Thomas Ligotti / Horacio Quiroga – HR Giger’s Vampirric 1 – Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts

HR Gigers Zusammenstellung von Vampirkurzgeschichten, die 2003 unter dem Titel „HR Giger’s Vampirric“ in Buchform bei Festa erschienen ist, ist nun auch in vier einzeln erhältlichen Hörbüchern bei LPL records auf den Markt gekommen. Eine Auswahl von insgesamt sechs Erzählungen (also eine Art „Best-of“ der Anthologie) soll beim Hörer für gepflegten Grusel sorgen – der Slogan des Verlags lautet schließlich nicht umsonst „Gänsehaut für die Ohren“. Zwei dieser Kurzgeschichten finden sich auf dieser ersten CD: „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ (amerik. „The Lost Art of Twilight“, 1989) von Thomas Ligotti und „Das Federkissen“ (dem Band „Cuentos de Amour, de Locura y de Muerte“ von 1917 entnommen) von Horacio Quiroga. Eingeleitet werden beide Geschichten jeweils von einem kurzen Vorwort des „Meisters“ Giger selbst.

In Ligottis Erzählung geht es um den jungen André, der zunächst mit einem bekannten Problem zu kämpfen hat: Seine Verwandtschaft hat ihren Besuch angekündigt. Doch über das normale Grauen hinaus, das eine solche Ankündigung mit sich bringt, hat André noch weitere Gründe, seiner Verwandtschaft lieber fern zu bleiben. Denn, so glaubt er, sie ist für den frühen Tod seiner Mutter verantwortlich. Diese war mit ihrem Mann von Frankreich nach Amerika ausgewandert, kehrte jedoch in die Provence zurück, nachdem ihr Mann an einem Herzinfarkt gestorben war. Allerdings erhielt sie gleichzeitig mit der Todesbotschaft auch die Nachricht, dass sie von ihm schwanger sei. Zurück in Frankreich, tut sie sich bald mit seltsamen Fremden zusammen und ihre Schwangerschaft scheint sich immer weiter zu beschleunigen. Die Situation eskaliert derartig, dass Andrés Mutter von ihrer Familie und deren Priester gepfählt wird. Das ungeborene Kind – André – kann von der Kammerfrau gerettet und ins Ausland geschafft werden, doch unterscheidet sich der Junge auffällig von normalen Kindern. Richtige Nahrung nimmt er nie zu sich, doch auch Blut genießt er nur in Ausnahmesituationen. Stattdessen ernährt er sich von Energien, die er hauptsächlich aus der Malerei zieht. Die französischen Verwandten, die sich nun überraschend angekündigt haben, wollen überprüfen, inwiefern André „normal“ ist – das glaubt er zumindest selbst. Doch als die Familie dann eintrifft, stellt sich schnell heraus, dass Normalität das Letzte ist, was auf sie zuträfe.

Thomas Ligotti (geboren 1953), der einer der wichtigsten lebenden amerikanischen Autoren der Phantastik ist, arbeitet hier mit einem sehr subtilen Grauen, das insgesamt eher einem Altmeister wie Poe gleicht und ganz ohne Blut oder sonstigen Splatter auskommt. Der Titel der Geschichte bezieht sich auf die besondere Beziehung, die ihr Protagonist und Ich-Erzähler mit dem abendlichen Zwielicht verbindet. Und diese Atmosphäre eines verwunschenen Dazwischen, eines magischen Übergangs beherrscht die gesamte Erzählung und taucht das Geschehen in ein flirrendes, überirdisches Licht. Ligottis geschliffene Prosa ist insofern faszinierend, als sie die bekannte Prämisse der Phantastik umkehrt: Bei ihm fällt nicht das Unwirkliche in die Wirklichkeit ein, sondern die Wirklichkeit selbst ist unwirklich. André agiert in einem Vakuum – man erfährt kaum etwas über seine Umgebung, seine gesellschaftliche Stellung, gar sein Alter. Und gerade diese Losgelösheit von einer fest verankerten wirklichen Welt macht „Die verlorene Kunst des Zwielichts“ zu einer so alptraumhaften und beschwörenden Geschichte.

Von einem ganz anderen Kaliber ist die zweite Kurzgeschichte, „Das Federkissen“, die eher eine auf Effekt ausgelegte Skizze denn eine wahre Erzählung ist und in der Quiroga ein verliebtes Paar in den Flitterwochen zeigt. Diese friedliche Grundstimmung wird jäh zerstört, als Alicia plötzlich von einer Grippe heimgesucht wird, die sie ans Bett fesselt. Doch je länger sie das Bett hütet, desto fragiler wird ihr Zustand. Sowohl ihr Ehemann als auch der herbeigerufene Arzt sind ratlos. Der Hausarzt kann zwar eine rasch fortschreitende Anämie festellen, jedoch nicht deren Grund. So siecht die junge Frau dahin und erst nach ihrem Tod kommt ans Licht, was sie in den vergangenen Tagen heimgesucht hat.

Der aus Uruguay stammende Autor Horacio Quiroga (1878-1913) verfasste über 200 Kurzgeschichten, von denen „Das Federkissen“ eine der bekanntesten ist. Wie HR Giger in seiner Einführung zu Quirogas Kurzgeschichte betont, ist das Faszinierende am „Federkissen“ das Extrem, in das man die Figur des Vampirs treiben kann. Der Blutsauger ist hier nicht der Salonlöwe und Frauenheld, wie er im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, sondern gleicht eher seinem tierischen Namensvetter und tritt als kleiner, aber wenig putziger Gremlin in Erscheinung. Die überraschende Pointe der kurzen Geschichte wird in jedem Fall dazu führen, dass man beim nächsten Aufschütteln des Bettes sicherlich besondere Vorsicht walten lässt. Mehr soll nicht verraten sein …

Gelesen werden beide Geschichten von Lutz Riedel, der unter anderem als deutsche Stimme von Timothy Dalton bekannt ist. Er wirkte bereits auf der |LPL|-Produktion „Der Schatten über Innsmouth“ mit und gehört generell zu den bevorzugten Hörbuchsprechern. „Mit einem treffsicheren Gespür meistert er die Texte souverän und zieht den Zuhörer mit seiner markanten Stimme leicht in seinen Bann. Geradezu hypnotisch wirkt seine Lesung des Ligotti-Textes, wohingegen seine Interpretation der Geschichte von Quiroga eher auf Mysterium und Überraschung setzt.

Die Auswahl, die HR Giger für die „Vampirric“-Reihe getroffen hat, ist durchaus verführerisch. Die Geschichten auf den vier CDs stammen hauptsächlich aus dem 20. Jahrhundert und kommen von Autoren, die nicht in jeder Anthologie zu finden sind (Ausnahme in beiden Fällen ist Guy de Maupassant, dessen Erzählung sich auf der vierten CD findet). Damit sind Neuentdeckungen und angenehme Überraschungen für Vampirfans vorprogrammiert: Eine Hörbuch-Reihe, die in keinem Schrank fehlen sollte!

Alle vier Hörbücher im Überblick:

HR Giger’s Vampirric 1:
Thomas Ligotti „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ und
Horacio Quiroga „Das Federkissen“

HR Giger’s Vampirric 2:
Leonard Stein „Der Vampyr“ und
Amelia Reynolds Long „Der Untote“

HR Giger’s Vampirric 3:
Karl Hans Strobl „Das Grabmahl auf dem Père Lachaise“

HR Giger’s Vampirric 4:
Guy de Maupassant „Der Horla“

Audio-CD