Galaktisches Bewusstsein, here we come!
Bis vor einer Minute war Dan Gurlick nur ein Individuum der Spezies Homo sapiens, und noch dazu ein unterdurchschnittliches. Doch jetzt hat dieser feige, würtende, kaum des Lesens und Schreibens fähige Trunkenbold eine Spore in sich aufgenommen, die Lichtjahre weit gereist war, bevor sie unseren Planeten traf. Diese Spore hat ihrerseits Gurlick in sich aufgenommen und ihn in den Wirt für Medusa verwandelt. Medusa ist ein Schwarmbewusstsein und so immens groß, dass es die Lebensformen einer Milliarde Planeten in drei Galaxien umfasst. Und diese Schwarmintelligenz hat es nun darauf abgesehen, auch die Erde in sich aufzunehmen. (Verlagsinfo) Ob das so eine gute Idee ist, muss sich erst noch herausstellen.
Diese Besprechung beruht auf der englischsprachigen Originalausgabe.
Der Autor
Theodore Sturgeon (1918-1985), geboren in New York als Edward Hamilton Waldo, war einer der wichtigsten Story-Autoren der amerikanischen Science Fiction nach dem 2. Weltkrieg. (Er begann zwar schon 1939 zu veröffentlichen, doch die meisten Stories schrieb er in den 15 Jahren nach 1946.) Aber auch seine Romane wie „More than human“ (1953) wurden preisgekrönt. Sogar ein wichtiger Science Fiction-Preis ist nach ihm benannt. Sturgeon schrieb noch bis Anfang der siebziger Jahre preisgekrönte Erzählungen. Er ist deshalb so wichtig, weil er sich für fremde, bislang unbekannte, manchmal auch nur als neuartig wahrgenommene Formen des Miteinanders von Wesen interessierte – von Menschen und Aliens. Zu diesen Formen gehören Telepathie und Bewusstseinsverschmelzung bzw. Schwarmbewusstsein.
Eines seiner Hauptmotive war die Weiterentwicklung des Menschen: Telepathen, Gestaltwandler, Telekineten und andere „strange people“ bevölkern seine Geschichten. Natürlich müssen sie sich, wie alle sogenannten „freaks“ mit den Vorurteilen, ja, den Feindseligkeiten der „Normalen“ auseinandersetzen. Aus dieser Entfremdung führt der Weg zu einem transzendenten Aufgehen in einer höherwertigen Gemeinschaft dieser PSI-Begabten. So geschieht es in „More than human“, in dem drei Begabte eine gemeinsame Gestalt-Persönlichkeit bilden, aber auch in „The Dreaming Jewels“, das 1950 erschien.
Zu seinen bekanntesten, wenigen Romanen gehören „Killdozer“ (1944, verfilmt), „More than human“ (1953, dt. als „Baby ist drei“ bei Heyne) und „Venus plus X“. „To Marry Medusa“ ist meines Wissens unter dem Titel „Das Milliardengehirn“ bei Goldmann auf Deutsch erschienen (siehe die Rezension bei Buchwurm.info). Hier geht es um ein außerirdisches Schwarmbewusstsein, das auf die Erde trifft.
Handlung
Das Schwarmwesen – nennen wir es der Einfachheit halber „Medusa“ nach dem Meerespolypen, der aufsaugt und verdaut – hat bereits zweieinhalb Galaxien in sich integriert, bevor es auf die Erde und ihre menschlichen Bewohner trifft. Mittlerweile ist Medusa nicht mehr fähig, sich etwas anderes als ein Schwarmbewusstsein wie ihr eigenes vorzustellen. Es trifft sie wie ein Schock, als sie erfährt, dass die Menschen alle getrennt voneinander lebende Bewusstseine besitzen. Sie kann sich das nur als aufgespaltene Gehirne erklären. Folglich ist sie nicht in der Lage, den Planeten als Ganzes zu übernehmen, sondern nur ein einzelnes Bewusstsein.
Der Wirt
Diese zweifelhafte Ehre widerfährt so ziemlich dem unwürdigsten Menschen, den man sich vorstellen kann: Gurlick, dem Penner aus der Gosse, dem Suffkopp, der in einem ausrangierten Laster haust und dort eine Medusa-Spore in sich aufnimmt. Seine Sprech- und Ausdrucksweise ist meilenweit von der eines gebildeten Menschen der 1950er Jahre – jener Zeit, als der Roman entstand – entfernt. Dies sorgt für ironische Distanz. Doch wir müssen Gurlick akzeptieren, wie er nun mal ist und wird, als Medusa sich in ihm breit macht. Sie verspricht, ihm alles zu geben, was er sich wünscht, damit er mit ihr kooperiert. Wir sollten ihm ebenso viel Mitgefühl zollen wie dem halben Dutzend anderer menschlicher Schicksale, die von dem Wandel, den das Auftauchen der Medusa-Zivilisation auf der Erde zeitigt, betroffen sind.
Der Medusa-Effekt
Als die Medusa mit Gurlicks Hilfe Apparate baut, um die Erdlinge zu „verbinden“ und sie mit ihrem Bewusstsein zu übernehmen, geschieht etwas Unerwartetes: Alle Menschen, überall auf der Welt, entwickeln das Bewusstsein eines Schwarms. Und so kommt es schließlich zur Hochzeit mit der Medusa und ihrer endgültigen Niederlage. Diese bedeutet aber auch die Ausbreitung des menschlichen (Super?-) Bewusstsein über alle integrierten Welten in zweieinhalb Galaxien…
Mein Eindruck
Schwarmbewusstsein ist bereits mehrmals in der Science Fiction thematisiert worden, wohl am gelungensten von Frank Herbert in seinem Roman „Hellströms Brut“. Dort existiert das „Bewusstsein“ nicht auf Gedanken und deren Übertragung, sondern, wie bei Insektenvölkern, auf Duftstoffen. Doch wo Herbert die Folgen der Aufnahme in eine Kultur, die vom Schwarm bestimmt wird, extrem kritisch betrachtet, so findet Sturgeon diese Art der Alien-Invasion einfach wunderbar und überhaupt nicht negativ. Eine Operation ohne Risiken und Nebenwirkungen, sozusagen. In seinem Roman „Baby ist drei“ (1953) hat er es für eine kleine Sippe vorexerziert. Nun ist die ganze Menschheit an der Reihe für dieses Experiment in Sharing, also Teilhabe.
Das mag zunächst naiv erscheinen, wenn man länger darüber nachdenkt, aber es ist wunderschön zu lesen, wenn Menschen, die einsam , ängstlich und depressiv sind, auf einmal eine Zugehörigkeit erleben, die sie auf emotionaler wie seelischer Ebene heilt. Und wer weiß? Vielleicht lassen sich auf dieser Grundlage eines weltumspannenden Zugehörigkeit künftig Kriege verhindern. Viele Nutzer des Internets und seiner sozailen Netzwerke haben sich zu Communities zusammengeschlossen und formen selbst laufend neue Gruppen, Chats und Foren. Ihr Ziel ist der Austausch und die Teilhabe an etwas Größeren, das von der Gruppe poduziert wird. Es ist ein simuliertes Schwarmbewusstsein, und diesmal kann der Schwarm so groß wie die Erdbevölkerung sein. Doch was wäre, wenn die Menschheit vor der Aufgabe stünde, zweieinhalb Galaxien anzuführen? Könnte sie ihre inneren Differenzen beiseitelegen, um anderen Spezies ein Vorbild zu sein?
Es gibt nur einen Haken: Ein Gruppenbewusstsein könnte eine mächtige und vitale Kraft sein, doch wenn wir alle das gleiche Bewusstsein haben, welchen Stellenwert hätte dann das einzelne Individuum darin?
Hinweis
Der Roman „The Cosmic Rape“ (1958) basiert auf der Novelle „To Marry Medusa“, die ebenfalls 1958 in der August-Ausgabe des Magazins „Galaxy Science Fiction“ erschien. Sturgeon baute sie quasi zeitgleich zum Roman aus, der später neu aufgelegt den Titel der Novelle ‚übernahm‘ und seither gern mit dieser verwechselt wird. (Quelle: Michael Drewniok)
ISBN 0375703721
Taschenbuch: 154 Seiten
Originaltitel: To Marry Medusa, 1958 (zuerst als „The Cosmic Rape“);
ISBN-13: 9780375703720
https://www.penguinrandomhouse.com/books/175022/to-marry-medusa-by-theodore-sturgeon/
Der Autor vergibt: