Chris Wooding – Alaizabel Cray

Kampf gegen Hexlinge und Dämonen

Dieses Jugendbuch bietet eine ungewöhnliche Mischung aus Fantasy und Horror, ist aber in einem alternativen Geschichtsverlauf angesiedelt. Ganz schön clever! Das Buch, das den Smartie Awards (Silber-Medaille) für den besten Roman des Jahres erhielt (Verlagsinfo), erschien bereits 2001 auf Deutsch im Hardcover, also noch im Jahr, als das Original erschien. Das nenne ich mal eine schnelle Reaktion. Der Leser dürfte sich freuen, dass es auch die preiswerte Taschenbuchausgabe gibt.

Der Autor

Bei Chris Wooding handelt es sich um einen recht jungen Fantasy-Autor, der bereits im Alter von neunzehn Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte. Wooding wurde am 28. Februar 1977 in den britischen Midlands geboren, wusste schon bald, dass er eines Tages Bücher schreiben wollte, und verbrachte nach seinem Studium der Englischen Literatür seine Zeit in verschiedenen Winkeln Europas, um sich dort inspirieren zu lassen. Große Einflüsse für seine im Folgenden erscheinenden Bücher holte er sich schließlich in Japan und Südafrika, wo er selbst des Öfteren in Lebensgefahr geriet.

Mittlerweile 28, brachte Wooding nun die Geschichte um „Alaizabel Cray“ heraus, die ihm international ein Mehr an Beachtung verschaffte und seinen Namen nach einigen eher unauffälligen Horror- und Fantasy-Erzählungen erstmals etablierte. Die mehrfach ausgezeichnete Story verhalf ihm schließlich zum Durchbruch, doch Wooding plante auch schon seinen nächsten Roman, besser gesagt eine Trilogie, bei der er die Inspiration der fernöstlichen Kultur noch weiter einzubringen gedachte. Der erste Teil heißt „Die Weber von Saramyr“. (Siehe die Rezension von Björn Backes.)

Handlung

Das Geschehen spielt in einem London, das an Charles Dickens‘ Romane erinnert: Es zwar bereits von der Industrialisierung gezeichnet, doch immer noch fahren Pferdedroschken durch die Straßen. Und immer noch gibt es Stadtviertel, in die sich kaum jemand aus dem Nordteil der Stadt hineinwagen würde, wenn ihm sein Leben lieb ist. Insbesondere im Alten Viertel und in den Krummen Gassen, die beide südlich der Themse liegen, ist es Besuchern nicht ganz geheuer.

Der Leser merkt schon bald, dass dies nicht das London ist, das er aus dem Geschichtsunterricht kennt: Gleich in der ersten Szene schwebt brummend ein deutscher Zeppelin über das Alte Viertel. Was hat denn der hier zu suchen? Und was hat er zu fürchten?

Die Wahrheit ist, dass die Preußen in dieser Welt nicht nur Frankreich im 1870er Krieg überrannt haben, sondern gleich auch noch eine Flotte von Bomberzeppelinen nach London schickten, die Tod und Verwüstung über die Stadt brachten. England kapitulierte notgedrungen, selbst ohne Invasion. Noch nach 20 Jahren wird dieses Ereignis als die „Vernichtung“ bezeichnet, mit einem Schaudern.

Und was als noch viel schlimmer erwies: Etwa zur gleichen Zeit tauchten die ersten „Hexlinge“ auf. Sie wurden von Hexenjägern wie Jedriah Fox unschädlich gemacht, doch leider wurden es immer mehr. Hexen, Plagegeister, Dämonen. Und sie haben etwas vor, denn ihre Morde scheinen einem System zu folgen, wie die englische Polizei mutmaßt.

Nach Jedriahs Tod durchstreift nun sein 17-jähriger Sohn Thaniel die verruchten Viertel, ausgestattet mit einem Spürsinn für Hexlinge. Gleich in der ersten Szene folgen wir ihm in ein düsteres Haus im Alten Viertel, wo eines dieser Wesen haust. Er ist mit magischen Schutzzeichen versehen, doch ganz allein, denn seine schwesterliche Freundin Cathaline, mit der er zusammen im Elternhaus wohnt, ist woanders beschäftigt.

Zwar gelingt es ihm, den Dämon zu verjagen, doch stolpert er über eine junge Frau, die praktisch ohnmächtig in seine Arme fällt. Leider weiß sie weder ihren Namen noch woher sie kommt. Erst in seinem Haus findet sie wieder zurück ins Leben, doch mit ihr muss es eine besondere Bewandtnis haben. Als Thaniel die Irrenanstalt des Dr. Pyke besucht, erfährt er, dass diesem mehrere Insassen entsprungen sind, darunter eine schöne blonde Frau namens Alaizabel Cray. Thaniel verrät nicht, dass er sie versteckt hält.

Allmählich stellt sich die Schönheit als eine echte Gefahr heraus. Thaniel bemerkt Spuren von Hexlingen um sein mit Bannsprüchen geschütztes Haus. Eines Nachts erweist sich, dass Alaizabel besessen ist. Sie ist das körperliche Gefäß einer ziemlich mächtigen Hexe namens Thatch. Zum Glück gelingt es ihr, bei Verstand zu bleiben und ihr anderes Ich in Schach zu halten. Doch welche Bedeutung hat Thatch im Spiel der Hexlinge?

Aus bruchstückhaften Erinnerungen Alizabels und eigenen Recherchen ergibt sich für Thaniel und Cathaline ein furchterregendes Bild der Zukunft: Eine Hexergemeinschaft namens „Gilde“ hat vor, mächtige Götter, die „Glau Meska“, auf die Erde loszulassen und bereitet dafür bereits mit Menschenopfern die erste Phase vor. Nur noch zwei Opfer fehlen, um das London umspannende Zeichen, den Chackh’Morg, zu vollenden. Und die Gilde braucht Thatch, die mächtigste Hexe, unbedingt, um das Ritual in der zweiten Phase zu vollziehen.

Für Thaniel, der sich schon in seinen schönen Schützling verliebt hat, beginnt ein Kampf auf Leben und Tod. Und vom Ausgang hängt das Schicksal der Welt ab.

Mein Eindruck

Im Fahrwasser von Zauberlehrlingen wie Harry Schotter und Artemis Fowl erscheint dieser Gruselroman doch von einem ganz eigenen Kaliber. Zum einen ist da die alternative Welt als Schauplatz, die das Geschehen um die Hexlinge erst so richtig glaubhaft macht. Und dadurch ist das gesamte Personal von Hexlingen, jungen (höchst zwielichtigen) Maiden und tapferen Hexenjägern erst am richtigen Platz: Hier könnte auch Dracula sein Unwesen treiben. Leider tauchen Vampire an keiner Stelle auf.

Vielemehr erinnern manche Szenen stark an Dickens und Tim Powers: Es gibt mehrere Bettlerkönige, die über die jeweiligen Lumpen der Nacht herrschen. Mit denen müssen sich selbst Hexenjäger arrangieren. Immer wieder taucht ein Kapitel auf, das zunächst nichts mit der Haupthandlung zu tun zu haben scheint. Es dreht sich um ein weiteres Opfer, etwa eine Prostituierte. Um die Story ja nicht langweilig werden zu lassen und falsche Fährten zu legen, treibt auch noch ein gewisser Verbrecher namens „Flickengesicht“ sein Unwesen. Kein Wunder, dass die Polizei gegen die nach Norden vordringenden Hexlinge nicht zu Streich kommt.

Mir hat das Buch ausnehmend gut gefallen, und wäre ich 25 Jahre jünger, hätte ich es wahrscheinlich die Nächte hindurch verschlungen. Die ersten Kapitel werfen Unmengen von Fragen auf, so dass man unbedingt weiterlesen muss, um die Antworten zu erhalten. Die letzten 50 Seiten sind einfach phantastisch: ein grandioser Showdown zwischen Hexenjägern und der Gilde, bei dem das komplette Arsenal beider Seiten eingesetzt wird – plus einem Überraschungseffekt! Das alles findet in einer düsteren Kathedrale statt, die Saurons Schwarzem Turm alle Ehre machen würde. Ob unsere Helden hier noch lebend rauskommen?

Schwächen

Es gab nur wenig, was mich an dem Buch gestört hat, aber das Nervigste waren doch die vielen Ausrufezeichen. Alle naslang steht so ein Ding unmotiviert in der Gegend herum. Oder zumindest stark übertreibend. Nun ja, Kindern mag so etwas völlig in Ordnung erscheinen, und auch für das laute Vorlesen sind die Ausrufezeichen eine Hilfe. Aber unter ernsthaften Romanautoren ist dieses sprachliche Mittel verpönt. Selbst unter Horrorautoren.

Zum zweiten gehorcht die zarte Liebesbeziehung zwischen Thaniel und Alaizabel allen Regeln des romantischen Liebesromans, und dafür braucht man nicht mal bei Dickens nachschlagen. Das war mir denn doch etwas zu klischeehaft. Kinder und Jugendliche hingegen werden das lieben.

Nicht wirklich eine Schwäche hingegen ist wohl die deutliche Ähnlichkeit der „Glau Meska“ mit Lovecrafts „großen alten Göttern“, insbesondere mit dem unterwasser lebenden Cthulhu. Das Chackh’Morg zeigt auch das Abbild Cthulhus: eine riesigen Kraken. Allerdings erklärt der Autor diesen offensichtlichen Bezug nie, und das finde ich ein klein wenig unaufrichtig.

Unterm Strich

Wer Neil Gaimans „Niemalsland“, das unter den Straßen der Themse-Metropole spielt, mochte, wird auch dieses Buch interessant finden. Es spricht sowohl Fantasy- als auch Horrorliebhaber an. Die Schauplätze sind morbide und pittoresk, das Personal teils heroisch, teils furchterregend, und den Handlungsverlauf hätte man kaum cleverer anlegen können. Nach dem Ende lehnt ich mich jedenfalls zufriedengestellt zurück. War ja doch keine Zeitverschwendung.

Michael Matzer (c) 2018ff

Taschenbuch: 351 Seiten
Originaltitel: The Haunting of Alaizabel Cray, 2001
Aus dem Englischen von Wolfgang Ferdinand Müller.
ISBN-13: 9783404204793

www.luebbe.de

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