Jules Verne – Reise zum Mittelpunkt der Erde

Das Manuskript eines kühnen Forschers weist dem Hamburger Geologen Otto Lidenbrock, seinem Neffen Axel und dem Isländer Hans den Weg zum Mittelpunkt der Erde. Er beginnt im Krater eines erloschenen Vulkans auf Island und führt steil hinab in eine bizarre, keineswegs tote, sondern von durchaus gefährlichen Kreaturen bewohnte Unterwelt, die unseren Reisenden stets neue, aufregende Abenteuer beschert – Nostalgischer Klassiker der Phantastik von einem der Urväter des Genres; nach mehr als einem Jahrhundert frisch und faszinierend: Lesefutter für alle Fans verlorener Welten.

Das geschieht:

Dem besessenen Gelehrten, Geologen und Professor Otto Lidenbrock aus der alten Hansestadt Hamburg spielt das Schicksal ein bisher unbekanntes Manuskript des großen Weltreisenden Arne Saknussemm in die Hände. Darin behauptet dieser, im 16. Jahrhundert einen Weg zum Mittelpunkt der Erde entdeckt und auch begangen zu haben. Das ist freilich unbekannt geblieben.

Lidenbrock, dessen Name in der wissenschaftlichen Welt einen guten Klang hat, ist keineswegs gefeit gegen die Verlockung, Saknussemm zu folgen und unsterblichen Forscherruhm zu erlangen. Seine Neugier ist ohnehin stets präsent. Deshalb beschließt er, nach Island zu reisen. Dort nämlich soll im Krater des (hoffentlich) erloschenen Vulkans Sneffels der Eingang zur Unterwelt zu finden sein.

Der Professor wird begleitet von seinem eher unwilligen, weil vorsichtigen und der Gemütlichkeit zugetanen Neffen Axel, einem Waisen, der in seinem Haus lebt und sich unverhofft als Lidenbrocks Assistent verpflichtet sieht. Auf Island stößt als Reisegefährte der bärenstarke und unerschütterliche Hans Bjelke zu ihnen. Auf Saknussemms Spuren geht es hinab in die Tiefe. Dunkelheit und grässliche Abgründe halten das Trio nicht auf. Sie verirren sich, verdursten beinahe, stoßen aber unbeirrbar weiter vor, bis sie an die Gestade eines Ozeans tief unter der Oberfläche der Erde gelangen.

Mit einem Floß geht die Odyssee weiter. Sie führt in ein unterirdisches Reich, das von der Zeit vergessen wurde. Seine Bewohner sind ebenso faszinierend wie ungemütlich, und für unsere Reisenden reiht sich ein bizarres Abenteuer an das nächste …

Eine klassisch ‚unmögliche‘ Reise

Es ist ein ebenso einfacher wie genialer Einfall: Man lässt eine kleine Gruppe charakterlich unterschiedlicher Menschen in eine fremde Welt reisen und wartet ab, was dabei geschieht. Die Geschichte entwickelt sich quasi von selbst; der Weg ist das Ziel. Hält dabei ein Schriftsteller wie Jules Verne die Fäden in der Hand, darf sich der Leser sicher sein, einfallsreich unterhalten zu werden. „Reise zum Mittelpunkt“ der Erde weist eine für Jules Verne recht ‚schnelle‘ Handlung. Diverse naturwissenschaftliche Grundkurse kann sich der Verfasser nicht verkneifen, aber das liegt einerseits im Thema begründet, während andererseits die in späteren Werken oft überbordenden geografischen, biologischen, ethologischen, historischen etc. Beschreibungen der Geschichte verpflichtet bleiben.

Aus heutiger Sicht ließe sich die Anreise zum Sneffels sicherlich raffen. Die Lesegewohnheiten haben sich geändert. Im 19. Jahrhundert hatten Leser Zeit; es gab kein Fernsehen, kein Internet. Deshalb durften Geschichten ruhig lang sein und es ruhig angehen lassen. „Reise …“ ist mit knapp 400 Seiten (einschließlich Illustrationen) für einen Verne-Roman nicht einmal sehr umfassend geworden. Die zweite Hälfte, die endlich unter der Erde spielt, wünscht man sich sogar heute noch ausführlicher.

Denn diese Expedition besitzt eine Eigenschaft, die sich im 21 Jahrhundert nur schwer nachschöpfen lässt: Sie wirkt authentisch. Nostalgische Reisen im Stil vergangener Zeiten haben in der unterhaltenden Literatur und vor allem im Film Konjunktur. Freilich ist es schwierig, die entsprechende Stimmung zu schaffen. Verne profitiert davon, ein Zeitgenosse Lidenbrocks & Co. zu sein. Talent und Glück ließen einen im positiven Sinne altmodischen Klassiker entstehen, der sicherlich auch unsere Nachfahren noch fesseln wird.

Figuren und Charaktere

Die Hauptfiguren dieser Geschichte, die uns ein Franzose erzählt, sind – Deutsche! Das mutet erstaunlich an und wäre nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 sicherlich unmöglich gewesen. Jules Verne selbst war Patriot aber kein Nationalist. Er schmuggelte zwar gern mindestens einen Franzosen in die Handlungen seiner Romane, ließ jedoch ansonsten Angehörige aller damals ‚zivilisierten‘ Nationen in außergewöhnliche Abenteuer ziehen. Dabei ließ er gern bekannte Klischees in seine Figuren einfließen, was man ihm aber nicht übel nimmt, weil er die eigenen Landsleute davon nicht ausschloss.

Professor Otto Lidenbrock ist für einen ‚typischen‘ Deutschen, einen aus dem Norden zumal, erstaunlich kregel geraten. Keine Spur von Gefühlsarmut oder Zurückhaltung, höchstens übertreibt er es mit der Liebe zur Wissenschaft ein wenig. Er ist polyglott und korrespondiert mit Gott und der Welt, legt aber andererseits die für seine Spezies angeblich typische Verschrobenheit an den Tag: Verne verehrte erkennbar den deutsch-französischen Universalgelehrten und Humanisten Alexander von Humboldt (1769-1859), Lidenbrocks Bruder im Geiste.

Neffe Axel passt da schon eher ins Bild. Obwohl noch jung an Jahren, hat er es lieber ruhig. Er ist häuslich, hat schon ein Auge auf seine Zukünftige geworfen und liebt es, ausgiebig zu speisen. An der großen Fahrt seines Onkels nimmt er eher widerwillig teil. Die Pflicht zur Dankbarkeit, die er, ein Waisenkind, Lidenbrock schuldet, lässt ihm indes keine Wahl. Das hält ihn jedoch nicht ab, als Ich-Erzähler allerlei Respektlosigkeiten und Klagen in seinen Bericht einzuflechten.

Wenn es jemanden gibt, den man als personifiziertes Klischee bezeichnen müsste, dann ist das wohl der starke Hans. Als „treue Isländer“ lassen sich nach Verne sowohl die Ponys als auch die menschlichen Bewohner der Insel bezeichnen. Hans ist allerdings kein zurückgebliebener ‚Wilder‘, sondern ein ruhiger, aber selbstbewusster Zeitgenosse mit einem schlichten Gemüt.

Wissen ist (die wahre) Macht

Jules Verne (1828-1805): Geschichtenerzähler mit der Gabe, Unterhaltung und Information so zu mischen, dass daraus Literaturklassiker entstanden, die seit anderthalb Jahrhunderten von der Kritik geschätzt und von den Lesern geliebt werden. Die Fantasie dieses Mannes ließ ihn zu einem der ‚Erfinder‘ der Science Fiction werden, was man indes nicht überbewerten sollte: Verne kannte dieses Genre nicht. Er wollte seinen Lesern – besonders den jungen Lesern – die große Welt mit Feder und Tinte erschließen. Auf seinen „Voyages extraordinaires“ – die zum Mittelpunkt der Erde ist übrigens deren dritter Band – basiert die Verehrung, die dieser Autor bis heute genießt, und repräsentieren den Verne der frühen Jahre, den Optimisten, der die Hymne auf den menschlichen Forschergeist sang. Mit Wissen lässt sich jedes Hindernis aus dem Weg räumen: Das ist sein Credo. (Es sollte sich im Alter ins Pessimistische verkehren.)

Damit ist Verne ein herausragender Vertreter des 19. Jahrhundert, einer Epoche der Reisen, des Entdeckens und des naturwissenschaftlichen Forschens. Über die ganze Welt schwärmten die Gelehrten aus und revolutionierten binnen weniger Jahrzehnte das Bild, das sich die Menschen von ihrem Planeten machten. Die Lösung aller Rätsel der Natur und damit die Überwindung der menschlichen Unzulänglichkeit schienen nahe. Die Welt zu kennen hieß sie zu ordnen, und mit der Ordnung mussten Frieden, Freiheit und Glück kommen.

Jenseits der bekannten Grenzen

Verne hat die Stätten seiner zahlreichen Reiseromane nie bereist, sondern sie sich und seinen Lesern am Schreibtisch erschlossen. Seine legendäre Kartei verzettelte das naturwissenschaftliche Wissen seiner Epoche, sauber geordnet nach Themen und auf dem neuesten Stand gehalten. Trotzdem lag er selten so falsch wie mit seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde. Das Risiko bei der Wahl dieses Schauplatzes war ihm durchaus bewusst. Verne referiert im Rahmen der Handlung ausgiebig die zeitgenössischen Theorien über das Innenleben unseres Planeten. Dass dieses glühend und flüssig sein könnte, hatten kluge Männer theoretisch und in Ansätzen praktisch nachgewiesen. Der letzte Beweis fehlte jedoch noch – für Verne eine Verlockung, eine hohle Welt mit möglichen Bewohnern zu kreieren, die ihm die legitime Grundlage für eine fabelhafte Geschichte bot.

Als redlichem Mann bereitete Verne das Wissen, sich auf trügerisches Eis gewagt zu haben, dennoch Kopfzerbrechen. Immer wieder kommt er auf den Widerspruch zurück, dass die Erde von außen nach innen heißer oder kälter werden könnte, und versucht gar den unmöglichen Ausgleich zwischen den Theorien. Er sichert sich schließlich ein Schlupfloch, indem er seine Reisenden den eigentlichen Mittelpunkt der Erde gar nicht erreichen lässt. Das enthebt ihn auch eines logistischen Problems, denn dieses Zentrum liegt so tief, dass drei Männer niemals Vorräte genug mitschleppen könnten, um es zu finden und auch noch zurückzukehren.

Der ewige Bestseller

„Voyage au centre de la terre“ erschien 1864 in Pierre-Jules Hetzels „Magasin d’Éducation et de Récréation“. Drei Jahre später folgte die Buchausgabe, für die der Künstler Georges Roux 53 eindrucksvolle Stiche anfertigte. Ab 1873 konnten sich auch die deutschen Leser an Lidenbrocks Reise erfreuen. Zeitweise von Moralaposteln und selbsternannten Schundjägern scheel betrachtet, blieb Jules Vernes Werk auch in Deutschland präsent. Zumindest die erfolgreichen „Voyages extraordinaires“ blieben stets lieferbar.

Die derzeit schönste Ausgabe der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ stellt die 2005 im 100. Todesjahr Vernes erschienene und von Volker Dehs neu übersetzte Ausgabe dar. Sie enthält sämtliche Illustrationen der französischen Originalausgabe und beinhaltet diverse interessante Anhänge, darunter ein Nachwort, Anmerkungen und eine Zeittafel. Herausgeber Dehs trug zudem unbekannte Dokumente und Materialien zur Entstehung des Romans zusammen. Darunter finden sich ein Briefwechsel und eine populärwissenschaftliche Abhandlung von Jules Vernes Sohn Michel.

Nachtrag: Die Reise als Film

„Reise zum Mittelpunkt der Erde“ wurde mehrfach verfilmt. Relevant und ansehnlich ist freilich nur die liebevoll nostalgische, knallbunte US-Version von 1959 („Journey to the Center of the Earth“; auf die ungekürzte Fassung – ca. 130 min. – achten!). Unter der Regie von Henry Levin spielt James Mason den schottischen Professor Oliver Lindenbrook. (Ein deutscher Held in einem amerikanischen Film: Das ging natürlich nicht!) Schnulzensänger Pat Boone gibt überraschend unterhaltsam den Studenten Alec McEwen (der den ebenfalls allzu deutschen Neffen Axel ersetzt), Peter Ronson mimt den blonden Hans, Thayer David einen schurkischen Nachfahren des Grafen Saknussem. Ganz neu in der Expedition: Arlene Dahl als Mrs. Carla Goetaborg (ein Hollywood-Film ohne „love interest“: undenkbar!) sowie für die jüngeren Zuschauer die ‚lustige‘ Ente Gertrud (die immerhin ein witziges Ende nimmt).

Nach vier weiteren und vergleichsweise kostengünstig gedrehten Filmen entstand 2008 unter der Regie von Eric Brevig „Journey to the Center of the Earth – 3D“ (dt. „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde – 3D“) eine aufwendige ‚Fortsetzung‘, die in der Gegenwart und nun sehr frei nach dem Roman von Verne die Abenteuer des Vulkanologen Trevor Anderson (Brendan Fraser) und seines Sohnes Sean – eine junge Frau ist auch wieder dabei – auf den Spuren Lidenbrocks in Szene setzt. Die Filmtricks des 21. Jahrhunderts sind deutlich überzeugender geraten als früher, der Charme blieb freilich auf der Strecke, und die 3D-Effekte gelten als misslungen.

Gebunden: 424 Seiten
Originaltitel: Voyage au centre de la terre (Paris : Pierre-Jules Hetzel 1864)
Übersetzung: Volker Dehs
http://www.patmos.de

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