Ursula K. Le Guin – Ein Fischer des Binnenmeeres. Phantastische Erzählungen

A Fisherman of the Inland Sea ist eine 1994 erschienene Sammlung von Kurzgeschichten der Autorin Ursula K. Le Guin, die 1998 unter dem Titel Ein Fischer des Binnenmeeres auf Deutsch herausgegeben wurde. In den letzten drei Geschichten des Bandes werden die Technik des „churten“, des Ortswechsels ohne Zeitintervall, sowie dessen Nebenwirkungen beschrieben; wie LeGuin im Vorwort anmerkt, sind die drei Geschichten um das „churten“ „Geschichten über Geschichten“, oder über das Erzählen. (Wikipedia)

„Ein Fischer des Binnenmeeres“ heißt die Anthologie, die Anfang 1998 in der Edition Phantasia erschienen ist. Allein die Einleitung dieser Sammlung halte ich für einen ausreichenden Grund, sich dieses Buch nicht entgehen zu lassen, denn was Le Guin „Über Science Fiction und Leute, die sie nicht lesen“ zu sagen hat, ist pointiert, voller Wortwitz und sanfter Ironie, kurz, ein Leckerbissen zum Aperitif. Außerdem lässt uns die Autorin einen Blick auf ihre eigene Sicht ihrer Geschichten werfen, was ich immer wieder sehr erhellend finde, gerade im Hinblick auf die mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten. Der Band enthält drei neue HAINISH-Erzählungen.

Die Autorin

Ursula Kroeber Le Guin, geboren 1929 als Tochter des berühmten Anthropologen Kroeber, ist meiner Ansicht nach eine bessere Schriftstellerin als C.S. Lewis (was etwa Jugend-Fantasy angeht), mit einem klareren Stil als Alan Garner (GB), origineller als Susan Cooper oder Joy Chant und schreibt flüssiger als alle ihre amerikanischen Nachahmer. Ihr Stil zeichnet sich durch anmutige Eleganz aus. Sie gehört zu den höchstdekorierten amerikanischen Schriftstellern überhaupt.

Am bekanntesten wurde sie durch ihren – kürzlich verfilmten – Erdsee-Zyklus, in dessen Universum sie immer neue Romane spielen lässt. Aber da sie von Haus aus einen anthropologischen Hintergrund hat (s.o.), spielen ihre frühen SF-Geschichten verschiedene Szenarien für die Weiterentwicklung des Menschen oder von alternativen Kulturen durch. Dazu gehört der frühe Hainish-Zyklus, der Roman „Die Geißel des Himmels“ und die preisgekrönten Romane „Die linke Hand der Dunkelheit“ (1969) sowie „Der Planet der Habenichtse“ (1974). In „Linke Hand“ beschreibt sie eine Kultur, die nicht von zwei verschiedenen Geschlechtern und deren determinierter Sexualität beherrscht wird. „Habenichtse“ entwirft die große Utopie der Anarchisten: keine Herrschaft, keine sozialen Unterschiede, nur Nächstenliebe und Freiheit – in Armut.

In zahlreichen Storysammlungen hat sich Le Guin sowohl in der Fantasy wie auch in Mainstream und SF als scharfsinnige Theoretikerin und Beobachterin erwiesen. Zu diesen Collections gehören besonders „Die zwölf Striche der Windrose“, „Die Kompassrose“, „Ein Fischer des Binnenmeeres“, „Four Ways to Forgiveness“ und zuletzt „Changing Planes“ (2005).

Le Guin hat auch Gedichte und Kinderbücher geschrieben, mit der Norton Anthologie zur Science Fiction erwies sie sich als wichtigste – und umstrittene – Initiatorin weiblicher Science Fiction in den siebziger Jahren. Eine interessante und aktuelle Würdigung ihres Werks findet sich in Thomas M. Dischs Sachbuch „The dreams our stuff is made of. How science fiction conquered the world“ (1998). Diese kritischen und kenntnisreichen Essays werden sukzessive im „Heyne SF Jahr“ veröffentlicht. Relevant zu Le Guin sind die Kapitel „Can girls play too? Feminizing science fiction“ und „The third world and other alien nations“. Die Autorin starb 2018.

Die Erzählungen

1) „Erstkontakt mit den Gorgoniden“ (1991) und 2) „Die Besteigung der Nordwand“ (1983) sind zwei nette kleine Pointengeschichten, die hier zu referieren ihre Kürze und mein Anstand verbieten – ich will Ihnen ja den Spaß nicht verderben!

3) Bei „Newtons Schlaf“ (1991) handelt es sich um eine Geschichte, die der Autorin nach eigener Aussage mit am meisten Kummer bereitete, weil man sie „als antitechnologische Hetzschrift lesen“ könnte, als die sie nun aber ganz und gar nicht gemeint gewesen sei; ich erlaube mir noch ein weiteres Zitat aus Le Guins eigener Beurteilung: „Ich finde wirklich, wir sollten unseren Staub mitnehmen, wohin wir auch gehen. Wir sind Staub. Wir sind Erde.“

4) „Der Stein, der alles veränderte“ (1992) ist ein wunderschöner blaugrüner Kieselstein, der, wegen seiner perfekten Form in ein vorgeschriebenes Muster eingefügt, seiner Finderin die Augen öffnet für eine andere, bislang verborgene Wahrheit; nicht nur die Form, auch die Farbe spricht eine Sprache für die, die sehen können – und wollen. Eine feministische Parabel, die Wut in Mut wandelt, der aus der Überzeugung entsteht, dass eine Ordnung, die auf der Unterdrückung und Ungleichbehandlung eines Großteils ihrer Mitglieder beruht, keine Zukunft haben kann.

5) „Das Kerastion“ (1990) ist das Ergebnis eines Workshops und das titelgebende besondere Musikinstrument die Erfindung einer Teilnehmerin, aber davon abgesehen eine typische Le Guin-Story, deren Wiedergabe ich mir ebenfalls verkneifen möchte, um Ihnen das Aha-Erlebnis nicht zu nehmen – an Ihrer Stelle würde ich auch zuerst die Story lesen und dann erst den Kommentar der Autorin in der Einleitung.

6-8) Die drei abschließenden Geschichten sind durch ihr Thema und einige Personen miteinander verbunden. Sie spielen im Universum der Ökumene, wie Le Guins große Hainish-Romane „Winterplanet/Die linke Hand der Dunkelheit“ und „Planet der Habenichtse/Die Enteigneten„. Bereits 1969 bzw. 1974 erstmals veröffentlicht, haben beide Bücher im übrigen nichts von ihrer Faszination und der Wucht ihrer Bilder verloren, wenn man sie zum Auffrischen der Erinnerung jetzt wieder einmal zur Hand nimmt.

Die Geschichte der Shobies“ (1990), „Tanzend nach Ganam“ (1993) und „Eine andere Geschichte oder Ein Fischer des Binnenmeeres“ (1994) schildern aus unterschiedlichen Blickpunkten Erfahrungen mit der „Churten-Theorie“, dem Le Guinschen Pendant zum Hyperraumsprung.

In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen der Autorin über die naturwissenschaftlichen Hintergründe (nicht nur) ihrer literarischen Fiktionen besonders interessant, berauben sie mich doch nicht nur einiger liebgewonnener Illusionen, sondern lindern gleichermaßen meine Verzweiflung über meine vielleicht doch nicht so gravierende technisch-physikalische Begriffsstutzigkeit.

6) Die „Shobies“ sind die zehnköpfige Besatzung eines Raumschiffes, das erstmals seit Entdeckung der Churten-Theorie intelligente Lebewesen in Nullzeit von einem Planeten zum anderen transportieren soll. Von diesem Experiment erhoffen sich die Wissenschaftler Erkenntnisse darüber, was eigentlich während des Sprungs passiert, denn es gibt niemanden, der die Churten-Theorie versteht, geschweige denn erklären kann. Doch auch nach dem erfolgreichen Sprung der Shobies sind die Rätsel eher größer geworden, denn die Wahrnehmungen aller Besatzungsmitglieder weichen so stark voneinander ab, daß sie nur unter größten Mühen überhaupt wieder eine gemeinsame Existenzebene – und damit den Rückweg – finden.

7) Als Folge dieser Erfahrungen ist die Gruppe, die „Tanzend nach Ganam“ churtet, deutlich kleiner und scheinbar homogener geworden. Diesmal gibt es keine Wahrnehmungsdissonanzen beim Sprung, und die vierköpfige Gruppe macht sich daran, die unbekannte Kultur des fremden Planeten zu erforschen. Allerdings gehen die zwei Männer und zwei Frauen mit sehr unterschiedlichen Erwartungen und Vorstellungen in den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, und die nun auftretenden Wahrnehmungsdissonanzen haben nicht das Geringste mit Temporalphysik, umso mehr mit menschlichen Schwächen zu tun.

Mein Eindruck

Le Guin hat hier die Konsequenzen unserer Eigenart, nur zu sehen, was wir sehen wollen, bis zum bitteren Ende durchexerziert. Der Blick in den Spiegel kann manchmal wirklich zum Fürchten sein.

8) Eine andere Lösung für das gleiche Dilemma bietet „Eine andere Geschichte…“ – übrigens die einzige Story der Sammlung, die bereits zuvor bei uns veröffentlicht wurde (in „Rabenschwarze Träume“, Heyne 10108, 1997).

Der Erzähler, Tiokunan’n Hideo vom Planeten O, verdrängt eine Wahrnehmung, die sein Leben in andere Bahnen lenken würde, um seinen Traum, das Studium der Temporalphysik, nicht aufgeben zu müssen. Doch die mißachtete Wahrheit findet einen Weg, sich in Erinnerung zu bringen. Ein Versuch mit dem Churtenfeld läßt ihn in der Zeit stranden, gibt ihm die Chance, das Leben, das er einst ausschlug, doch noch zu leben.

Mein Eindruck

Auch wer sich nicht unbedingt als intimer Kenner der Churtenfeldtheorie ausgeben mag, kann dieser Geschichte dennoch so manchen Reiz abgewinnen. Allein das Konstrukt einer Vier-Personen-Ehe mit all ihren Im- und Komplikationen, die das soziale Grundgerüst des Planeten O bildet, versorgt den Leser mit reichlich Stoff zum Nachdenken.

Unterm Strich

„Erzählend die Welt nicht nur begreifen, sondern auch erschaffen; das Wissen, daß die Kunst des Erzählens der rote Faden ist, mit dem wir unsere gemeinsame Realität aufrechterhalten können, dies ist das Thema der Kurzgeschichten in Le Guins neuer Sammlung. Nach Jahren des Wartens endlich wieder neue Kurzgeschichten der gefeierten Meisterin der literarischen Science Fiction. Fantasygeschichten und drei neue Science-Fiction-Storys zum berühmten Hainish-Zyklus.“ (Verlagsinfo)

Wenn Sie dieses Buch lesen, dann achten Sie nur darauf, sich nicht einer der von Le Guin angeprangerten Todsünden eines Kritikers schuldig zu machen und nach Botschaften zu forschen. Denn: „Es gibt keine Botschaften in diesen Geschichten. Es sind keine Glückskekse. Es sind Geschichten.“

Hinweis

Diese Storysammlung erschien 1998 als einmalige Auflage von 250 numerierten, von der Autorin handsignierten Exemplaren in Leinen mit Schutzumschlag. Dieses Sammlerstück ist also extrem rar und folglich kaum irgendwo im modernen (Online-) Antiquariat zu finden. Der Neupreis lag bei 45 Euronen. Auch beim Verlag ist dieser schöne Titel ausverkauft.

Hardcover: 218 Seiten
Originaltitel: A Fisherman of the Inland Sea, 1994
Aus dem Englischen von Joachim Körber, Hans-Jürgen Staudenmeier, Ute Thiemann und Andreas Kasprzak.
ISBN-13: 9783924959456

www.EditionPhantasia.de

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