählich erwirbt er das Wissen, sich dem bösen Schatten zu stellen: Er erfährt dessen wahren Namen und ist in der Lage, die Welt von diesem Schatten zu befreien, indem er ihn in sich aufnimmt. Beide stellen fest, dass sie ein und derselbe sind; auf diese Weise wird Geds Wesen geheilt und wieder zu einem Ganzen.

Handlung

Die Handlung spielt auf einer der vier Inseln der Kargish, deren Sprache und Bräuche sich von denen der Bewohner des Archipels unterscheiden. Ein Kind namens Tenar wird ihren Eltern weggenommen, bekommt den Namen Arha, „die Verzehrte“, und wird zur Hohepriesterin der Gräber ausgebildet, einer uralten Zuflucht in der Wüste von Atuan, die nur Frauen und Eunuchen besuchen dürfen. Hier soll Tenar als die Wiedergeburt ihrer Vorgängerin wirken. Sie muss jeden Fußbreit des dunklen Labyrinths von Atuan kennenlernen und tastend jeden Ort finden können. Nur sie darf die heiligsten Räume betreten und hat über die Todesart der Opfersklaven zu entscheiden, die in diesen Verliesen schmachten.

Gegen Ende ihrer Ausbildung begegnet sie in einem der heiligsten Räume einem Fremden, einem Mann obendrein. Das ist Ged, inzwischen ein mächtiger Zauberer, der die fehlende Hälfte des Ringes von Erreth-Akbe sucht, auf dem die zerbrochene Rune des Friedens eingraviert ist. Es wäre die Pflicht der jungen Priesterin, Ged zu töten.

Aber als sie mit ihrem Gefangenen redet, sieht sie ein, dass auch sie eine Gefangene der Gräber ist, durch ein sinnloses und grausames Ritual gebunden. Ged gibt ihr ihren wahren Namen zurück: Tenar. So, wie er sie befreit hat, befreit sie ihn: Sie führt ihn aus dem Labyrinth, und die beiden entkommen mit dem wiedervereinten Ring des Friedens. Tenar wird in Havnor geehrt, der Stadt der Könige von Erdsee, aber Ged möchte, dass sie bei Ogion, seinem alten Lehrmeister auf Gont, lebt und studiert.

Mein Eindruck

An dieser wunderbaren und spannenden Geschichte ist nicht nur der psychologische und anthropologische Realismus beeindruckend, sondern auch die tiefgehende Symbolik. Denn es ist ja nicht nur der Friede und die Rune des Friedens auf dem Ring von Erreth-Akbe zerbrochen. Die Kargish haben in Atuan auch die Einheit der Geschlechter zerbrochen, ein grausamer Akt, der die Priesterin Tenar zur Einsamkeit verdammt. Ihr eigener Seelenfriede bedeutet dem Volk nichts.

Erst der Zauberer Ged in seiner Weisheit ist in der Lage, zuerst Tenars richtige Identität (ihren wahren Namen), ihre Freiheit und ihren Frieden wiederherzustellen und dann die Rune des Friedens. Er strebt nicht nach Macht über Tenar oder egoistisch nach ihrer Liebe, sondern altruistisch nach ihrer Befreiung. Deshalb mögen Frauen diese Geschichte des Erdsee-Zyklus ganz besonders. Sie ist in der Verfilmung berücksichtigt worden.

Hinweis

Tenars Geschichte wird fortgesetzt in „Tehanu“, dem „letzten Buch von Erdsee“ (1990). Geds Abenteuer gehen weiter in „Das ferne Ufer“ (Erdsee #3).

Dieses anerkannte Meisterwerk wurde mit „Das ferne Ufer“ fortgesetzt, einem eigenständigen Roman, in dem Ged die Hauptrolle spielt. 1992 und 2001 erschienen mit „Tehanu“ und „Rückkehr nach Erdsee“ Fortsetzungen des Erdsee-Zyklus, aber noch lange nicht die letzten Geschichten. In Robert Silverbergs Fantasy-Anthologie „Der 7. Schrein“ (1998) veröffentlichte Ursula LeGuin mit „Drachenkind“ eine weitere wunderbare Erzählung, die auf der Zaubererinsel Roke spielt. Sie ist in der Sammlung „Das Vermächtnis von Erdsee“ (2001) enthalten.

Die Erdsee-Trilogie gibt es auch bei S. Fischer, Piper und Carlsen in sehr schönen Ausgaben (und als E-Book).

Taschenbuch: 189 Seiten
Originaltitel: The Tombs of Atuan, 1971.
Aus dem Englischen von Margot Paronis.
ISBN-13: 9783453305953

www.heyne.de

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