Ein kleiner italienischer Junge entdeckt, dass sein Vater ein Kindesentführer ist. Der Gewissenskonflikt verursacht Michele schreckliche Albträume, und als er erfährt, dass man den Entführten töten will, fasst er einen verhängnisvollen Entschluss.
Der erfolgreiche Roman von Niccolò Ammaniti wurde mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet, dem Premio Viareggio. Das Buch erschien bei uns zuerst 2003 im Verlag C. Bertelsmann unter dem Titel „Die Herren des Hügels“.
Der Autor
Niccolò Ammaniti, Jahrgang 1966, ein römischer Biologe, konnte mich schon mit seiner überschäumenden Farce „Die letzte Nacht auf den Inseln“ für sich begeistern. Schon dort zeigt er, wie sich der Einzelne gegen absurde Widrigkeiten und die – häufig beiläufig und gedankenlos ausgeübte – Grausamkeit der Mitmenschen zur Wehr setzen muss. Oft befinden sich seine psychologisch ausgereift dargestellten Figuren in einer ausweglosen Situation.
Der Pessimismus, mit dem Ammaniti die Wirklichkeit menschlicher Beziehungen betrachtet, vermag durchaus zu beunruhigen. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum sein Roman „Ich habe keine Angst“ sich allein in Italien mehrere hunderttausendmal verkauft hat und in zwanzig Sprachen übersetzt wurde: Das Buch berüht ein brennendes Thema: der uralte Konflikt zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden sowie die (damit verbundene) Industrie des Kidnappings.
Handlung
Der neunjährige Michele wächst im bettelarmen Süden Italiens auf, genauer gesagt in dem bescheidenen Weiler Aqua Traverse. Der Name ist blanker Hohn, denn im Umkreis vieler Meilen gibt es kein offenes Gewässer. Auch im Sommer 1978 brennt die Sonne des Mezzogiorno gnadenlos auf das fast baumlose Land. Durch die goldenen Kornfelder bewegen sich nur die Kinder, sonst ist niemand zu sehen.
Michele ist eines Tages wieder einmal mit seinen Freunden unterwegs: Antonio, genannt „der Totenkopf“, ist der starke und brutale Anführer; Salvatore ist der gebildete Einzelgänger aus dem „Palazzo“, dem Anwesen des Advokaten; die dicke Barbara Mura ist stets die Letzte bei den Wettrennen. Doch heute hat sich Micheles kleine Schwester Maria den Knöchel verstaucht. So kommt es, dass nicht Barbara vom Totenkopf bestraft wird, sondern Michele. Er muss ein verfallenes Gemäuer, das unterhalb eines schattigen Hügels liegt, durchqueren und erzählen, was er an grausigen Dingen gefunden hat.
Auf diese Weise stößt er auf eine abgedeckte Grube, in der er ein elendes menschliches Wesen entdeckt, das er zunächst für tot hält. Doch der Gefangene, ein Altersgenosse Micheles, ist „nur“ fast besinnungslos vor Hunger, Durst, Angst und Schmerzen. Michele gibt ihm zu trinken, woraufhin er zu einem Engel erklärt wird. Er verspricht, dem Jungen zu helfen.
Er erzählt zu Hause niemandem davon, doch die Entdeckung lässt ihm keine Ruhe. In seine Träume schleichen sich zahlreiche Monstren wie etwa Werwölfe und Riesen. Diese Riesen, die so groß wie Berge sind, nennt Michele die „Herren der Hügel“. Und sie rufen ihn. Als er das nächste Mal zu dem Gefangenen geht, merkt er, dass jemand ihm zu essen gegeben hat. Außerdem steht der Milchkrug seiner Mutter in der Nähe. Im Haus seines Vaters finden sich merkwürdige Besucher ein: der sadistische Felice Natale und ein gewisser Sergio, ein alter Verbrecher mit einer Pistole in seinem Koffer. Er habe seine beiden Söhne verloren, erzählt er Michele. Dem erscheint die Welt der Erwachsenen zunehmend von Gewalt und Tod beherrscht.
Er freundet sich mit dem Gefangenen an. Aus dem Fernsehen erfährt er, dass es sich um den Industriellensohn Filippo Carducci aus dem nördlichen Pavia (Lombardei) handelt, der vor zwei Monaten entführt wurde. Dessen Mutter wendet sich flehentlich an seine Entführer, die aber kein Mitgefühl kennen. Schlagartig erkennt Michele, dass sein eigener Vater an der Entführung beteiligt ist. Der Lügner und Entführer schenkt ihm ein Fahrrad, das nichts taugt, und phantasiert von einer Fahrt zum Meer, aus der nichts wird. Doch Michele wird auch von einem Freund verraten.
Allmählich bekommt Michele mit, dass etwas schrecklich schief gelaufen ist und die Erwachsenen den Gefangenen töten wollen. Da sein Vater stets den Kürzeren zu ziehen pflegt, dürfte er diesen Job ausführen. Kurzentschlossen schwingt sich Michele auf sein altes Rad, um Filippo in Sicherheit zu bringen. Ein verhängnisvoller Entschluss …
Mein Eindruck
Das Drama des verratenen Kindes
Durchgehend schildert der Autor das Geschehen aus dem Blickwinkel des jungen Michele. Der hat es bislang geschafft, mit den Launen und Eigenarten seiner Freunde zurechtzukommen, sieht sich nun aber den Lügen und Grausamkeiten der Erwachsenen ausgesetzt. Dass Menschen einen Jungen, der so klein und schutzlos ist wie Michele selbst, entführen und fast sterben lassen könnten, erfüllt ihn mit tiefem Entsetzen.
Dieses entlädt sich in den finster gewordenen Traumphantasien seines kindlichen Bewusstseins, das alle Phänomene mit mythologischen Mustern überzieht. So kommt es zur Entstehung der „Herren der Hügel“, die Furcht und Schrecken verbreitend als Riesen über das nackte Land schreiten und Michele, ihr nächstes Opfer, suchen. Auf seinen nächtlichen Radfahrten sind alle Felder von Wölfen und die Luft von Vampirfledermäusen erfüllt.
Als wäre es nicht schon genug, dass Michele sein Urvertrauen zu seinem Vater verloren hat, ereignet sich auch noch ein weiterer Verrat, der praktisch aus dem Nichts kommt. In seiner Seelennot hat sich Michele endlich seinem engsten Freund Salvatore anvertraut. Der ist der gebildete Sohn eines reichen römischen Advokaten und wohnt im „Palazzo“, einer von zwei Matronen beherrschten Villa. Für ein Kickfußballspiel erzählt Michele Salvatore das Geheimnis vom gefangenen Industriellensohn. Doch Salvatore verrät ihn an einen der Entführer, an den sadistischen Felice Natale. Der Judaslohn: nicht 30 Silberlinge, sondern eine kostenlose Fahrstunde im Wagen des Entführers. So ändern sich die Werte im Lauf der Zeit.
Im Lauf der Wochen, die ins Land gehen, entwickelt sich in Michele ein hart erkämpftes Gefühl für das, was Recht ist. Nicht jedem schenkt er mehr sein Vertrauen, sondern nur jenen, die dafür qualifiziert erscheinen. Und das sind allzu wenige. Filippo beispielsweise hält er für seinen eigenen, verschollen geglaubten Bruder. So kommt es, dass er schließlich ganz alleine versucht, Filippo aus dessen neuem Gefängnis zu befreit. Die Besinnung auf die Vorbilder aus seinen Comic- und Abenteuerbüchern hilft ihm, die richtige Taktik zu wählen, um den Gefahren zu trotzen. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass ihn sein eigener Vater nicht erkennen könnte …
Die Sprache
Der Grund, warum sich das Buch bei all seine Dramatik und Gefühlsbetontheit nicht als Schmonzette aus dem 19. Jahrhundert liest, ist die Sprache. Der auf das Knappste reduzierte Erzählstil Ammanitis vermeidet Adjektive, wo es nur geht. Vielmehr setzt er dafür anschauliche Bilder ein, die dem Geist Micheles entsprungen sein könnten.
Es gibt nur wenige Autoren, die so schmucklos, dicht und doch anrührend erzählen können. Jim Crace gehört dazu, Jeannette Winterson, wohl auch Håkan Nesser. An der Grenze zum Barock befindet sich hingegen Clive Barker. An dessen Geschichte von den zwei wandernden Städten im ersten [„Buch des Blutes“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=538 musste ich denken, als ich auf die Metapher von den „Herren der Hügel“ stieß. Schlagartig ist der Mezzogiorno in eine düstere Seelenlandschaft verwandelt, in dem Furcht und Schrecken die junge Generation heimsuchen – ähnlich wie in Van Goghs Bild mit den „Krähen über dem Felde“.
Diese knappe Sprache erlaubt es dem Autor auch, gewisse Unwahrscheinlichkeiten im Handlungsverlauf oder in der Psychologie zu umschiffen. Warum vertraut sich Michele nicht seiner weiterhin geliebten Mutter an? Warum spricht er nicht mit der dicken Barbara Mura? Wohl auch deshalb, weil seine Mutter seinem Vater Rechenschaft schuldig ist. Und sie ist eine Mitwisserin der Entführer. Barbara hingegen ist hilflos den Launen des „Totenkopfes“ ausgesetzt. Aus offensichtlichen Gründen kann Michele ihr nicht sein Geheimnis anvertrauen. Es wäre binnen kurzem keines mehr.
Aktualität
Wie bereits erwähnt, ist das Buch seit 2001 in Italien ein Bestseller. Die Entführungsthematik brennt den Italienern auf den Nägeln, insbesondere im Mezzogiorno, also dort, wo mafiose Strukturen häufig immer noch das Leben der Menschen bestimmen. Ein Leben am Existenzminimum, das im Buch für das Jahr 1978 entworfen wird, bringt aber offenbar seine eigenen Werte hervor: So gilt hier etwa noch das alttestamentarische Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – es wird noch in Coppolas Film „Der Pate II“ von Vito Corleone praktiziert.
Der Schluss des Romans hingegen macht deutlich, dass ein Leben, dessen Werte selbst das Leben eines unschuldigen Jungen, Filippos, nicht verschont, nichts wert ist. Und eine Generation, die ihre Kinder nicht verschont, hat keine Zukunft. Da sie ihre eigenen Werte – Kinderliebe, Vererbung, la famiglia – verrät, kann sie auch keine Zukunft sichern, geschweige denn rechtfertigen. Das Einzige, was eine Generation von Verbrechern weitergibt, ist das Verbrechen, sonst nichts. Bis zur Selbstzerstörung. Und wenn sich neuerdings die Regierungsspitze über das Gesetz stellen lässt, sind dem Verbrechen wieder Tür und Tor geöffnet.
Unterm Strich
„Ich habe keine Angst“/“Die Herren des Hügels“ ist ein ungemein lesbarer und spannender Roman aus einem Italien, das zunächst archaisch wie die Antike anmutet und in weiter Ferne zu liegen scheint. Doch Fernsehen und Zeitungen, sogar Polizeihubschrauber gibt es auch hier. Die Verhältnisse, sie haben sich kaum geändert in 25 Jahren. Deshalb ist das Anliegen, das Ammaniti mit seiner scheinbar so einfach erzählten Geschichte vorbringt, weiterhin aktuell. Ganz abgesehen davon ist es ein ungemein fesselndes Buch. Vielleicht nicht so raffiniert erzählt wie Nessers „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“, aber mindestens genauso anrührend.
Taschenbuch: 252 Seiten
Originaltitel: Io non ho paura, 2001
Aus dem Italienischen übersetzt von Ulrich Hartmann
ISBN-13: 978-3442457182
www.randomhouse.de/Verlag/Goldmann