Jennifer McMahon – Winter People. Wer die Toten weckt

In einer abgelegenen Region Neuenglands kehren die Toten zurück, wenn man sie ruft. Leider haben sie sich sehr verändert, weshalb die Wiedersehensfreude rasch Entsetzen und Mord weicht … – Auf zwei Zeitebenen (1908 und Gegenwart) spinnt die Autorin ein erfreulich klassisches Gruselgarn, das mit modernen Schauerlichkeiten durchwebt ist und stimmungsdämpfende Seifenoper-Elemente auf ein erträgliches Maß dämpft: leicht überdurchschnittliche Phantastik.

Das geschieht:

West Hall, ein Städtchen im neuenglischen US-Staat Vermont, wurde vom Rest der Welt nie beachtet. So empfindet es aktuell u. a. Teenager Ruthie Washburne, die mit ihrer kleinen Schwester Fawn und der Althippie-Mutter Alice hier gelandet ist, sich vom Leben abgeschnitten fühlt und sich danach sehnt West Hall zu verlassen.

Dass Wünsche manchmal auf unerfreuliche Weise erfüllt werden, muss Ruthie erfahren, als die Mutter eines Nachts spurlos verschwindet. Wurde sie von Aliens entführt, wie Ruthies leicht verstrahlter Freund Buzz vermutet? Die Gegend um die „Teufelshand“, einer auffälligen Felsformation, gilt seit jeher als gefährliches Terrain. Hier verschwanden immer wieder Menschen, und manchmal geschah auch Schlimmeres.

Bisher wusste Ruthie nicht, dass sie mit Mutter und Schwester in einem Haus lebt, das im Jahre 1908 Schauplätz grässlicher Ereignisse wurde. Nachdem Sara Harrison Sheas siebenjährige Tochter Gertie in einen alten Brunnen gefallen und umgekommen war, hatte die untröstliche Mutter versucht, sie aus dem Totenreich zurückzurufen. Kurz darauf fand man Saras Leiche; der Mörder hatte ihr die Haut abgezogen und mitgenommen. Gatte Martin erschoss sich noch am Schauplatz der Tat und galt als Hauptverdächtiger.

Der Fall blieb ein Rätsel. Sara schleicht seither angeblich als Geist durch West Hall. Natürlich glaubt Ruthie nicht an diese Gruselmär, bis es im Haus zu spuken beginnt. Im Wandschrank der Mutter lauert eine bösartige Kreatur, und um die Teufelshand schwärmen ebenfalls Schreckensgestalten. Gemeinsam mit der Künstlerin Katherine, deren Ehemann in West Hall zu Tode kam, versuchen Ruthie und Fawn das Mysterium zu lüften. Dabei stechen sie in ein (okkultes) Wespennest, aus dem (nicht nur) die Toten böse hervorschwärmen …

Abschied als Problem

Bekanntlich sterben die Besten immer zuerst und zu früh; so lautet jedenfalls ein Sprichwort, das uns Zurückbleibende nachdenklich stimmen sollte: Sind wir somit nur zweite Wahl? Darüber hinaus gibt es eine weitere Verständnisebene, die viel Raum für Spekulationen auch gruseliger = unterhaltsamer Art bietet: Was wäre, wenn man die teuren Verstorbenen noch einmal wiederkehren lassen könnte, um sich mit ihnen auszusprechen und sich von ihren zu verabschieden?

Dass diese an sich tröstliche Vorstellung einen gewaltigen Haken haben könnte, dürfte klugen Zeitgenossen quasi automatisch einleuchten. Zwischen Tod und Wiederkehr läge eine Spanne, in der sich der oder die Verstorbene in einer Sphäre aufgehalten hat, die mit dem Diesseits wenig zu tun haben dürfte. Diese Erfahrung würde an den Betroffenen nicht spurlos vorübergehen und sich auch körperlich bemerkbar machen. Schon W. W. Jacobs spann 1902 in „The Monkey‘s Paw“ (dt. „Die Affenpfote“) ein spannendes Garn um die mütterlicherseits freudig erwartete Wiederkehr des verstorbenen Sohnes, während dem Vater siedend heiß einfällt, wie lange dieser bereits in seinem Sarg liegt.

Während Jacobs den Wiedergänger gerade noch rechtzeitig verschwinden ließ, gingen weniger zurückhaltende Schriftstellerkollegen sowie Film & Fernsehen deutlich weiter. Aber selbst unvermodert kehren Tote nicht zwangsläufig friedlich zurück. Manchmal waren sie bereits zu Lebzeiten echte Stinkstiefel. Zudem gibt es die Vorstellung, dass für die eigentlich unmögliche Wiederkunft ein ‚Preis‘ fällig wird, der womöglich den Trauernden wünschen lässt, auf die Totenbeschwörung verzichtet zu haben.

Refugien ‚alten‘ Wissens

„Winter People“ bietet eine unterhaltsame Mischung der genannten Komplikationen. Gerade der Verzicht auf beinahe sämtliche Elemente, die heutzutage gern eingesetzt werden, um eine klassische Gruselgeschichte zu ‚verbessern‘, sorgt für altmodische = bewährte Spannung. Zwar leiden diverse Hauptfiguren ausführlich, weil Elternteile, Kinder oder Lebensgefährten zu Tode kamen, doch dies mündet nicht in einer der leider beinahe genretypisch gewordenen Seifenopern, die voller Gefühlsdusel in Sentimentalitäten schwelgen, statt die Story voranzubringen. Für Jennifer McMahon ist die Trauer handlungsrelevant, weil sie dazu führt, dass einerseits Grenzen überschritten werden, was andererseits für Grauen sorgt, weil geliebte Menschen sich verändert bzw. verwandelt haben.

Das eigentliche Mysterium bleibt ungeklärt: Was oder wer steckt hinter der Möglichkeit, Tote als „Schlafende“ zurückkehren zu lassen? Die Entscheidung ist klug, da die Autorin viel Energie in esoterisches Brimborium fließen lassen müsste, das letztlich trotzdem unbefriedigend bliebe. In West Hall kommen die Toten wieder, wenn man weiß, wie man sie ruft – und Punkt. Wichtiger ist die Frage nach den Konsequenzen, hinzu kommt die Auflösung zweier Rätsel: Was geschah 1908 wirklich, und wohin ist Alice verschwunden? In beiden Fällen sorgt McMahon für Überraschungen. Geschickt legt sie falsche Fährten dorthin, wo das wahre Böse lauert: in die Menschenwelt.

Nicht einmal die Verursacherin des Totenerweckens weiß wirklich Bescheid über diesen Zauber. Dabei gehört „Auntie“ zu jenen Ureinwohnern, die eng mit Mutter Erde zusammenarbeiten und deren Ruf stets im Ohr haben: Nicht immer kann (oder will) McMahon Klischees vermeiden. Immerhin sorgt ausgerechnet die naturmagisch ausgerichtete „Auntie“ für einen erstaunlich diesseitigen Final-Gag.

Reigen der tragisch Trauernden

Sowohl im Handlungsstrang von 1908, als auch in dem der Gegenwart tappen Figuren in die Trauer-Falle. Die Vergangenheit lebt zunächst in Saras Tagebuch auf. Später übernimmt dort, wo die Autorin nicht (mehr) die Feder führt, die allwissende Erzählerin McMahon. Die beiden Zeitebenen bleiben einerseits getrennt und werden andererseits miteinander verknüpft. Das verbindende Element ist vordergründig das Grauen von West Hall, aber in erster Linie geht es um trauernde Menschen, die in ihrem (sozialen) Umfeld gefangen sind. In Saras Welt spielt das alltägliche Elend einer Unterschicht, die stets arm gewesen ist und bleiben wird, eine wichtige Rolle. Dies wird als Selbstverständlichkeit und Schicksal akzeptiert sowie einfallsreich in Szene gesetzt, was den heutigen Leser bzw. die Leserin empört, wie es die Autorin geplant hat.

Ein Jahrhundert später hat sich nicht wirklich viel geändert. West Hall ist auch ohne den Spuk rund um die Teufelshand eine unglückliche Stadt geblieben, in der provinzielles Misstrauen und Engstirnigkeit weiter großgeschrieben werden. Teenager Ruthie fühlt sich nicht grundlos gefangen, was sich steigert, als ihr Schwesterchen Fawn plötzlich am Rockzipfel hängt: Familiäre Verpflichtungen können sich in Ketten verwandeln.

Während die neuerliche Heimsuchung des Shea-Hauses gut mit der Vorgeschichte harmonisiert, bleibt Katherine ein Fremdkörper. Ihr Bemühen, die Aktivitäten des verstorbenen Gatten zu rekonstruieren, nehmen viel Raum ein, den Katherine als Figur nicht ‚verdient‘. Letztlich beschränkt sich ihre Funktion darauf, dem Grauen eine Hintertür zu öffnen, die den Keim einer Fortsetzung in sich trägt. Nur bedingt gelungen ist schließlich ein kräftiger Thriller-Schub, der unnötig kompliziert, was anschließend doch wie vorausgesehen abläuft.

Idylle mit faulen Stellen

Nicht nur der Plot, der an den modernen Grusel-Klassiker „Pet Semetary“ (1983; dt. „Friedhof der Kuscheltiere“) angelehnt scheint, erinnert an den Horror-Meister Stephen King. McMahon bemüht sich um fein gezeichnete Figuren, die ausdrücklich nicht zum ‚Helden‘ taugen, sondern Alltagsmenschen darstellen, die in eine Krise geraten, die sie faktisch überfordert = die Suche nach Talenten und Kräften provoziert, die bisher ohne Abruf in ihnen geschlummert haben.

Zur Grusel-Atmosphäre tragen gelungene Schilderungen der winterlichen Landschaft bei. Vermont gehört außerdem zu jenen neuenglischen Staaten, die bereits im 17. Jahrhundert europäisch besiedelt wurden. Aus US-Sicht geschah das unmittelbar nach dem Aussterben der Dinosaurier, weshalb diese Region der Vereinigten Staaten als besonders geschichtsträchtig betrachtet wird. Die frühen Siedler mussten mit dem Land und der Witterung kämpfen. Ärgerlicherweise gab es außerdem Ureinwohner, die sich nicht kampflos unterdrücken oder vertreiben lassen wollten. Zu schlechter Letzt brach sich religiöser Fanatismus Bahn, der sich u. a. in den berüchtigten Hexenprozessen von Salem massenmörderisch materialisierte.

Dass zuletzt nicht alles endet, wie wir – geprüft durch zu viele von Routine bestimmte Grusel-Schwänke – erwartet oder befürchtet haben, ist jener Pluspunkt, der die weiter oben genannten Schwächen (beinahe) ausgleichen kann. „Winter People“ ist ein wenig fahrig geschrieben, vermag aber einer bewährten Ausgangssituation manche unerwartete Wende zu geben und deshalb spannend zu unterhalten.

Autorin

Jennifer McMahon wurde am 5. Juni 1968 in Hartford, US-Staat Connecticut, geboren. Sie wuchs im Haus ihrer Großmutter auf und studierte am Goddard College in Plainfield, Vermont. Nach ihrem Abschluss nahm McMahon 1991 an einem Kurs für kreatives Schreiben am Vermont College teil. Verfasste sie zunächst Gedichte, so wechselte sie bald zu Kurzgeschichten und Romanen. Erst 2007 erschien jedoch ihr Debüt – der Psychothriller „Promise Not to Tell“ (dt. „Das Mädchen im Wald“).

Mit ihrer Lebenspartnerin und der gemeinsamen Tochter lebt McMahin ein einem selbst restaurierten viktorianischen Haus in Montpelier, Vermont.

Taschenbuch: 395 Seiten
Originaltitel: The Winter People (New York : Doubleday/Random House LLC 2014)
Übersetzung: Sybille Uplegger
jennifer-mcmahon.com
ullstein-buchverlage.de

E-Book: 1517 KB
ISBN-13: 978-3-8437-0737-4
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