Ursula K. Le Guin – Das Vermächtnis von Erdsee (Erdsee 6)

Zaubere Geschichten von der Erdsee

Was geschah in den Jahren, als Ged Erzmagier an der Zauberschule von Rok war? Welches Geheimnis barg das vergangene finstere Zeitalter? Und wie werden der Sperber, Tenar und Tehanu, die Tochter der Drachen, ihre Welt retten können? Mit diesem Band spinnt Ursula K. Le Guin ihren weltberühmten »Erdsee«-Zyklus weiter – eine faszinierende Reise in die Vergangenheit und Zukunft des Insel-Kontinents, die durch einen umfassenden Anhang über die Geschichte, Völker und Magie Erdsees komplettiert wird. (Verlagsinfo)

Im Erdsee-Zyklus hat Ursula Le Guin eines der schönsten und interessanten Fantasy-Universen geschaffen: eine Welt, die nur aus meerumspülten Inseln besteht und in der Magie funktioniert – Magie, die Urmächte der Welt und des Lebens beherrscht. Doch nicht nur ihre fünf bisherigen Fantasy-Romane lässt Ursula Le Guin in der Erdsee spielen, sondern auch die im vorliegenden Band gesammelten fünf Erzählungen. Beigefügt sind noch mehrere Beschreibungen von Eigenarten Erdsees. Demnächst sollen weitere Romane entstehen, die in diesem Universum spielen.

Die Autorin

Ursula Kroeber Le Guin, geboren 1929 als Tochter des berühmten Anthropologen Kroeber, ist meiner Ansicht nach eine bessere Schriftstellerin als C.S. Lewis (was etwa Jugend-Fantasy angeht), mit einem klareren Stil als Alan Garner (GB), origineller als Susan Cooper oder Joy Chant und schreibt flüssiger als alle ihre amerikanischen Nachahmer. Ihr Stil zeichnet sich durch anmutige Eleganz aus. Sie gehört zu den höchstdekorierten amerikanischen Schriftstellern überhaupt.

Am bekanntesten wurde sie durch ihren – kürzlich verfilmten – Erdsee-Zyklus, in dessen Universum sie immer neue Romane spielen lässt. Aber da sie von Haus aus einen anthropologischen Hintergrund hat (s.o.), spielen ihre frühen SF-Geschichten verschiedene Szenarien für die Weiterentwicklung des Menschen oder von alternativen Kulturen durch. Dazu gehört der frühe Hainish-Zyklus, der Roman „Die Geißel des Himmels“ und die preisgekrönten Romane „Die linke Hand der Dunkelheit“ (1969) sowie „Der Planet der Habenichtse“ (1974). In „Linke Hand“ beschreibt sie eine Kultur, die nicht von zwei verschiedenen Geschlechtern und deren determinierter Sexualität beherrscht wird. „Habenichtse“ entwirft die große Utopie der Anarchisten: keine Herrschaft, keine sozialen Unterschiede, nur Nächstenliebe und Freiheit – in Armut.

In zahlreichen Storysammlungen hat sich Le Guin sowohl in der Fantasy wie auch in Mainstream und SF als scharfsinnige Theoretikerin und Beobachterin erwiesen. Zu diesen Collections gehören besonders „Die zwölf Striche der Windrose“, „Die Kompassrose“, „Ein Fischer des Binnenmeeres“, „Four Ways to Forgiveness“ und zuletzt „Changing Planes“ (2005).

Le Guin hat auch Gedichte und Kinderbücher geschrieben, mit der Norton Anthologie zur Science Fiction erwies sie sich als wichtigste – und umstrittene – Initiatorin weiblicher Science Fiction in den siebziger Jahren. Eine interessante und aktuelle Würdigung ihres Werks findet sich in Thomas M. Dischs Sachbuch „The dreams our stuff is made of. How science fiction conquered the world“ (1998). Diese kritischen und kenntnisreichen Essays werden sukzessive im „Heyne SF Jahr“ veröffentlicht. Relevant zu Le Guin sind die Kapitel „Can girls play too? Feminizing science fiction“ und „The third world and other alien nations“.

Die Erdsee-Romane

A Wizard of Earthsea. 1968 (Der Magier der Erdsee. 1979)
The Tombs of Atuan. 1970 (Die Gräber von Atuan. 1979)
The Farthest Shore. 1972 (Das ferne Ufer. 1979)
Tehanu: The Last Book of Earthsea. 1990 (Tehanu. 1992)
The Other Wind, 2001 (Rückkehr nach Erdsee. 2003)

Kurzgeschichten

The Word of Unbinding. 1964 (Das lösende Wort. In: Die zwölf Striche der Windrose. 1980)
The Rule of Names. 1964 (Die Namensregel. In: Die zwölf Striche der Windrose. 1980)
Dragonfly. 1997 (Schwebender Drache. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
Darkrose and Diamond. 1999 (Schattenrose und Diamant. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
The Finder. 2001 (Der Finder. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
The Bones of the Earth. 2001 (Die Gebeine der Erde. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
On The High Marsh. 2001 (Im Hochmoor. In: Das Vermächtnis von Erdsee. 2001)
The Daughter of Odren. 2014 (Die Tochter des Fürsten von Odren. In: Erdsee: Die illustrierte Gesamtausgabe. 2018) Inhalt
Firelight. 2018 (Feuerschein. In: Erdsee: Die illustrierte Gesamtausgabe. 2018)

Magie in Erdsee

„Wichtiges Element der Welt von Erdsee ist die Magie. Die Ausübung der Magie liegt bei den Menschen, die mit magischen Kräften geboren werden. Wer offiziell Magier werden möchte, absolviert oft ein Studium an der Zauberschule auf Rok, eine Art Universität. Neben den Magiern gibt es auch Frauen mit magischen Kräften. Da sie jedoch aufgrund der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur der Welt nicht zu Magierinnen ausgebildet werden, können sie lediglich Hexen mit geringeren Fähigkeiten und noch geringerem Ansehen in der Bevölkerung werden.

Zusätzlich gibt es auch Zauberer, die, anders als die Magier, keine vollständige Ausbildung hinter sich brachten und somit an Macht nie einem Magier nahekommen könnten. Hauptkriterium der Magie ist, dass jedes Objekt einen wahren Namen in der Ursprache hat, der sich von dem Namen in der Umgangssprache unterscheidet. Wer den wahren Namen eines Objektes kennt, kann dieses beeinflussen. Den wahren Namen, den ein jeder Mensch selbst erhalten hat, hält dieser geheim, denn seine Kenntnis bedeutet Macht über seinen Träger. Ihn jemandem mitzuteilen, gilt als großer Vertrauensbeweis.“ (Wikipedia)

Die Erzählungen

1) Der Finder

Wie die Autorin im Vorwort darlegt, schildert diese lange Novelle von 130 Seiten die Ereignisse, die zu Gründung und Wachstum der Magierschule auf der Insel Rok führten. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein junger Mann, der über die Gabe des Findens und Zurückholens verfügt: Er nennt sich erst Otter, dann Seeschwalbe. Sein Name in der Wahren Sprache lautet jedoch Medra. Nur die Magie bedient sich der Wahren Sprache – und die Drachen. Denn in der Wahren Sprache kann niemand lügen, und sie verleiht Macht.

Es ist eine finstere Zeit für weise Frauen und andere, die Anzeichen magischer Fähigkeiten zeigen. Sie werden für alle möglichen Missstände verantwortlich gemacht, die sie jedoch beheben könnten, wenn man sie nur ließe. Die Not im Reich der mittleren Erdsee, im Königreich Havnor, rührt aber von dem Piraten auf dem Thron und seinen zwei gewissenlosen Magiern her: Gelluk und Früh. Gelluk wird auf die Finde-Fähigkeiten eines Jungen aufmerksam und benutzt ihn, um Zinnober aufzuspüren, das Erz, aus dem das giftige Quecksilber gewonnen wird – nach diesem Metall ist Gelluk buchstäblich verrückt.

Doch mit Hilfe von Anieb, einer jungen Zauberin, die in Gelluks Erzhütte als Sklavin schuften muss, gewinnt Medra, der Junge, die Oberhand über Gelluk und listenreich kann er sich des Magiers entledigen. Die beiden fliehen zusammen. Nach Aniebs Tod durch Erschöpfung und Quecksilbervergiftung widmet sich Medra ganz dem Aufspüren und Finden von Leuten mit magischen Fähigkeiten, die er auf die verborgene Zaubererinsel Rok führt, um sie dort ausbilden zu lassen. So kann er sie oftmals aus Elend und Not befreien. Allerdings hat Medra noch eine Rechnung offen in Havnor. Er trifft eine verhängnisvolle Entscheidung…

Ich fand heraus, dass es für das volle Verständnis dieser Geschichte hilfreich ist, den geschichtlichen Abriss in der „Beschreibung“ gelesen zu haben. Für die anderen Geschichten gilt im Grunde das gleiche, doch nicht in diesem Maß. Es nützt, die Grundlagen über Magie, Sprache und Völker/Kulturen zu kennen, bevor man weiterliest.

2) Schattenrose und Diamant

Dies ist eine Geschichte darüber, dass es nicht leicht ist, zwischen Pflicht und Neigung, Beruf und Magie, Liebe und Erfolg zu wählen. Diamant ist der Name des Jungen, der dem reichen Holzhändler Golden geboren wird. Golden hofft natürlich, dass Diamant später sein Unternehmen übernimmt, doch er hat auch gewaltige Ehrfurcht vor der Magie an sich. Deren Anzeichen verrät Diamant schon recht früh, doch es könnte sich auch um kleine Tricks handeln, die der Junge von seiner Freundin Schattenrose gelernt hat. Rose ist die Tochter der Dorfhexe und die beste Freundin von Goldens Frau.

Als Golden seinen Sohn jedoch schweren Herzens zu einem echten Magier in die Ausbildung schickt, lernt der Junge nichts, vielmehr träumt er viele Monate von seiner Freundin, ohne etwas deswegen zu unternehmen. Er läuft davon und kehrt nach Hause zurück, um sie zurückzubekommen. Leider hat sich Rose inzwischen für einen anderen Jungen entschieden.

Enttäuscht schlägt sich Diamant die Liebe aus dem Kopf und widmet sich dem väterlichen Geschäft und den Zahlen. Doch dies ist nicht das Ende der Geschichte – sie geht gut aus, doch für wen?

3) Die Gebeine der Erde

Diese Geschichte ist etwas ketzerisch. Hier wird nämlich Erdmagie eingesetzt, also wahre Urmagie, die älter ist als jene, die von der Zauberschule auf Rok gelehrt wird. Und wie könnte es anders – Erdmagie wurde von einer Zauberin, Ard, gelehrt. Zaubernde Frauen jedoch sind als Hexen von der ‚Hohen Kunst‘ der Magie, die man(n) auf Rok lehrt, ausgeschlossen…

Die Geschichte handelt von Ards Schüler, Dulse, als dieser schon rund 80 Jahre alt ist und einsam aber zufrieden auf seinem kleinen Hof auf Gont lebt. Sein einziger Schüler, Ogion, lebt in Gonts Hauptort, Re Albi, und dient den Reichen und Mächtigen.

Als Dulse spürt, wie ein Erdbeben die gesamte Insel zu vernichten droht, macht er sich auf, den mächtigen Spruch der alten Erdmagie, der das Beben aufhalten kann, auszusprechen. Doch dieser Spruch ist als einziger unwiderruflich und endgültig – auch für den Sprecher…

4) Im Hochmoor

Die Insel Semel wird beherrscht von einem erloschenen Vulkan. Dessen Aschenhügel haben sich mit Wasser vollgesogen und so ein ausgedehntes, fruchtbares Hochmoor gebildet, auf dem Viehherden weiden. Eines Nachts klopft ein Fremder an die Tür der alten Frau Gabe. Der Fremde, der sich erst Gully, später aber Otak nennt, hat zwar Gold bei sich, trägt aber zerfetzte Lumpen – sehr seltsam. Noch seltsamer ist, dass er das von einer Seuche befallene Vieh im weiten Umkreis heilen kann, aber dennoch sehr bescheiden und geradezu weltfremd auftritt. Wo mag er wohl herkommen?

Otaks halbwegs guter Ruf erleidet eine schweren Einbuße, als er im Zorn einen fremden Möchtegernzauberer beinahe vernichtet, sich aber im letzten Moment beherrschen kann und selbst bewusstlos zusammenbricht. Die Dörfler flippen beinahe aus: Das hat man davon, wenn zwei Zauberer aufeinander treffen! Ihre Nerven werden nicht ruhiger, als noch ein dritter Fremder auftaucht und nach Obdach fragt. Man schickt ihn zu Gabe: „Alle Fremden auf einen Haufen“, heißt es.

Der Fremde, der sich Falke nennt, ist in Wahrheit der Erzmagier der Welt: Ged. Ged kennen Erdsee-Freunde bereits aus den vier ersten Erdsee-Romanen, in denen er ein erstaunliches inneres Wachstum erleben darf. Ged nun erzählt der erstaunten und verzückten Bäuerin, wen sie in ihre Hütte aufgenommen hat: einen abtrünnigen Magier aus Rok…

5) Schwebender Drache

Eine geniale und bis zur allerletzten Seite spannende Erweiterung des bisherigen Geschehens im Erdsee-Archipel, die nahtlos an „Tehanu“, den vierten Erdsee-Roman, anschließt. – Die junge Bauerstochter Illian, deren Mutter unbekannt ist, will Rok, die Insel der Weisen und Magier, besuchen, um herauszufinden, wer oder was sie ist. Doch Damenbesuch ist im Kloster der Magier inzwischen wieder streng verboten (das war früher ganz anders!). Der Erzmagier Thorion will Illian verjagen, doch eine ältere und mächtigere Magie, als er sie besitzt, tötet ihn: Illian ist ein Drache!

Diese wundervoll erzählte Geschichte war bereits in R. Silverbergs Anthologie „Der siebte Schrein“ zu lesen (Heyne 1999/2001).

6) Eine Beschreibung von Erdsee

Die sachorientierte Sektion des Buches liefert wichtige Informationen, die für viele Geschichten wichtig sind, um sie ganz verstehen zu können. Die wichtigsten Themen in Kürze: 1) Völker, Drachen und Sprachen; Schrift, Literatur und Historik; die Geschichte des Archipels und des Kargadreiches; Magie (Rok; Keuschheit).

Bei der Magie (magic) ist es interessant, dass sie von gewöhnlicher ‚Zauberei‘ (sorcery) ebenso unterschieden wie von noch schlechter angesehener (ausschließlich von Frauen praktizierter) Hexenkunst (witchcraft). Das Zölibat für Magier wird auf Rok gelehrt, wo nur Männer Magie ausüben dürfen; Hexen hingegen heiraten, wen sie wollen, meist Zauberer. Bemerkenswert: Die ersten Magier wie Morred oder Medra (s.o.) waren verheiratet.

Man sieht also: Zauberei ist sowohl wandelbar und verbreitet als auch eminent politisch geprägt. Schließlich gibt es in der Inneren Erdsee weder Religion noch Kirche; Priester und Kulte gibt es lediglich in Kargad. Daher haben Magier etc. eine hohe Machtstellung inne. Alles, was mit ihnen passiert, ist von Bedeutung für die übrige Bevölkerung.

Unterm Strich

Von Action und Abenteuer wird der Conan-Fan hier nichts finden. Hingegen darf sich der Freund psychologisch motivierter Geschichten und genau gezeichneter Charaktere an einer Vielfalt unterschiedlicher Ereignisse und Figuren erfreuen.

Wie schon angedeutet, ist Le Guin durchaus eine Freundin der Gleichberechtigung der Frau. Alle ihre Frauenfiguren zeugen von tiefem Verständnis und eigener Anschauung. Gleichzeitig versteht sie auch das Wesen verschiedener Männertypen, auch von Jungen. Sie weiß, warum ein Mann nach Macht strebt und dadurch Frevel begehen kann (Beispiel: Otak). Merkwürdig ist aber, dass Frauen dies nie passiert; sie streben nach Verstehen und Erkenntnis. Bessere Kenntnisse können allenfalls zu verbesserter Hilfsfähigkeit führen. Das bedeutet noch nicht, dass man das eigene Kind menschlicher behandelt, so etwa die arme Schattenrose.

Unterm Strich bieten die Novellen lesenswerte Weiterführungen und Ergänzungen zu den Erdsee-Romanen. Die lange „Beschreibung“, immerhin 42 Seiten, ist die erste und daher umso wertvollere Gesamtdarstellung wichtiger Aspekte des Erdsee-Universums. Zwei schöne Karten ergänzen das Buch. Die Titelillustration hat zwar sehr wenig mit den geschichten zu tun, zeigt aber den Gegensatz von Meeresgewalt und wilder Inselküste auf fast beispielhafte Weise. Das Motiv scheint eher aus der Legende über den „Untergang von Atlantis“ entnommen zu sein (was ja durch den Disney-Film über Atlantis schon wieder recht aktuell ist).

Taschenbuch: 384 Seiten
Originaltitel: Tales from Earthsea, 2001
Aus dem Englischen von Barbara Kleiner
ISBN-13: 9783492285414

www.piper.de

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