Marlen Haushofer – Wir töten Stella (Lesung)

Familienhölle: eine tödliche Maschine

Die Novelle „Wir töten Stella“ ist die eiskalte Bestandsaufnahme einer gescheiterten Beziehung. Aus ängstlicher Bequemlichkeit und dem vergeblichen Wunsch, dem 15-jährigen Sohn eine perfekte Familie vorzugaukeln, nimmt eine Ehefrau und Mutter die Affären ihres Mannes duldend hin. Sie schreitet auch nicht ein, als Richard die 19-jährige Titelfigur verführt. Diese nimmt sich schließlich aus Verzweiflung das Leben, obwohl es dabei wie ein Verkehrsunfall aussieht. Wer hat hier wen getötet? Die Ehefrau klagt sich als Komplizin ihres Mannes an …

Die Autorin

Marlen (eigentlich Marie Helene) Haushofer wurde am 11. April 1920 in Frauenstein, Oberösterreich, als Tochter eines Revierförsters geboren. Sie studierte 1940 Germanistik in Wien und Graz und lebte später mit ihrem Mann, einem Zahnarzt, und zwei Kindern in Steyr. Sie starb am 21. März 1970 in Wien. Sie schrieb neben ihrer Tätigkeit als Hausfrau und Sprechstundenhilfe hauptsächlich Romane, Novellen, Erzählungen sowie Kinder- und Jugendbücher. Sie wurde von österreichischen Schriftstellern gefördert.

Obwohl sie unter anderem 1968 mit dem Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet worden war, hatten ihre Bücher erst nach ihrem Tod großen Erfolg, als die Frauenbewegung sie für sich entdeckte. Aufgrund der Thematik ihrer Bücher wird sie in der Tradition August Strindbergs gesehen und mit Simone de Beauvoir in Verbindung gebracht.

Die Sprecherin

Elisabeth Schwarz spielte u. a. in Stuttgart, Frankfurt/M. und München Theater. Von 1985 bis 2001 war sie Ensemble-Mitglied des Hamburger Thalia-Theaters. In Film- und TV-Rollen war sie u. a. in „Aus einem deutschen Leben“ und im „Tatort“ zu sehen. (Verlagsinfo) Das Hörbuch bietet die ungekürzte Lesung.

Handlung

Die Ich-Erzählerin Anna legt Rechenschaft über ihr Verbrechen ab. Es ist eine Beichte ohne Aussicht auf Absolution. Während sie schreibt, beobachtet sie immer wieder die grüne Fülle des Gartens und den Todeskampf eines jungen Vogels. Ihr Verhalten ist symptomatisch: Sie rührt keinen Finger, um dem todgeweihten Tier zu helfen. Durch das Schreiben hofft sie, zu ihrem früheren Leben zurückkehren zu können. Eine Illusion, wie sich herausstellt. –

Sie erinnert sich an jenen Tag, als die 19 Jahre junge Stella, die Tochter ihrer alten Schulfreundin Luise, bei ihnen einzog: eine vor Gesundheit strotzende Jungfrau, die, aus dem Internat kommend, auf die Handelsschule geht und abends Italienisch-Kurse besucht. Luise hatte gesagt, es sei nur für die Zeit des Handelskurses, also zehn Monate. Anna hätte diese „junge, dumme Person“ gleich wegschicken sollen. Denn Annas Familie ist alles andere als ein Paradies.

Anna hat zwei Kinder. Wolfgang, 15, ist ihr ganzer Stolz, ihm gehört ihre ganze Liebe. Er ist das Einzige, was ihr auf der Welt etwas bedeutet. Mit ihm übersetzt sie sogar Homers „Ilias“, wobei seine bevorzugte Figur die Seherin Kassandra ist, der keiner ihre Voraussagen glaubt … Seine Schwester Annette ist hingegen der Liebling ihres Papas, der ihr keinen Wunsch abzuschlagen vermag.

Dann ist da Richard, das Familienoberhaupt, ein Anwalt, dessen Körper, wie Anna anerkennt, sowohl Lust zu verschaffen versteht als auch Lust verlangt. Und da Anna dafür nicht auszureichen scheint, sucht er sich laufend andere Frauen, und allzu häufig riecht sie ein fremdes Parfüm an seinem Hemdkragen oder bemerkt sogar Spuren von Lippenstift. Anna ist ihm und seinen Launen völlig ausgeliefert, denn er erpresst sie mit gut versteckten Drohungen gegen ihren Liebling Wolfgang. Sie weiß nicht, was er ihrem Sohn antun könnte, aber allein schon die Vorstellung lässt sie kuschen. Wolfgang selbst betrachtet seinen Vater kritisch und hasst ihn wahrscheinlich. Anna lebt hinter einer Glaswand, hinter der Richard sie nicht erreichen kann. Aber andere außer Wolfgang auch nicht.

Der Anfang vom Ende

Die Katastrophe beginnt, als Anna feststellt, dass Stellas Garderobe eine stilistische Verbesserung gebrauchen könnte. In ihrem neuen Outfit erregt die Internatsschülerin die Aufmerksamkeit von Richard, der nicht lange zögert, sie zu einem vergnüglichen Abend einzuladen. Die „Kinoabende“ und die Partys mit Geschäftskollegen verändern Stella und es ist klar wie Kloßbrühe, dass sie sich in Richard bis über beide Ohren verliebt hat. Das arme Ding.

Denn Richard ist nicht nur ein Mann, der nach dem Lustprinzip lebt, sondern auch ein Spieler, der stets einen neuen Kick braucht. Die brave Internatsschülerin Stella kann ihm keinerlei raffinierte Zerstreuungen bietet, und so lässt er sie fallen. Sie ist zunächst konsterniert und weint einen ganzen Tag lang in ihrem Zimmer. Sie kann aber nicht von ihm lassen. Nach einer heftigen Zurecht- oder vielmehr: Zurückweisung durch Richard weiß sie keinen Ausweg mehr. Sie geht auf die nächste Straße und lässt sich überfahren. Es ist ein gelber LKW.

Mein Eindruck

Natürlich sieht der Selbstmord aus wie ein „normaler“ Unfall. Kein Grund also, sich Vorwürfe zu machen, sollte man meinen. Wessen Verbrechen bezichtigt sich also Anna? Das Verbrechen, das sie nie beim Namen nennt, wird im Bürgerlichen Gesetzbuch (oder seinem österreichischen Gegenstück) als „Unterlassene Hilfeleistung“ bezeichnet und ist eine ziemlich ernste Angelegenheit. Wer Hilfeleistung verweigert, lädt genauso viel Schuld auf sich, als hätte er den Tod des Geschädigten selbst verursacht.

Entsprechend hoch sind auch die Strafen, die das BGB dafür vorsieht. Es kann übrigens jeden von uns in jeder Minute erwischen: Man braucht nur eine Unfallstelle zu passieren und keinen Finger zu rühren, um schuldig zu werden. Manche ziehen die Fahrerflucht vor, aber das erleichtert keineswegs ihr Gewissen, im Gegenteil. Und genauso geht es Anna. Aber wie konnte es so weit kommen?

Anna hat das Unheil kommen sehen, das aus der Beziehung zwischen Stella und Richard erwuchs. Sie hat nichts gegen die Affäre noch gegen den tatsächlich vollzogenen Seitensprung unternommen. Die Macht, die Richard über sie hat, ist dafür viel zu groß. Eine Andeutung über Wolfgang genügt, jeden Protest im Keim zu ersticken, und schon zieht sich Anna hinter ihre Glaswand zurück. Sie ist Richards Privatbesitz und weiß es. Das Wissen verhindert das Handeln, ja, selbst das Gespräch. Ein Abgrund aus unterdrückten Gefühlen trennt Anna von der verzweifelten Stella, die sich nur zu gerne an Annas Schulter ausweinen und ihr das unglückliche Herz ausschütten würde. Anna beharrt auf dem status quo, der kälter ist als der neunte Kreis von Dantes Hölle.

Doch es gibt ein Verbrechen, einen Täter, ein Opfer – und einen Richter. Ausgerechnet Wolfgang wendet sich nun gegen seine Mutter, genau an dem Punkt also, wo sie am verwundbarsten ist. Er bittet darum, ins Internat gehen zu dürfen, weg von Anna, weg von Richard. Als ob er im Internat, aus dem ja Stella kam, sowohl Vergessen als auch Sühne erhoffen könne. Ihm steht die Rolle der Kassandra ebenso gut wie Stella, der „Göttin der Unglücks“. Erst als Wolfgang das Haus verlassen hat, kann Anna um ihn weinen.

Dann beginnt sie zu schreiben. Doch der junge Vogel stirbt unterdessen. Ihr letzter Blick gilt der jungen unschuldigen Annette, die am Arm des Mörders Richard geht. Gut oder böse? Es gibt keinen Unterschied, erkennt Anna. Und keine Erlösung.

Die Sprecherin

Elisabeth Schwarz verfügt über eine angenehme, reife Stimme, die sie eindrucksvoll zu modulieren versteht. Kein Wunder, denn sie ist ja bereits seit Jahrzehnten Schauspielerin. Aber das sind andere Sprecherinnen auch, und doch ist damit noch nicht gesagt, ob man ihnen auch gerne zuhört. Bei Schwarz ist das jedoch der Fall.

Sie liest Annas Beichte mit einer harten Stimme, die nicht vor dem Grauen, von dem der Text berichtet, zurückschreckt. Anna geht ehrlich mit sich ins Gericht, und das hält keine angenehmen Wahrheiten bereit. Lediglich Episoden, die die aktuelle Schreibsituation ausmachen, könnten einen milderen Eindruck erwecken. Der Tod des Vogels lässt sie aber umso trauriger wirken.

Unterm Strich

In einfachen Worten, in scheinbar schlichter Sprache gelingt Marlen Haushofer das gleiche Wunder wie schon in ihrem Meistwerk [„Die Wand“.]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=1012 Sie stellt messerschafe Beobachtungen an, die unter die Haut gehen. In der Figur der Anna entlarvt sie deren Lebenslüge, die zu einer prekären Balance der Macht in einer Familie führt, die alles, das Konflikte verursacht, begraben hat und weiterhin begräbt. Der Störfaktor Stella ist schon bald wieder eliminiert und das Leben könnte im Grunde immer so weitergehen. Aber Anna, so ihre Eigenanklage, ist zur Komplizin ihres Mannes geworden – das ist für ihren Sohn sonnenklar. Er zieht die Konsequenzen.

Was mich wirklich beeindruckt, ist nicht nur die kunstvolle spiralförmige Erzählstruktur der Novelle, die sich ständig selbst reflektiert, sondern auch die unerschrockene Ehrlichkeit, die die Autorin, die ja selbst verheiratet war, an den Tag legt. Sie schildert eine Welt, in der es so etwas wie „Unschuld“ – das Nichtwissen um den Unterschied zwischen Gut und Böse – nur als exotische Ausnahme geben kann, z. B. in Gestalt der Annette.

Und wenn ein Erwachsener erkennt, dass es zwischen Gut und Böse keinen Unterschied gibt, dann ist das nicht Unschuld, sondern die Hölle. Denn dann kann es auch keinen Unterschied zwischen Opfer und Täter geben, weder Schuld noch Sühne. Die Konsequenz daraus wäre eigentlich die gesellschaftliche Implosion. Denn eine Erlösung aus dem Teufelskreis kann es nur von außen geben. Doch dort ist nichts mehr: Es tritt kein Pfarrer auf, kein Richter (Richard ist Anwalt), kein Guru oder dergleichen. Alle Autoritäten haben abgedankt.

Die Novelle muss spätestens in den sechziger Jahren geschrieben worden sein, denn die Autorin starb Anfang 1970. Ihre Abrechnung mit der Institution „Familie“ hat aber immer noch Gültigkeit und ist es wert, sich damit auseinanderzusetzen.

Elisabeth Schwarz arbeitet in ihrem ausgezeichneten Vortrag die Zusammenhänge klar und ohne Zögern oder Übertreiben heraus. Sie kontrastiert die aktuelle, schreibende Anna mit der früheren, dienenden und ständig von ihrem Mann betrogenen Anna, die wiederum ihr 14-jähriges Ich nicht mehr wiedererkennt. Etwas ist geschehen, das in Anna bewirkt hat, dass sie sich unglaublich vor dem Tod fürchtet. Hat es mit ihrer weit zurückliegenden Begegnung mit Richard (sie sind 20 Jahre verheiratet) zu tun, oder schließlich doch erst mit Stellas Tod? Was es genau war, erfahren wir leider nicht. Und das ist der einzige Fehler, den man der ansonsten makellosen Novelle vorwerfen kann.

2 CDs
Spieldauer: 112 Minuten
Sprecherin: Elisabeth Schwarz
ISBN-13: 978-3899032260
www.hoerbuch-hamburg.de