Das Buch – und zugleich der erste Roman „Rocannons Welt“ – beginnt mit einer wunderschönen Geschichte, einer Kombination aus „Science-Fiction im eigentlichen Sinne samt ihren traditionellen Requisiten […] und einem von poetischer Nostalgie durchdrungenen Kunstmärchen, einer Fantasy mit ihren Mythen und Legenden, in ihrem sagenhaften Raum […] und ihrer ebenso sagenhaften Zeit“: Die junge, schöne Semley von Hallan sucht in dieser Geschichte ein wertvolles Geschmeide, welches ihrem Geschlecht einst verloren ging. Dazu muss sie vom Planeten Fomalhaut, auf dem ihre Rasse ein mittelalterliches Leben voller Kämpfe und Schwierigkeiten führt, zu dem acht Lichtjahre entfernten New South Georgia fliegen, wo die Kostbarkeit in einem Museum ausgestellt wird.
Semley nimmt die Reise, für sie voll unverständlicher Wunder und Schrecken, auf sich, weil sie die Armut ihres einst reichen und mächtigen Hauses grämt. Sie möchte wieder die Erste unter den Frauen sein. Ihr Vorhaben gelingt, doch bezahlt sie den Erfolg teuer: Als sie – scheinbar nach nur einer einzigen Nacht – nach Hause zurückkehrt, sind 16 Jahre verstrichen. Ihr Gemahl Durhal ist schon lange tot, ihre Tochter Haldre zu einer jungen Frau herangewachsen, die ihre Mutter nicht erkennt… Dieses Ereignis bringt den Ethnographen Rocannon dazu, bei der Liga der Welten ein Kontaktverbot für Fomalhaut II zu beantragen. Erst über 45 Jahre später – 321 der Liga – wird eine neue Expedition dorthin durchgeführt; Leiter ist abermals Rocannon (die Relativität der Zeit beim lichtschnellen Reisen macht es möglich). Er findet freundliche Aufnahme bei Semleys Enkel Mogien. Zu seinem und der Liga Glück, denn eine Rebellion gefährdet die Gemeinschaft. Rocannons Expedition auf Fomalhaut II wird bis auf ihn selbst vernichtet, darunter der Ansible, der Kommunikation durch den Raum in Nullzeit möglich macht. Um die Liga zu warnen, muss Rocannon den gefährlichsten Weg gehen: zu den Schiffen des Gegners, zu deren Ansibles. Nur wenige Gefährten begleiten ihn, darunter Mogien, der treue, kampfstarke Freund. Nicht alle erreichen das Ziel; und manche finden, was sie nie gesucht haben …
Im zweiten Buch des Zyklus, „Das zehnte Jahr“, führt Le Guin uns zur Sonne Gamma Draconis III, Zeit: 1405 der Liga. Der Titel meint ein Planetenjahr, das 60 irdische Jahre dauert; vor sechshundert Jahren also landete eine Gruppe Terraner, um diese Welt zu besiedeln und mit ihren Bewohnern in Austausch zu treten – man brauchte Ressourcen und Verbündete für den Kampf gegen einen Feind, der die Liga bedrohte. Wenig später aber erreichte dieser Feind die Erde, und ein Teil der Kolonisten kehrte heim, um im Kampf zu helfen. Da sich an Bord des Schiffes auch der Ansible befand, waren die Zurückbleibenden von der Liga abgeschnitten – und blieben es. 600 Jahre später ist von dem ehrgeizigen Kolonie-Projekt nur eine einzige Stadt geblieben, deren Einwohnerzahl stetig sinkt, denn den Menschen gelang es nicht, sich mit den relativ zivilisierten Völkern der südlichen Region zu vermischen. Aber auch diese sind bedroht, denn die Gaal, nomadisierende Stämme aus dem Norden, haben sich auf ihrem alljährlichen Zug nach Süden zum ersten Mal zu einer ungeheuren Streitmacht vereint. Im zehnten Jahr entscheidet sich also nicht nur das Schicksal der kleinen Kolonie – doch alles hängt davon ab, ob beide Seiten ihr Misstrauen überwinden und zusammenarbeiten können.
Der dritte Roman, „Stadt der Illusionen“, spielt um 2140 der Liga auf der Erde. Eines Tages findet eine autark und isoliert lebende Familie einen seltsamen Mann – er ist, wiewohl einem Terraner sehr ähnlich, eindeutig nicht „von dieser Welt“, und sein Geist ist leer. Obgleich die Familienmitglieder fürchten, er könnte ein Werkzeug der Shing sein, nehmen sie den Hilflosen zu sich, geben ihm den Namen „Falk“ und lehren ihn, was ein Mensch wissen und können muss. Wieder überwinden Menschen ihre Furcht vor dem Fremden und wenden sich ihm zu – in allen drei Büchern eines der tragenden Motive. Der Einsatz ist freilich riskant, denn die Shing, Eroberer der Erde (die Feinde aus „Das zehnte Jahr“), wehren ab, was ihre Herrschaft gefährden könnte. So lange sich die Menschen nicht in größeren Gemeinschaften organisieren, keine Städte bauen und keine großen Projekte beginnen, so lange es nur dünne Verbindungen zwischen voneinander weit entfernten Familien gibt, greifen sie nicht ein; aber sie beobachten genau, und wer weiß, wie sie Falks Existenz beurteilen? Trotzdem macht der sich eines Tages auf nach Es Toch, der einzigen Stadt auf Erden, der Stadt der Shing, der Stadt der Illusionen, wo alles eine Lüge sein kann und darum nichts wirklich Wahrheit ist. Falks Plan, in Es Toch Gewissheit über seine Herkunft zu erlangen, grenzt somit fast an Wahnsinn. Aber statt in der vertrauten Umgebung zu bleiben, zu heiraten, Kinder großzuziehen und in Frieden alt zu werden, wählt er den schwereren Weg …
Die drei frühen Romane des „Hainish“-Zyklus entstanden 1966/67 rasch hintereinander. Ursula Le Guins erste SF-Werke (die „großen“ folgten Jahre später) weisen auf eine Autorin hin, die noch dabei ist, sich zu entdecken, und schon Originäres leistet. Auffällig ist die starke Orientierung an fantasytypischen Strukturen und Motiven: das Mittelalter mit Schwertern und Flugrossen in „Rocannons Welt“, der Kampf gegen die Barbareninvasion mit keiner moderneren Waffe als einer Armbrust in „Das zehnte Jahr“, die Questen der Helden in „Stadt der Illusionen“ und abermals „Rocannons Welt“. Die Schlüsselszene des gesamten Zyklus – Rocannons Begegnung mit dem „weisen Alten“ in der Höhle auf dem Berg – erinnert ebenfalls stark an das Schwestergenre. Andererseits synthetisiert die Autorin diese Elemente stets mit SF-Typischem; insofern ist die einleitende Geschichte Programm.
Formal verbinden die Trilogie zwei zentrale Ding- bzw. Situationsmotive: zum einen der Ansible, zum anderen die Fähigkeit zur Gedankensprache; thematisch wären zu nennen: die Überwindung der Furcht vor dem Anderen und die Idee einer interstellaren Liga, welche in den späteren Romanen treffender Ökumene genannt wird. Und ebenso eigen ist allen drei Büchern der unbedingte Glaube an den Menschen, an den Sieg menschlicher Vernunft und Humanität. Das alles versteht Le Guin nicht moralisierend, sondern spannend in Szene zu setzen. Sie entfaltet vor unseren Augen ein mitreißendes Geschehen, aus dessen Gang man nur ungern „aussteigt“. Das Prinzip linearen, exkursarmen Erzählens wird erst in den späteren Werken zum Teil relativiert, ebenso die Konzentration auf nur eine Zentralfigur (am stärksten weicht vom ersten Muster „Planet der Habenichtse“ ab, vom zweiten „Die linke Hand der Dunkelheit“ bzw. „Die Gräber von Atuan“). Noch kaum etwas ist zu bemerken vom „sanften Feminismus“ der Autorin; höchstens von einer weiblichen Mit-Hauptfigur – Rolery in „Das zehnte Jahr“ – kann die Rede sein; die beiden anderen Frauen im Vordergrund – Semley und Estrel – verhalten sich wenig vorbildlich. Die Gesellschaftsstrukturen erweisen sich zumeist als patriarchalisch; erst in „Das ferne Ufer“, dem zweiten Band der Ged-Trilogie, hebt LeGuin dies wenigstens teilweise auf, um dann in den großen Werken „Planet der Habenichtse“ und „Die linke Hand der Dunkelheit“ die Frage völlig neu zur Diskussion zu stellen und neu zu gestalten; und erst „Tehanu“, der vierte „Erdsee“-Band, sowie „Die Erzähler“, letzter Band des Hainish-Zyklus, haben weibliche Hauptfiguren (wobei der interessanteste und literarisch überzeugendste Angriff auf alte Denkmuster „Die linke Hand der Dunkelheit“ bleibt).
Alles in allem: Die drei frühen „Hainish“-Romane weisen nur erst hin auf die künftige große SF&F-Autorin Ursula Le Guin; diese Hinweise aber sind auch nach 35 Jahren noch von einer so erstaunlichen Frische und Spannkraft, dass viele „moderne“ SF-Werke davor verblassen.
Taschenbuch
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Peter Schünemann
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