Josef Wilfling, Jahrgang 1947, ging 2009 nach 42 Jahren des aktiven Polizeidienstes in Pension. Die letzten 22 Jahre arbeitete er für die Münchener Mordkommission, davon die letzten sieben als deren Leiter, klärte die prominenten Mordfälle an Walter Sedlmayr und dem Modezar Moshammer auf und schnappte den Frauenmörder Horst David. Er gilt als erfahrener und sehr erfolgreicher Spezialist bei Vernehmungen von Opfern, Zeugen und Tätern.
Im |Heyne|-Verlag ist nun sein erstes Buch „Abgründe. Wenn Menschen zu Mördern werden“ erschienen.
_Inhalt_
Schon im Vorwort des Autors und ehemaligen Ermittlers wird dem Leser deutlich, wie sehr Josef Wilfling seinen Beruf geliebt hat, denn der bestand für ihn aus mehr als nur einer täglichen Arbeit – es war seine Bestimmung, Menschen zu überführen, die aus den ganz verschiedenen Gründen ihre Hemmungen fallen lassen, die Grenze der Menschlichkeit überspringen und zu berechnenden und/oder kaltblütigen Mördern werden können.
Angelehnt an den „7 Todsünden“ (Hochmut, Habgier, Neid, Zorn, Wollust, Völlerei, Trägheit), berichtet der Kommissar nicht nur über seine Erfolge bei den manchmal strapaziösen und zeitintensiven Ermittlungen, sondern auch über seine persönlichen Fehler und die Opfer. So spannend und manchmal auch abgründig grausam ein Krimi sein kann, so ist es doch das Leben, das immer wieder die spannendsten und naturgemäß leider auch realistischen Tragödien und Dramen wiedergibt.
So obskur und unbegreiflich manches wirken mag, schildert Wilfling ohne Scheu Tathergänge, die Motivation des Täters oder der Täter, die Feinheiten des Zuhörens bei Verhören, bei denen man sich jegliche Moral besser sparen sollte und sich gänzlich an den bestehen Fakten und Indizien orientiert. Der Autor Wilfling entnimmt aus dem Fundus seiner Erfahrungen die Fälle, die ihn mit am meisten geprägt haben und die sich überwiegend intensiv immer und immer wieder in seinem Kopf abspiel(t)en. Schnell entsteht der Eindruck, dass ein Mordermittler immer auch psychisch auf Höchste gefordert wird, dass die Leichen, die traumatisierten Angehörigen, die vielleicht ihr Kind zu betrauern haben, oder die Beweggründe von raffinierten Mördern immer tiefe seelische Spuren hinterlassen. Sich dagegen zu verschließen, funktioniert nicht. Gerade als Ermittler, so beschreibt der Autor es selbst, muss man mit dem „Mörder“ denken, wissen, was in diesem vorgeht, und wie ein Raubtier, das auf die Beute lauert, in Vernehmungen blitzschnell reagieren, wenn sich eine Chance auftut und der Kontrahent Signale sendet, um sich beichtend den Beamten zu offenbaren. Als Ermittler also ist man neben dem eigentlichen Beruf zugleich noch Psychologe, Psychotherapeut und Sozialarbeiter in einer Person.
Josef Wilfling erzählt zwar kühl und nüchtern, trotzdem werden die Leser über seine Erfahrungen und seine Fälle zweifelsohne nachdenken. In seiner Laufbahn hat Wilfling viel gesehen und menschliche Schicksale und Tragödien, aber auch Erfolg und Freude bei der Überführung eines Täters erlebt, und deswegen weiß er, wovon er schreibt.
Sein Stil ist prägnant, klar und deutlich, wenn auch stellenweise wiederholend; zugleich kritisiert er auf den ersten Seiten und im Laufe des Buches die deutsche Gesetzgebung und das Strafmaß. Hier spricht er sich ganz klar für eine Sicherheitsverwahrung aus und bezieht deutlich und überzeugt Stellung zu diesem brisanten Thema. Dass Mord als Gewalttat vom Gesetz bestraft werden muss, davon weicht er natürlich nicht ab, aber zugleich erklärt und hinterfragt er in den Berichten zu seinen Fällen, warum manche Menschen die letzte Barriere durchbrechen und zum Mörder werden. Ist ein Mord entschuldbar oder gar verständlich, wenn das Opfer ein Sadist war, der die Kinder und seine Frau gefoltert, erniedrigt und geschlagen hat? Hier kommt neben dem Verstand auch das Gefühl zum Ausdruck, dem sich auch ein Kriminalbeamter nicht verweigern kann, schließlich ist der Beamte auch ein emotionaler Mensch und nicht nur ein Werkzeug der Gesellschaft und des Staates. Dass sich in diesen Fällen auch der Leser persönlicher Gedanken nicht erwehren kann, ist sicherlich gewollt.
Josef Wilfling beschönigt oder überzeichnet die Grausamkeiten nicht, was ich im höchsten Maße lobenswert finde. Als Kritikpunkt habe ich nur empfunden, dass er nicht so sehr auf die Angehörigen und deren Situation eingegangen ist. Es ist ja zweifelsfrei so, dass bei enem Mord nicht nur ein Opfer auf der Strecke bleibt, sondern oftmals eine ganze Familie den Verlust zu spüren bekommt. Welche Grausamkeit und psychologischen Schäden solch ein brutaler Eingriff in das tägliche Leben mit sich bringt, bleibt leider etwas im Dunklen. Vielleicht ist es aber auch reiner Selbstschutz des Autors, denn die Geister die man dadurch wachruft, werden nicht wieder lebendig, sie quälen nur weiter. Trotzdem hätte ich gerne mehr darüber gelesen, was ein Ermittler fühlt und empfindet, woran er denkt, wie lange das nachwirkt, wie er mit solchen Gewalttaten in seinem persönlichen Umfeld umgeht und auch, welche immense Aufgabe auf den Beamten zukommt, wenn er den nächsten Angehörigen den gewaltsamen Tod eines geliebten Menschen möglichst schonend beibringen muss.
_Fazit_
Alles in allem ist Josef Wilflings Werk „Abgründe“ absolut empfehlenswert. Es hält sich an Fakten, driftet nicht ab in fantasievolle Erzählungen, zeichnet ein realistisches Alltagsbild der Ermittlungsarbeiten und macht sehr deutlich, wie Mörder denken bzw. was deren ausschlaggebendes Motiv sein kann.
Das Thema Mord ist ein komplexer Bereich mit vielen unterschiedlichen Ebenen und Perspektiven des Verstehens, die der ‚Normalbürger‘ in seinen Leben hoffentlich gar nicht erst kennenlernen wird. Wilfling präsentiert seine Erfahrungen aus der Perspektive des Ermittlers, oftmals auch des Täters, allerdings weniger aus Sicht der Angehörigen. So spektakulär ein guter und durchdachter Krimi auch sein kann – die Wahrheit zu analysieren und zu hinterfragen, ist spannender als jeder atemberaubende Thriller im Kino.
Ein Wermutstropfen bei der Lektüre ist das schwache Lektorat. Neben Formulierungsschwächen und Wiederholungen treten immer wieder Flüchtigkeitsfehler wie vertauschte Personennamen zutage. Nichtsdestotrotz ist „Abgründe. Wenn Menschen zu Mördern werden“ als eine Art von authentischem Thriller eine Klasse für sich. Eindrucksvoll spannend, kritisch und hinter die Kulissen blickend – ein fabelhaftes Buch, das auf eine „Mordserfahrung“ zurückgreifen kann.
|Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-16753-7|
http://www.heyne.de