Justina Robson – Mappa Mundi. SF-Roman

Anstrengende Rebellion gegen Gedankenkontrolle

Totale Gedankenkontrolle – ein (Alb-)Traum, mindestens so alt wie George Orwells „1984“ aus dem Jahr 1948. Doch die künftige Nanotechnologie in Verbindung mit Gentechnik wird es Regierungen erlauben, Steuerungsbefehle an Menschen zu verbreiten, die als unscheinbare Grippeviren übertragen werden. „Mit einem hatschi! wirst du ein anderer Mensch“, könnte man sagen.

Doch was kann man gegen diese Forschung unternehmen und wie kann der Erfolg erreicht werden? Die englische Wissenschaftlerin Natalie Armstrong macht es vor. Dass in ihrem Kampf auch Opfer nötig sind, ist unausweichlich. Dass die Welt eine völlig andere wird, sowieso …

Die Autorin
Justina Robson veröffentlichte diesen ihren zweiten Roman bereits 2001. Das Buch wurde nach Angaben des Verlags für den „Arthur C. Clarke Award“ als bester Science-Fiction-Roman des Jahres nominiert, erhielt ihn aber nicht. Und das wohl zu Recht.

Handlung

FBI-Sonderermittler Jude Westhorpe wird von seiner indianischen Halbschwester White Horse mit der Nachricht überrascht, ihr Haus im Cheyenne-Reservat sei niedergebrannt worden: ein Anschlag ihrer verrückten Nachbarin. Als sei es noch nicht merkwürdig genug, dass im verschlafenen Dörfchen Deer Ridge in Montana Mordanschläge verübt werden, erzählt White Horse zudem, dass sie ein merkwürdiges Gerät am Rande ihres Grundstück gefunden habe: Ob er sich das Teil wohl mal ansehen könne?

Bei seinen weiteren Nachforschungen stößt Jude auf ein supergeheimes, aber höchst illegales Experiment, das eine Regierungsbehörde, möglicherweise das Pentagon, in Montana ausführen ließ: Gedankenkontrolle. Dabei scheint etwas schief gegangen zu sein.

Doch wer forscht an Gedankenkontrolle? Jude findet heraus, dass ein ganzes weltumspannendes Netz von geheimen Labors daran forscht, wie man den menschlichen Geist chargiert und sein Verhalten beeinflusst. Das höchste Ergebnis dieser Forschungsbemühungen wird „Mappa Mundi“ genannt: eine Karte der Welt. Es wurde auch schon die erste Software zur Abbildung und Steuerung von Geistesvorgängen wie etwa Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung entwickelt: Mappaware. Leider gibt es schon den ersten „Quick&Dirty“-Programmcode, der es erlaubt, den damit Behandelten paranoid schizophren werden zu lassen – ein Hinweis auf das Geschehen in Deer Ridge?

Im nordenglischen York lernt Jude mit List und Glück die Wissenschaftlerin Natalie Armstrong, die weltbeste Mappaware-Forscherin, kennen und verliebt sich in die zunächst spröde Schönheit. Doch in seinem Hotelzimmer erlebt Jude merkwürdige Geisteszustände, die ihn unsicher werden lassen, ob er wacht oder träumt. Am nächsten Tag, an den er sich erinnert, liegt ein Aktenordner neben ihm: ein geheimes Dossier von den Teilnehmern an der Mappa-Forschung, darunter einige Kriminelle, vor allem ein Russe namens Michail Guskow. Auch Natalie, der er das Dossier im Vertrauen zeigt, ist geschockt: Die Akte weist Spuren ihrer weit zurückliegenden geistigen Krise auf.

Es sieht ganz danach aus, als würde das Paar von unbekannten Hintermännern manipuliert. Doch zu welchem Zweck? Unterdessen bemüht sich Judes FBI-Kollegin Mary Delaney, die zur gleichen Zeit einen hohen Rang im Nationalen Sicherheitskomitee der USA innehat, die potenziell verheerenden Folgen des militärischen „Feldversuchs“ in Deer Ridge einzudämmen. Wenn die anderen Nationen (die ja auch an Mappa Mundi forschen) herausfinden, dass etwas schiefgelaufen ist, werden sie über die USA herfallen und mit dem Finger auf die Verantwortlichen zeigen. Das wäre das Ende der Mappa-Forschung in den USA. Und dazu darf es nicht kommen.

Also lässt sich Mary Delaney breitschlagen, mit der Mappa-Forschung in Isolation und Untergrund zu gehen – zusammen mit Michail Guskow, der seine ganz eigenen Pläne mit Mary und Mappa hat. Zu ihrem Zankapfel wird Natalie Armstrong, als deren Experiment an einem Patienten in einer Katastrophe endet: Der Patient verschwindet vor den Augen der Beobachter, und Natalie selbst wird mit einem Virus namens Selfware infiziert. Schlagartig wird sie zur wichtigsten Person der Welt.

Nun beginnen einige sehr seltsame Vorgänge. Patient X ist nämlich in einen neuen Zustand verschwunden, zu dem ihn die Selfware von Mappa Mundi befähigt hat. Als Natalie sich mit ihm verbündet, erhält sie langsam wieder Oberwasser und kann Jude helfen. Für Mary Delaney aber wird die Zeit knapp.

Mein Eindruck

Ein Thriller nach altem Muster

Nachdem die wichtigsten Akteure jeweils in kurzen Szenen charakterisiert worden sind, beginnt die im Grunde wie ein Thriller aufgebaute Handlung. FBI-Agent Westhorpe will wissen, was mit seinem Volk in Montana passiert ist; Natalie Armstrong sucht neue Wege, mit Hilfe von Mappa-Technologie ihren hirngeschädigten Patienten zu helfen.

Doch das, was sie tun und lassen, geschieht ja nicht im luftleeren Raum, sondern in einem engmaschigen Netz aus oftmals entgegengesetzten Interessen. Judes Schwester White Horse von den Cheyenne erhält eine Schlüsselrolle in der Auseinandersetzung zwischen Regierungsbehörden (Mary Delaney & Co.) und der konservativen Opposition. Natalies Schicksal kann über die Zukunft der gesamten Mappa-Forschung und somit über die geistige Freiheit des Menschen entscheiden. Zwischendrin entwickelt sich zwischen Jude und Natalie eine Liebesromanze.

Ein Wissenschaftsroman

Nun handelt es sich aber hierbei um einen Science-Fiction-Roman, in dem die Wissenschaften der Neurologie und der Kognitionsforschung eine zentrale Rolle einnehmen. So sehr also auch die menschlichen Begegnungen einen hohen Stellenwert innehaben, um die Handlung voranzubringen, so sehr wird dieses Tempo wieder von Kapiteln gebremst, in denen wissenschaftlicher Jargon das Verständnis erschwert – besonders dann, wenn die superintelligente Natalie doziert. Zum Glück kommen diese Abschnitte nur selten vor, aber sie sind anstrengend. Und außerdem vermitteln sie dem Leser den Eindruck, seine Geistesgaben reichten nicht aus, um das, was er liest, zu kapieren. Kein sonderlich angenehmes Gefühl, um es vorsichtig auszudrücken. [Schallendes Gelächter vom Lektor, das sofort in ein unterdrücktes Husten übergeht …]

Kein US-Roman

Wir haben es hier aber nicht mit einem Roman eines amerikanischen Autors zu tun, der von amerikanischen Lektoren für amerikanische Leser zurechtgestutzt wurde. In einem kurzen Satz dankt die Autorin zwei Redakteuren, ansonsten aber zwei Seiten lang den Informationslieferanten. Daher liegt das sprachliche wie kognitive Niveau dieses Romans nicht auf dem eines 13-jährigen Kindes, sondern auf dem von Erwachsenen. Da kann man schon ein paar anspruchsvolle Schilderungen sowie eine differenzierte Weltsicht erwarten.

Eine vielschichtige (komplizierte?) Welt

Außerdem befinden wir uns hier nicht mehr in der Welt von Heinlein oder Niven, sondern in der nahen Zukunft. Will heißen, dass sich verschiedenartigste Interessengruppen um den wissenschaftlichen Durchbruch, den Mappa Mundi darstellen könnte, reißen und zanken. Die Autorin schildert also verantwortungsvolle Wissenschaftler, die unter der Fuchtel von Militär und Regierungsbehörden tätig zu sein versuchen – nicht immer mit Erfolg. Und in ihren Reihen befinden sich mitunter Verräter.

Exemplarisch dafür steht der Kreis von Forscher, den Mary Delaney um Michail Guskow geschart und in eine abgeschottete Anlage in Virginia verbannt hat. Hier sollen die gewünschten Ergebnisse erbracht werden. Doch Guskow ist ein gewitzter Bursche, der Natalie, als sie hier eintrifft, beeindruckt. Leider weiß er nicht, was er mit Mappa Mundi anstellen soll: Er weiß nur, dass er ein Utopia, eine „perfekte Welt“ mit „perfekten Menschen“ schaffen könnte. Die entsprechenden Botschaften lassen sich mittels Viren in Blitzeseile über die ganze Welt verbreiten.

Die Frage ist also letzten Endes wieder einmal: Wir alle wissen, welche Art von Botschaften eine Regierung und insbesondere das Verteidigungsministerium verbreiten würde. Doch wenn wir nicht wollen, dass Menschen zu willfährigen Befehlsempfängern und braven Konsumenten degradiert werden, welches ist dann die positive Gegenvision? Die selbstzerstörerischen Aggressoren, die wir zur Zeit antreffen, wohl kaum. Nein, Natalie hat ihre Mappaware auf zwei Botschaften programmiert, die unterhalb der Gedankenebene Einfluss ausüben: „Keine Angst“ und „Vorteilhafter Kompromiss bevorzugt“.

Aber das reicht noch nicht, um gegen die aggressive Mappaware des Pentagon bestehen zu können. Ein weiterer Faktor ist notwendig: Erst die Freiheit der Information für alle bedeutet geistige Freiheit. Und die ist in der gegenwärtigen Informationshierarchie nicht zu erlangen. Zuvor muss das gesamte System transzendiert werden, damit alle frei sein können. Doch wie ist diese Transzendenz zu erreichen?

Unterm Strich

Was zunächst wie ein Agententhriller beginnt, wächst sich schon bald zu einem Wissenschaftsthriller à la Michael Crichton aus, allerdings um Lichtjahre anspruchsvoller, als Crichton je gewesen ist. Schließlich erscheint ein Utopia am Horizont, und die Frage stellt sich, wie man es trotz der Regierung erreichen kann. Am Ende, im ironisch so genannten „Update“, ist die Welt vollständig gewandelt, genau wie in den besten Romanen der Science-Fiction, etwa in „Der Wüstenplanet“.

Spannend mag „Mappa Mundi“ ja sein, stellenweise sogar bewegend, aber das Buch hat eine durchgehende dramaturgische Schwäche: Die Autorin versorgt den Leser nicht richtig mit spannenden Höhepunkten. Natürlich sterben wichtige Figuren auf manchmal dramatische Weise, aber deren Ende scheint irgendwie zufällig so eingetreten zu sein – als habe eine finstere, unaufhaltsame Macht kurz mal ausgeholt und sie beiseite gewischt, weil sie im Weg waren. Dem Leser schwant davor schon, dass etwas Übles im Anzug ist, aber will er es wirklich wissen?

Ich habe nur weitergelesen, weil ich schon zu weit war und wissen wollte, wie die Story ausgeht. Leider ist auch die Wandlung der Welt schließlich so unspektakulär wie das Alltagsleben selbst, obwohl die Wirkung und Bedeutung größer als die der Hiroshima-Bombe ist: ein, zwei Grippewellen, wieder einmal.

Die Autorin muss offenbar – wie einige ihrer Landsleute, die Science-Fiction schreiben – noch lernen, dass es nicht genügt, einfallsreiche und engagierte Science-Fiction spannend zu schreiben, sondern man muss diese Story auch entsprechend verpacken. Verpackung als Teil des Marketings ist heute mindestens ebenso wichtig wie der Inhalt, wenn nicht noch wichtiger. Ich hoffe, dass Justina Robson ihre Lektion bis zum nächsten Buch gelernt hat.

Die Übersetzung

Dietmar Schmidt hat schon die schwierigsten Bücher übersetzt und ist für Lübbe sehr fleißig. Auch in „Mappa Mundi“ macht er einen recht guten Job, jedenfalls meistens. Leider ist dies ein sehr langer Roman – eng gesetzt wohl so um die 500-600 Seiten lang. (Die 700 Seiten kommen daher, dass die Schrifttype ziemlich groß ist.) Und so ist es wohl zu erklären, dass ihm gegen Schluss immer mehr Druckfehler unterliefen. Das führte dazu, dass im Text nicht nur einzelne Buchstaben, sondern sogar ganze Wörter fehlen. Die muss der Leser selbst sinnvoll ergänzen.

Ein Beispiel für einen Druckfehler, der aber auch aus der Rechtschreibkorrektur stammen könnte – wer kann das schon sagen? Aus „antiklimaktisch“ wird „antiklimatisch“ (ca. S. 670). Das erste Wort drückt das Gegenteil einer Klimax (= Höhepunkt) aus, das zweite scheint etwas mit dem Klima zu tun haben, aber was nur? Nun ja, schon das Wort „antiklimaktisch“ hätte man ersetzen sollen. Ebenso wie das Wort „Vakzin“, bei dem es sich lediglich um ein Synonym für „Impfstoff“ handelt. Auch „Deliverance“, den Mappaware-Kampfstoff, hätte man übersetzen können, etwa als „Erlösung“.

Keine Übersicht

Ein zweites Manko, für das Schmidt aber nichts kann, ist das umfangreiche Personal, für das es keine Übersicht gibt. Drittens tauchen ständig neue Begriffe wie Mappaware, Selfware, NervePath, MUV und Deliverance auf, für die es kein Glossar gibt. Natürlich werden sie im Text erklärt und sinnvoll eingeführt, aber wer erinnert sich nach zwei, drei Tagen Lesepause noch an ihre genaue Bedeutung? Das bedeutet, dass man das Buch in einem Stück durchlesen muss, und das ist sicher nicht leicht. Ich jedenfalls habe mehrere Wochen gebraucht.

Taschenbuch: 718 Seiten
Originaltitel: Mappa mundi, 2001
Aus dem Englischen übersetzt von Dietmar Schmidt.
ISBN-13: 978-3404243150

http://www.bastei-luebbe.de
Homepage der Autorin: http://www.justinarobson.co.uk/

Michael Matzer (c) 2003ff