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Ian McEwan – Saturday

Etwa zeitgleich mit der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe von Ian McEwans zehntem Roman „Saturday“ wurde selbiger auch schon von der Realität eingeholt. „Es könnte zu Vergeltungsanschlägen auf London kommen,“ mutmaßt Henry Perowne, Hauptfigur in „Saturday“, während im Monat der Veröffentlichung dieser Zeilen der Terror die britische Hauptstadt heimsucht. Einen prophetischen Charakter muss man deswegen aber weder Autor noch Buch andichten, denn dass der Tag kommen würde, war abzusehen und wohl eher eine Frage der Zeit. Dennoch trägt es zur Magie von McEwans vielgepriesenem neuen Roman bei, dass er Gedanken und Befürchtungen manifestiert, während sie gleichzeitig Realität werden. So verbinden sich Roman- und Zeitgeschehen auf beklemmende Art und Weise.

„Saturday“ ist das, was auch der Titel schon aussagt. Ein Buch über einen Samstag. Der Samstag, der letzte Tag vor dem Feiertag der Woche, ist eine Art Bindeglied, ein Übergang von der Arbeitswoche zum Sonntag. Zugleich schon Wochenende, aber immer noch ein Werktag. Weder ein richtiger Arbeitstag noch ein richtiger freier Tag.

Handlung

McEwan schildert das Leben des Henry Perowne anhand eines einzigen Samstags. Es geht nicht um irgendeinen Samstag, sondern um den 15. Februar 2003. Nicht nur für Perowne ein besonderer Tag, weil er zum ersten Mal seit langem am Abend wieder seine gesamte Familie um sich haben wird, sondern auch für London ist der 15. Februar ein besonderer Samstag. Hunderttausende Demonstranten wälzen sich durch die Stadt, um gegen eine bevorstehenden Invasion im Irak zu protestieren.

Perowne betrifft das jedoch eher weniger. Er will morgens mit einem Kollegen Squash spielen, Fisch für das familiäre Festessen am Abend einkaufen, den Pflichtbesuch bei seiner demenzkranken Mutter hinter sich bringen und das Essen für seine Familie vorbereiten. Henry Perowne ist ein durchaus bodenständiger und glücklicher Mann. Seine Arbeit als Neurochirurg macht im Freude, seine Ehe verläuft glücklich, das Liebesleben durchaus noch erfüllend, er bewohnt ein hübsches, luxuriöses Haus am Fitzroy Square im Herzen von London und auf seine beiden erwachsenen Kinder kann er stolz sein. Daisy studiert in Paris und ist kurz davor, ihren ersten Gedichtband zu veröffentlichen, Theo steht als Gitarrist einer Bluesband eine vielversprechende Karriere bevor.

Dennoch stellt dieser spezielle Samstag sein Glück und seine heile Welt auf die Probe. Als Henry früh morgens am Fenster steht, sieht er zufällig ein brennendes Flugzeug am Nachthimmel vorbeifliegen und befürchtet genau das, was nach dem 11. September vermutlich jeder bei diesem Anblick befürchten würde. Doch die Nachrichten wenig später vermögen Perownes Befürchtungen zu zerstreuen. Alles halb so wild. Bei einer Frachtmaschine ist ein Triebwerk in Brand geraten. Niemand wurde verletzt, niemand wurde getötet. Dennoch denkt Perowne im Laufe des Tages noch oft an dieses Ereignis zurück und schon wenige Stunden später hält dieser spezielle Samstag ein weiteres Ereignis bereit, das Henry Perownes heile Welt ins Wanken bringt.

Als Perowne versucht, den Demonstrationszug in der Londoner Innenstadt mit seinem Mercedes S 500 weiträumig zu umfahren, streift er versehentlich den Außenspiegel des roten BMW des Kleinganoven Baxter. Baxter und seine zwei Kumpanen steigen aus dem Auto und schon nach kurzer Zeit droht die Situation zu eskalieren …

Mein Eindruck

Wie schon so oft in seinen Romanen, beschreibt McEwan Figuren, deren Leben durch ein plötzliches, unerwartetes Ereignis aus den Fugen gerät. Er konfrontiert seine Protagonisten mit einer völlig neuen Situation und demonstriert eindrucksvoll anhand seiner Charakterstudien, wie selbige darauf reagieren. Er beschreibt Figuren in einem Übergang, so wie auch der Samstag einen Übergang markiert. Henry Perowne wirkt wie ein Mann, den so schnell nichts erschüttern kann – gefestigt in Job und Gesellschaft, gut situiert und charakterfest. Und doch lässt sich auch so ein Leben erschüttern: durch ein vorbeifliegendes brennendes Flugzeug und einen demolierten Seitenspiegel.

Perowne wirkt auf seine Art zunächst unnahbar. Der Erfolgstyp, der in seinem eleganten Mercedes durch die Stadt braust. Doch McEwan blickt auch hinter die Fassade. Er entblättert, wenn auch nur ein bisschen, das Innenleben seiner Hauptfigur, die ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht durch die Handlung taumelt.

Anhand des Henry Perowne zeigt McEwan recht deutlich die Verwundbarkeit des Menschen und der westlichen Gesellschaft ganz allgemein. Für den Leser kann die Familie Perowne auf zweierlei Ebenen eine Projektionsfläche sein. Einerseits für die kleinste gesellschaftliche Einheit – die Familie – zum anderen für die Gesamtheit der westlichen Gesellschaft. Jedes der Familienmitglieder der Perownes kann für sich allein gesehen werden oder als Symbol für eines der Standbeine der westlichen Kultur. Henry Perowne, der brillante Neurochirurg, steht für die Fortschrittlichkeit von Wissenschaft und Medizin, seine Frau Rosalind, die als Anwältin arbeitet, steht für Gesetz und Rechtssystem, die Kinder Theo und Daisy repräsentieren die kulturellen Errungenschaften – Musik und Literatur. So gesehen, liegt in den Figuren der Perownes eine gewisse Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit.

Doch nicht nur als Symbol, auch als Familie an sich sind sie ein wichtiger Bestandteil der Geschichte. Man mag ihnen vorwerfen, sie wären zu perfekt. Jeder ist etwas Besonderes, jeder ist auf seinem speziellen Gebiet ein Ass, keiner ist bloß Durchschnitt. Als Identifikationsfiguren können sie daher nur bedingt fungieren. Es bleibt stets eine gewisse Distanz, auch wenn McEwan sein ganzes literarisches Gewicht in die Figurenskizzierung legt. Dennoch können die Beschreibungen des Familienalltags überzeugen. Ein wenig fühlt man sich an [„Die Korrekturen“ 1233 von Jonathan Franzen erinnert, dessen brillante Familienskizzierung ähnlich packend ist.

Mit der Figur des Kleinganoven Baxter erschafft McEwan einen sehr krassen Gegenpol. Baxter ist all das, was die Perownes nicht sind, und entsprechend hart fällt der Zusammenprall dieser beiden unterschiedlichen Welten aus. Baxter, dem im Roman eine Schlüsselrolle zukommt, ist unausgeglichen, ungebildet, einsam und nicht zuletzt unheilbar krank. Ein radikaler Kontrast, der für die Handlung einigen Sprengstoff bereithält. So entwickelt sich der Roman in seinem letzten Drittel schon fast wie ein Thriller und lässt den Spannungsbogen weiter ansteigen.

Das Aufeinandertreffen dieser Gegensätze, dieser Figurenkonstellation ist aber der einzige Moment, in dem McEwan auf spannungssteigernde Elemente setzt. Ansonsten lebt der Roman größtenteils von McEwans ausgefeilten Schilderungen. Perownes Arbeit im OP wird genauso detailbesessen beschrieben wie das Squashspiel zwischen Perowne und seinem Kollegen. Egal, welche Teile von Perownes Leben McEwan schildert, es liest sich stets mehr oder weniger packend.

Der zeitliche Rahmen, der von dem im Hintergrund lauernden Angriff auf den Irak dominiert wird, bietet stetigen Stoff für politische Gedanken und Diskussionen. McEwan ist dabei bemüht, beide Seiten zu zeigen. Perowne selbst ist unentschlossen. Er sieht Saddam als beseitigenswertes Übel an, ist aber auch besorgt aufgrund der Folgen, die ein Krieg haben könnte. Seine Tochter Daisy ist entschieden gegen einen Krieg. Und so kommt es folgerichtig zu einer hitzigen Diskussion zwischen beiden – einer Diskussion, in der eigentlich beide Recht haben und McEwan keine wirkliche Lösung anbieten kann. So bleibt das Buch ein lesenswerter Denkanstoß, ohne dass McEwan sich für einen Standpunkt entscheidet.

Er spielt gedanklich das Szenario der ständigen Bedrohung durch den Terror durch. Damit trifft er vieles sehr markant auf den Punkt, z. B.: |“Die Warnung der Regierung vor einem Angriff auf eine europäische oder amerikanische Stadt ist nicht bloß der Versuch, die Verantwortung abzuwälzen, sondern zugleich eine berauschende Verheißung. Alle fürchten sich davor, doch kennt die kollektive Psyche diese dunklere Sehnsucht, das krankhafte Verlangen nach Selbstbestrafung und eine blasphemische Neugier. So wie Krankenhäuser Katastrophenpläne haben, stehen die Fernsehsender bei Fuß, und ihr Publikum wartet. Noch größer, noch schrecklicher das nächste Mal. Bitte, lass es nicht dazu kommen. Aber wenn doch, lass es mich sehen, noch während es passiert, aus jedem Blickwinkel, und lass mich unter den ersten sein, die davon erfahren.“| (S. 244)

Auch auf kultureller Ebene gibt es stetige Diskussionen zwischen den Protagonisten. McEwan nutzt die künstlerischen Berufe der beiden Perowne-Kinder als Kulisse für Diskussionen zu Musik und Literatur – jeweils geschildert aus der Sicht des laut Daisy „unrettbaren Materialisten“ Henry. Perowne geht von einer „grundlegenden, aber verzeihlichen Unehrlichkeit der Kunst“ aus, während seine Kinder stetig versuchen, ihm das Gegenteil zu beweisen. So bietet „Saturday“ Raum für Gedanken, die in vielerlei Richtungen weisen.

Unterm Strich

Faszinierend ist die Tatsache, dass das Buch trotz all der Tiefe und trotz der vielschichtigen Gedanken und medizinischen Fachsimpelei Perownes sehr schön zu lesen ist. McEwan hat einen sehr flüssigen und packend zu lesenden Stil, bei dem man wie von selbst weiterliest, mit einer stetig wachsenden Neugier darauf, was aus den Protagonisten wird. McEwan fesselt anhand von Figuren, Gedanken und Beschreibungen.

An einem einzigen Samstag schafft McEwan es, auf ein ganzes Leben und eine ganze Gesellschaft zu blicken – tiefgreifend, vielschichtig, fesselnd und nachdenklich stimmend. Und genau das macht „Saturday“ zu einem wirklich großartigen Buch.

Der Autor

Ian Russell McEwan, CBE, FRSA (* 21. Juni 1948 in Aldershot, England) ist ein britischer Schriftsteller.

Romane und Kurzgeschichten

1975: First Love, Last Rites; dt. Erste Liebe, letzte Riten, übersetzt von Harry Rowohlt, Diogenes, Zürich 1982, ISBN 3-257-01602-6.
1978: The Cement Garden; dt. Der Zementgarten, übersetzt von Christian Enzensberger, Diogenes, Zürich 1982, ISBN 3-257-20648-8.
1978: In Between the Sheets; dt. Zwischen den Laken, übersetzt von Michael Walter, Wulf Teichmann und Christian Enzensberger, Diogenes, Zürich 1983, ISBN 3-257-01631-X.
1981: The Comfort of Strangers; dt. Der Trost von Fremden, übersetzt von Michael Walter, Diogenes, Zürich 1983, ISBN 3-257-01652-2.
1985: Rose Blanche.
1987: The Child in Time; dt. Ein Kind zur Zeit, übersetzt von Otto Bayer, Diogenes, Zürich 1988, ISBN 3-257-01776-6.
1990: The Innocent; dt. Unschuldige. Eine Berliner Liebesgeschichte, übersetzt von Hans-Christian Oeser, Diogenes, Zürich 1990, ISBN 3-257-01858-4.
1992: Black Dogs; dt. Schwarze Hunde, übersetzt von Hans-Christian Oeser, Diogenes, Zürich 1994, ISBN 3-257-06007-6.
1994: The Daydreamer; dt. Der Tagträumer, übersetzt von Hans-Christian Oeser, Diogenes, Zürich 1995, ISBN 3-257-06071-8.
1997: Enduring Love; dt. Liebeswahn, übersetzt von Hans-Christian Oeser, Diogenes, Zürich 1998, ISBN 3-257-06183-8.
1998: Amsterdam; dt. Amsterdam, übersetzt von Hans-Christian Oeser, Diogenes, Zürich 2000, ISBN 3-257-06220-6.
2001: Atonement; dt. Abbitte, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2002, ISBN 3-257-23380-9.
2005: Saturday; dt. Saturday, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2005, ISBN 3-257-06494-2.
2007: On Chesil Beach; dt. Am Strand, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2007, ISBN 3-257-06607-4.
2010: Solar; dt. Solar, übersetzt von Werner Schmitz, Diogenes, Zürich 2010, ISBN 978-3-257-06765-1.
2012: Sweet Tooth; dt. Honig, übersetzt von Werner Schmitz, Diogenes, Zürich 2013, ISBN 978-3-257-06874-0.
2014: The Children Act; dt. Kindeswohl, übersetzt von Werner Schmitz, Diogenes, Zürich 2015, ISBN 978-3-257-06916-7.
2016: Nutshell; dt. Nussschale, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2016, ISBN 978-3-257-06982-2.
2016: My Purple Scented Novel; dt. Mein parfümierter Roman, übersetzt von Matthias Fienbork, Diogenes, Zürich 2018, ISBN 978-3-257-79116-7.
2019: Machines Like Me; dt. Maschinen wie ich, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2019, ISBN 978-3-257-07068-2.
2019: The Cockroach; dt. Die Kakerlake, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2019, ISBN 978-3-257-07132-0.
2022: Lessons; dt. Lektionen, übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes, Zürich 2022, ISBN 978-3-257-07213-6

Libretti

1983: Or Shall We Die?; dt. Oder müssen wir sterben?. Text für ein Oratorium von Michael Berkeley, Diogenes, Zürich 1984, ISBN 3-257-21212-7.
2008: For You: The Libretto For Michael Berkeley´s Opera; dt./engl. For You: Libretto für eine Oper von Michael Berkeley. Diogenes, Zürich 2009, ISBN 3-257-06684-8.

Theaterstücke

1981: The Imitation Game

Drehbücher

1976: Jack Flea’s Birthday Celebration
1985: The Ploughman’s Lunch
1989: Soursweet, nach einem Roman von Timothy Mo; dt. Chinese Blues.
1993: The Good Son; dt. Das zweite Gesicht.
2017: The Children Act; dt. Kindeswohl

Aufsatzsammlung

2020: Erkenntnis und Schönheit: über Wissenschaft, Literatur und Religion, aus dem Englischen von Bernhard Robben und Hainer Kober, Diogenes, Zürich 2020, ISBN 978-3-257-07126-9

Taschenbuch: 387 Seiten
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
ISBN-13: ‎978-3257064940

www.diogenes.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Karen Duve – Die entführte Prinzessin: Von Drachen, Liebe und anderen Ungeheuern

Ritter und Drachen begegnen einem heute noch am ehesten in den Werken von Fantasyautoren. Karen Duve muss man da sicherlich eher als Ausnahme betrachten, denn zum Fantasygenre mag man sie nach ihren ersten beiden Romanen „Regenroman“ und „Dies ist kein Liebeslied“ nun wirklich nicht zählen. „Die entführte Prinzessin“ mag da auf den ersten Blick nicht so recht in das Bild passen, das der geneigte Leser sich zwischenzeitlich von der Autorin gemacht hat, doch beweist Karen Duve mit ihrer neuesten Publikation, dass sie durchaus vielseitig ist. „Die entführte Prinzessin“ kommt als unterhaltsames, mitunter außerordentlich gewitzt geschriebenes Märchen daher, das beim Lesen wirklich Spaß macht. Und wann bekommt man heutzutage von zeitgenössischen Autoren noch mal Märchen vorgesetzt, Walter Moers vielleicht einmal außen vor gelassen?
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Karen Duve – Regenroman

Karen Duve meint es nicht gut mit ihren Protagonisten. Mitleidslos reibt die Autorin sie in einem verregneten, sumpfigen Setting und einem zermürbenden Plot auf. Dabei hätte man denken können, dass Frau Duve eine ganz Nette ist, nachdem man ihr Buch „Die entführte Prinzessin“ gelesen hat. Aber sie ist eben nicht die liebe, nette Märchenschreiberin von nebenan, für die man sie halten mag. Dafür eine Autorin, die mit jedem ihrer Romane erneut ihre Vielseitigkeit unter Beweis stellt und damit äußerst positiv aus der Masse der deutschen Pop-Literaten hervorsticht. Karen Duve ist eine Autorin, die einen eben noch überraschen kann und bei der man auf alles gefasst sein muss.

„Regenroman“ ist ihr Erstlingswerk, mit dem sie 1999 die literarische Bühne betrat. Ein Roman, der, da mag der Titel noch so depressionsgeschwängert und missmutig klingen, von Kritikern und Publikum gleichermaßen freudig aufgenommen wurde.

Handlung

Leon ist ein Hamburger Schriftsteller, der für einen Haufen Geld die Biographie der Kiezikone Benno Pfitzner schreiben soll. Vermittelt hat den Deal Leons bester Freund, der Kleinganove Harry. Um zum Schreiben die nötige, inspirierende Einsamkeit zu finden, zieht Leon zusammen mit seiner Frau Martina in ein marodes Häuschen am Rande eines ostdeutschen Moores. Wie er hofft, die perfekte Idylle.

Doch schon kurz nach dem Einzug haben Leon und Martina gegen die ersten Tücken des neuen Domizils zu kämpfen. Der unablässige Regen weicht nicht nur den Garten auf, sondern zunehmend auch die Substanz des Hauses. Blauäugig sind Leon und Martina gleich in das Haus eingezogen, ohne einen Schimmer von Renovierung und Sanierung zu haben. Die Tapeten schälen sich wegen der Feuchtigkeit von den Wänden, während sich im Garten eine Schneckenplage unvorstellbaren Ausmaßes anbahnt.

Und auch an Leon und Martina scheint der Regen nicht spurlos vorbeizuziehen. Gleichgütigkeit und Egoismus schleichen sich in ihre Ehe ein. Schon bald bewohnen sie ihr Häuschen am Moor zu dritt, als sie einen zugelaufenen Hund aufnehmen, der Leon schon bald seine Rolle als engster Vertrauter Martinas streitig zu machen beginnt. Verwunderung und Verwirrung stiften die beiden ungleichen Schwestern Kay und Isadora, Leons und Martinas neue Nachbarn. Doch auch das ist erst der Anfang.

Mit dem Auftauchen von Harry und einem tendenziell eher unzufriedenen Pfitzner, der seinem Biographen die Leviten lesen will, beginnt eine Reihe äußerst turbulenter und folgenreicher Ereignisse, die dafür sorgen, dass schon bald nichts mehr so ist, wie es mal war …

Mein Eindruck

„Regenroman“ ist ein Roman, der sich schwer einordnen lässt. Schon die Fahrt zur Hausbesichtigung in das verschlafene Nest Priesnitz in idyllischer Moorrandlage wird davon überschattet, dass Leon bei der Pinkelpause an einem abgelegenen Parkplatz eine im Fluss treibende Frauenleiche findet. Dieses Ereignis schwebt wie eine dunkle Gewitterwolke über dem Beginn der Geschichte. Eine düstere Vorahnung, die bereits erkennen lässt, dass der Handlungsverlauf nicht ganz so idyllisch und romantisch verlaufen mag, wie sich die Protagonisten anfangs noch erhoffen mögen.

Anfangs erscheinen die Probleme von Leon und Martina in ihrer neuen Heimat noch annehmbar. Ein Wackelkontakt hier, ein verstopfter Abfluss da, die Tücken des Renovierens und der Beginn eines Lebens ohne Telefon- und Fernsehanschluss. Für die ungestörte Idylle nimmt man so etwas in Kauf und als Leon dann auch mit den ersten Kapiteln der Pfitzner-Biographie gut vorankommt, scheint alles in bester Ordnung.

Doch das ist nur Fassade und die gerät ins Wanken, als Harry zusammen mit Pfitzner bei Leon vor der Tür steht. Ein erstes Eskalieren offenbart die wirklichen Probleme, die nicht nur Leons Auftrag betreffen, sondern auch am Seelenleben seiner Ehe zu kratzen beginnen.

Mit fortschreitender Seitenzahl beginnt Karen Duve die Protagonisten zu entblättern. Sie legt ihren Kern frei, stellt sie gnadenlos mit ihren Schwächen bloß und konfrontiert den Leser mit Figuren, die innerlich so kaputt und gleichgültig sind, dass man sich weder mit ihnen identifizieren, noch mit ihnen tauschen will. Leon ist ein ausgesprochener Feigling. Ein Unsympath, der andere durch seine verletzende, herablassende Art beleidigt und der egoistisch seinen eigenen Zielen entgegenstrebt, ohne sich um seine Mitmenschen zu kümmern. Auch Martina ist keine einfache Figur. Hinter ihrer hübschen Fassade verbirgt sich eine zerbrochene Persönlichkeit. Von den Eltern entfremdet, vom Ehemann vernachlässigt und an Bulimie leidend, fristet sie ein trostloses, aber schließlich selbst gewähltes Dasein – innerlich abgestumpft und leer.

Auch die übrigen Figuren laden nicht gerade dazu ein, sich mit ihnen zu identifizieren. Der Dorfkrämer, der sich heimlich die Fingernägel lackiert, ist kaum weniger sonderbar, als die beiden Schwestern Kay und Isadora es sind. Kay ist ein lesbisches Mannweib, das Leon und Martina mit ihrem handwerklichen Geschick bei der Hausrenovierung zur Seite steht. Isadora ist eine nimmersatte, fettleibige Nymphomanin, die es auf Leon abgesehen hat. Auch das ist eine spannungsversprechende Konstellation, die den weiteren Handlungsverlauf mitprägt.

Man mag Karen Duve vorwerfen, ihre Personen wären zu verrückt, zu klischeebeladen und zu weit weg von jeglicher Möglichkeit, sich mit ihnen zu identifizieren. Doch scheint diese Distanz zwischen Leser und Figuren bewusst gewählt zu sein. Duve liefert ihre Figuren gnadenlos ans Messer. Wie ein Voyeur beobachtet der Leser fasziniert und erschreckt zugleich den Niedergang der Protagonisten.

Duve baut ein knisterndes Spannungsverhältnis auf, das der Leser, von unheilvollen Vorahnungen geplagt, betrachtet. Sie inszeniert ein düsteres Kammerspiel, bei dem eine enge Bindung zwischen Leser und Protagonisten sicherlich eher hinderlich wäre. So geht einem der Roman vielleicht auch nicht so wahnsinnig nah, aber anders wäre dieser knallharte und brutale Umgang eines Autors mit seinen Figuren wohl auch kaum zu ertragen. Und zu ertragen haben die Figuren so einiges, was der Leser niemals selbst erleben möchte. Nicht einmal mit den Tieren möchte man tauschen: Der Hund wird von einem Bullterrier übel zugerichtet und die Schnecken werden in einem gnadenlosen Massaker dahingerafft.

Das Moor, an dessen Rand Leon und Martina wohnen, lässt sich mit Blick auf die Protagonisten durchaus sinnbildlich verstehen. So wie das Moor tückisch und gefährlich ist, so wie sich dort harmlose Pfützen als bodenlose Sumpflöcher entpuppen, in denen ein Mensch qualvoll vom Moor verschluckt zu werden droht, so offenbaren sich auch die Seelen der Protagonisten. Es tun sich Abgründe auf, die niemand für möglich gehalten hätte. Am wenigsten vermutlichen die Figuren selbst. Garniert mit einer Priese Sex & Crime, entwickelt sich so eine durchaus spannungsgeladene Geschichte.

Sprachlich serviert Karen Duve all das mit einer Lässigkeit und Leichtigkeit, die zu den Geschehnissen in gewissem Kontrast steht. Schlicht formuliert sie ihre Sätze, leichtfüßig erzählt sie von noch so düsteren Begebenheiten. Locker zu lesen zwar, aber was die Verdaulichkeit angeht, kann diese schlichte, leichte Sprache über den harten Brocken im ersten Moment ein wenig hinwegtäuschen, der „Regenroman“ in Wirklichkeit ist. Auf diese Art hat Karen Duve den Leser die ganze Zeit über fest in ihrer Hand. Das beweist sie auch am Ende, als sie dem Leser einen letzten Brocken vor die Füße wirft, der ihn verwirrt und unsicher zurücklässt. So ganz wird man nicht schlau daraus und hat auch später noch etwas zum Grübeln. Ein wenig bleibt „Regenroman“ eben auch rätselhaft und undurchdringlich – so wie die braune Suppe des Moores, die der unablässige Regen in Leons und Martinas Garten spült …

Unterm Strich

Lesenswert, hart, abgründig und faszinierend. Mit „Regenroman“ hat Karen Duve ein ausgesprochen lesenswertes Debüt vorgelegt. Bei ihrer Vielseitigkeit darf man gespannt darauf sein, was sie in den nächsten Jahren noch so alles abliefern wird.

Taschenbuch: 304
ISBN-13: 9783548606033

https://www.ullstein.de/verlage/list

Die Autorin vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Fitzek, Sebastian – Kind, Das

Nachdem Sebastian Fitzek seine ersten beiden Thriller „Die Therapie“ und [„Amokspiel“ 3503 gut unters Volk gebracht hat (in beiden Fällen sind die Filmrechte bereits verkauft), legt er nun mit „Das Kind“ sein drittes Werk vor.

Es geht wieder einmal um einen nervenaufreibenden Fall, in dessen Mittelpunkt diesmal der Berliner Strafverteidiger Robert Stern steht. Stern lebt sehr zurückgezogen, seitdem er vor zehn Jahren seinen Sohn durch den plötzlichen Kindstod verloren hat und seine Ehe daraufhin in die Brüche ging. Nur die Krankenschwester Carina konnte ihn zumindest kurzzeitig einmal aus seinem Schneckenhaus locken, als die beiden eine kurze Beziehung hatten. Und so folgt Stern Carinas seltsamer Bitte, sich mit dem zehnjährigen Tumorpatienten Simon auf einem verlassenen Industriegelände zu treffen.

Doch noch seltsamer ist, was der zerbrechliche Junge Stern bei diesem Treffen offenbart. Er behauptet, an diesem Ort einen Menschen ermordet zu haben – vor fünfzehn Jahren. Simon ist fest davon überzeugt, in seinem früheren Leben ein Mörder gewesen zu sein. Noch größer wird Sterns Verblüffung allerdings, als Simon ihn auf dem verlassenen Industriegelände zu den Überresten der Leiche von damals führt. Stern meldet den Fund der Polizei, und als Simon ihn wenig später auf weitere frühere Morde ansetzt und weitere Leichen auftauchen, gerät Stern schon bald ins Fadenkreuz der Ermittler.

Doch damit nicht genug. Ein Unbekannter spielt Stern eine Videoaufnahme zu, die zeigt, wie sein Sohn auf der Säuglingsstation des Krankenhauses stirbt, schürt aber gleichzeitig Zweifel daran, dass Sterns Sohn wirklich tot ist. Der Unbekannte gibt Stern fünf Tage Zeit, für ihn den Mörder von damals zu finden, dann verspricht er ihm Einzelheiten zu dem Rätsel um Sterns Sohn.

Für Stern und den kleinen Simon beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und sie geraten schon bald in einen Strudel an Ereignissen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Immer undurchsichtiger wird die ganze Geschichte, und am Ende ist nicht nur Sterns Leben in Gefahr …

Auch in seinem dritten Thriller setzt Sebastian Fitzek auf eine bewährte Rezeptur: Eine gebrochene Hauptfigur, ein psychologisch ausgeklügelter Plot, in dem nichts ist, wie es scheint, und ein stetiges Drehen an der Spannungsschraube, mit dem er den Leser auf die Folter spannt.

Robert Stern ist ein Protagonist, wie er für Fitzek absolut typisch ist. Ein gebrochener Mensch, der nach außen hin eine Fassade aufrechterhält, die nach innen schon längst in sich zusammengefallen ist. Stern verbirgt seine gebrochene Persönlichkeit hinter einem selbstsicheren Auftreten als Anwalt und teuren Designeranzügen. Privat offenbart sich jedoch, wie armselig sein Leben seit dem Tod seines Sohnes Felix aussieht. Er pflegt kaum Sozialkontakte und lässt niemanden an sich heran. Simon ist seit einer halben Ewigkeit der erste Mensch, der durch seinen Panzer bricht. Auch in seinen früheren Romanen hat Fitzek auf den Typus des gebrochenen Protagonisten gesetzt und lässt zumindest darin das Verfolgen eines Schemas erkennen.

Der Plot an sich kommt schnell in Fahrt. Fitzek verschwendet keine Worte, schubst den Leser mitten in die Handlung und entwickelt die Figurenskizzierung parallel dazu. Hinzu kommt eine unverkennbare Mystery-Komponente. „Das Kind“ beschäftigt sich mit dem Thema Wiedergeburt. Simon hält sich für die Reinkarnation eines Serienmörders, und Stern versucht zusammen mit Carina die Geschichte, die dahintersteckt, aufzuklären und Simon so auf seinem letzten Lebensabschnitt vor dem unvermeidlichen Tod zu beruhigen.

Auch Stern sieht sich selbst immer wieder mit der Frage um ein Leben nach dem Tod konfrontiert. Felix‘ Ableben vor zehn Jahren scheint plötzlich infrage gestellt, und das nimmt Stern nervlich sehr stark mit. Er bemüht sich um Rationalität, findet aber keine Erklärung für das, was er durch Simon erfährt, für die Videoaufnahmen, die der Unbekannte ihm zugespielt hat, und macht sich daher geradezu besessen daran, der Sache auf den Grund zu gehen. Auch der Leser lechzt nach einer Erklärung, die ihm hilft, die mysteriösen Ereignisse zu verstehen, und vor allem in diesem Punkt macht Fitzek seine Sache wirklich gut. Man fragt sich, wie er das Ganze überhaupt schlüssig erklären will, ohne Übersinnliches als fadenscheinige Erklärung zu bemühen, aber Fitzek findet einen Weg und löst den Plot so auf, dass es logisch und stimmig erscheint.

Einzig seine Auflösung der Rolle des großen Unbekannten, der im Laufe des Buches stets allmächtig erscheint und über jeden Schritt von Stern und Simon im Bilde zu sein scheint, wird nicht ganz so befriedigend aufgelöst. Es bleiben letzte Unstimmigkeiten und so hundertprozentig zufrieden ist man am Ende nicht unbedingt mit dem Täter, aber das ist im Grunde auch schon (abgesehen von dem Ende, in dem Fitzek ja offenbar unbedingt noch einmal unsinnigerweise zum Mystery-Faktor greifen musste) der einzige Makel.

Die Spannung hält Fitzek über die gesamt Handlung hinweg auf einem hohen Niveau. „Das Kind“ liest sich von Anfang bis Ende ausgesprochen spannend und man würde das Buch am liebsten in einem Rutsch durchlesen.

Bleibt unterm Strich also ein insgesamt durchaus positiver Eindruck zurück. Abgesehen von zwei wirklich nennenswerten Kritikpunkten, ist „Das Kind“ ein Thriller, der sich durchweg spannend liest, der größtenteils stimmig durchkomponiert und raffiniert aufgebaut ist. Fitzek versteht sich darauf, den Leser in die Irre zu führen, zu verwirren und damit die Spannung bis an den Rand des Erträglichen zu steigern. Wer Spannung liebt, der kommt hier voll auf seine Kosten, und nachdem mir persönlich „Amokspiel“ nicht ganz so gut gefiel wie zuvor noch „Die Therapie“, konnte Fitzek mich mit „Das Kind“ wieder mehr überzeugen.

http://www.droemer.de

Anna Gavalda – 35 Kilo Hoffnung

Mit „35 Kilo Hoffnung“ begibt sich die französische Bestsellerautorin Anna Gavalda auf für sie eher ungewohntes Terrain. Kennt man sie hierzulande vor allem wegen ihrer beiden Romane „Ich habe sie geliebt“ und „Zusammen ist man weniger allein“ sowie aufgrund des Erzählbandes „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“, so hat sie 2004 mit „35 Kilo Hoffnung“ ein nicht minder bemerkenswertes Kinderbuch vorgelegt, das der WDR als Hörspiel produziert hat.

Zweisprachig

Beachtenswert ist dieses 51-minütige Hörspiel schon deswegen, weil es zweisprachig produziert wurde. CD 1 enthält die deutschsprachige Fassung, CD 2 die französische. So bekommt die schöne und herzliche Geschichte um den dreizehnjährigen David eine zusätzliche praktische Seite. Man wird ganz nebenbei dazu ermuntert, seine Französischkenntnisse ein wenig aufzupolieren.

Handlung

„35 Kilo Hoffnung“ dreht sich um den Schulversager David. David hasst die Schule wie nichts anderes in seinem Leben. Von Anfang an war die Schule ihm eine Gräuel. Seine Leidenschaft gilt eher dem Basteln. Schon seine Vorschullehrerin bescheinigt ihm in seinem Zeugnis: „Dieser Junge hat ein Gedächtnis wie ein Sieb, Finger wie eine Fee und ein riesengroßes Herz.“ Damit trifft sie den Nagel auf den Kopf. David bastelt mit viel Geschick und Liebe, während er in der Schule auf ganzer Linie versagt – in den Sprachen, in den Naturwissenschaften und vor allem beim Sport.

Niemand nimmt die kindliche Bastelleidenschaft von David so recht ernst, mit Ausnahme seine Großvaters Léon. Zusammen verbringen die beiden viel Zeit im Werkzeugschuppen des Großvaters – für David die schönsten Momente seines Lebens. Opa Léon versteht David. In den gemeinsamen Bastelstunden kann David seine Schulsorgen für eine Weile vergessen. Doch die Probleme lassen sich nicht immer verdrängen. Als David mit dreizehn wieder einmal von der Schule fliegt und kaum eine andere Schule Interesse daran zeigt, den Versager aufzunehmen, wird die Lage ernst.

David kann sich keine Schule vorstellen, in der er sich wohlfühlen würde, außer vielleicht das technische Internat, dessen Broschüre David in die Finger bekommt. Aber das ist viel zu weit weg. Noch bedrückender wird die Lage, als Opa Léon plötzlich schwer krank wird. Wie soll es für David nur weitergehen?

Mein Eindruck

Mit ihren bisherigen Romanen hat Anna Gavalda bereits sehr viel Gespür für ihre Figuren und deren Gefühlswelt bewiesen. Diese Feinfühligkeit wird auch beim Hören von „35 Kilo Hoffnung“ sehr greifbar. Anna Gavalda beweist erneut, dass sie ein Händchen für ihre Figuren hat und ein nicht minder ausgeprägtes Talent, Geschichten auf so menschliche Art und Weise zu erzählen, dass einem warm ums Herz wird. Wie so oft bei Anna Gavalda, geht es um einen Menschen in einer Problemsituation. Im Falle des dreizehnjährigen David drückt der Schuh in Sachen Schule, und die Art, wie Anna Gavalda dies dem Leser/Hörer vermittelt, wirkt sehr überzeugend und plastisch.

Davids Probleme mit der Schule werden sehr greifbar. Er ist nicht dumm, nur interessiert ihn das ganze Treiben in der Schule einfach nicht. In der Vorschule war er noch recht glücklich – kein Wunder bei einer Lehrerin, die sagt, dass jeder Tag, an dem man etwas mit seinen Händen erschafft, ein guter Tag ist. Für David gilt diese Philosophie schon, seit er denken kann, und so wirkt der rührende Moment, in dem David sich von seiner Vorschullehrerin verabschieden muss, wie eine Offenbarung an die erste große Liebe.

Danach geht es für David bergab. Er fügt sich nicht in die Klassengemeinschaft ein und flüchtet sich in die Rolle des Klassenclowns. Mit den Lachern auf seiner Seite, will er sich wenigstens ein Mindestmaß an Respekt verschaffen, denn wirklichen Respekt bekommt er sonst nur von Opa Léon. Die Eltern sind ratlos im Umgang mit David. Sie suchen nach Gründen für Davids Schulprobleme, gehen mit ihm von Arzt zu Arzt und versuchen ihm verzweifelt mit Druck Arbeitsmoral beizubringen – erfolglos.

Davids Gedanken in all diesem Chaos vermittelt Anna Gavalda sehr eindringlich. David wirkt wie mitten aus dem Leben gegriffen. Er hat Probleme, mit denen sich viele Kinder identifizieren können, so dass Anna Gavaldas Erzählung gerade auch für Kinder eine echte Bereicherung darstellt.

David nimmt sein Schicksal schließlich selbst in die Hand, anstatt sich weiter treiben zu lassen, und diese Entwicklung wirkt bis ins Mark glaubwürdig. Davids Geschichte ist weniger eine, die durch Problemschilderungen bedrückt, sondern mehr eine, die durch Problemlösungen Hoffnung aufkommen lässt und durch die Authentizität von Geschichte und Figurenzeichnung wird diese Hoffnung besonders greifbar.

Das Besondere an Anna Gavalda ist auch stets ihre Art zu erzählen. „Zusammen ist man weniger allein“ wird im Verlagstext beispielsweise mit „Die fabelhafte Welt der Amélie“ vergleichen. Die Poesie und Detailverliebtheit, die Anna Gavalda in ihrer Erzählweise an den Tag legt, lässt sich in der Tat mit den Darstellungsweisen von Jean-Pierre Jeunet bei „Amélie“ vergleichen. Und genau diese Poesie und Detailverliebtheit macht „35 Kilo Hoffnung“ ebenso wie die übrigen Gavalda-Erzählungen so unglaublich liebens- und lesenswert.

Anna Gavalda beschreibt die banalsten Alltäglichkeiten mit einer solchen Poesie, dass man als Leser ständig in sich hineinschmunzeln muss. Genauso ergeht es einem beim Hören von „35 Kilo Hoffnung“. Auch hier zaubert die Autorin dem Hörer ein fast permanentes Lächeln ins Gesicht. Und ich für meinen Teil muss gestehen, dass ich beim Ansehen von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ jedes Mal genau das gleiche Lächeln im Gesicht trage.

Anna Gavalda unterstreicht die Erzählung mit einem feinen, fast zärtlichen Sinn für Humor und offenbart so ihr großes Herz für die Entwicklung ihrer Figuren. Diese gehen uns im Verlauf der Geschichte wirklich nah. Ich habe bislang kaum eine Autorin erlebt, die mir so zielsicher und ohne Kitsch und Überdramatisierungen ein paar Tränen entlocken kann. Anna Gavaldas gefühlvolle Art zu erzählen, wird auch in der Hörspielproduktion von „35 Kilo Hoffnung“ spürbar.

Das Hörspiel

Die Hörspielproduktion des WDR weiß Anna Gavaldas Erzähltalent sehr schön erlebbar zu machen. Besonders die musikalische Untermalung prägt sich ein. Sie greift wunderbar die Emotionen auf, die die Erzählung mit sich trägt, und macht sie noch greifbarer. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern unterstreicht die Geschichte dezent und mit viel Gefühl. Auch die eingebundene Geräuschkulisse bleibt bei dezenter Untermalung, ohne zu viel Raum einzunehmen. So verbleibt der Erzählung viel Raum, sich zu entfalten und auf den Hörer zu wirken. Auch die Sprecherleistungen bieten keine Gelegenheit zur Kritik. Die Stimmen passen wunderbar zu den Figuren. Das gesamte Hörspiel erscheint ähnlich gefühlvoll inszeniert, wie die Geschichte geschrieben ist.

Was mich etwas verwundert, ist die Tatsache, dass es sich bei diesem zweisprachigen Hörspiel nicht um eine deutsch-französische Koproduktion handelt. Auch der französische Teil wurde vom WDR produziert und in exakt gleicher Weise inszeniert wie die deutschsprachige Variante. Dialoge, Musik, Geräuschkulisse – alles ist komplett analog zur deutschen Fassung, abgesehen davon, dass aus David plötzlich Grégoire wird. Das hat den Vorteil, dass sich das Hörspiel beim mehrmaligen Hören recht gut zum Aufpolieren eingerosteter Französischkenntnisse eignet. Selbst wer nicht bzw. nicht mehr viel Französisch spricht, verliert den roten Faden nicht, wenn er zuvor die deutsche Fassung gehört hat. Der französische Teil wurde mit Muttersprachlern aufgenommen und auch hier passen die Stimmen der Sprecher sehr gut zu ihren Rollen.

Unterm Strich

Bleibt alles in allem ein sehr guter Eindruck zurück. Mit „35 Kilo Hoffnung“ beweist Anna Gavalda auf eindrucksvolle Art, dass ihre feinfühlige und herzliche Erzählweise auch wunderbar für Kindergeschichten funktioniert – Kindergeschichten wohlgemerkt, die auch Erwachsenen ebenso viel Freude bereiten können. Mit der gleichnamigen WDR-Produktion legt der Audioverlag eine Hörspielvariante vor, die die Geschichte sehr schön vermittelt und in der Anna Gavaldas zu Herzen gehende Art zu erzählen ihre Entsprechung findet. Einen besonderen Reiz hat dabei sicherlich auch die zweisprachige Produktion, bietet sie doch genau den verlockenden Anreiz, den ich gebraucht habe, um endlich den jahrelang halbherzig gepflegten Vorsatz, meine völlig eingerosteten Französischkenntnisse wieder ein wenig auf Vordermann zu bringen, in die Tat umzusetzen. Merci beaucoup!

Die Autorin

Traurig, heiter, melancholisch, leicht: Die Titel von Anna Gavaldas Büchern klingen eher schlicht. „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“, hieß z. B. ihr erster Erzählband aus dem Jahre 1999, der sofort ein großer Erfolg wurde. Bis sie sich hauptberuflich dem Schreiben widmete, studierte sie Literaturwissenschaften an der Pariser Sorbonne, arbeitete in diversen Jobs – sie schrieb z. B. fiktive Heiratsanzeigen – und unterrichtete Französisch. Anna Gavalda wurde 1970 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren und lebt heute mit ihren Kindern im Department Seine-et-Marne. Ihr 2005 erschienener Bestsellerroman „Zusammen ist man weniger allein“ wurde – mit Audrey Tautou in der Hauptrolle – verfilmt. (Verlagsinfo)

2 CDs: CD1: Deutsch / CD2: Französisch

Als Audio-Ausgabe derzeit nicht erhältlich! (Stand: Juni 2016)

Als Buch erschienen bei Ars Edition und unter anderem bei Amazon.de zu bekommen.
ISBN-13: 978-3898134262

Craig Clevenger – Der geniale Mister Fletcher

Mr. Ripley war gestern – heute ist Mr. Fletcher. Oder Mr. MacIntyre. Oder Mr. Edward. Oder Mr. Bishop. John Vincent hatte schon viele Namen und behält keinen für lange Zeit. Rastlos wechselt der begnadete Fälscher von einer Identität zur nächsten. Wie eine moderne Antwort auf den „talentierten Mr. Ripley“ lebt John Vincent unter dem Deckmantel anderer Namen. Als er am Beginn des Romans mit einer Überdosis Tabletten im Magen und Drogen im Blut ins Krankenhaus gebracht wird, heißt er gerade Daniel Fletcher.

Und dieser Daniel Fletcher sitzt nun einem Psychiater gegenüber, der seinen Geisteszustand begutachten soll. Macht Fletcher seine Sache gut und überzeugt den Gutachter davon, mental und psychisch fit zu sein, spaziert er am Ende als freier Mann zur Tür hinaus. Vermasselt er seine Vorstellung, riskiert er, in der psychiatrischen Abteilung weggesperrt zu werden.

Fletcher ist gerissen, hochintelligent, eiskalt und geradezu brillant. Seinen Job als Fälscher hat er zu höchster Perfektion gebracht, doch im Gespräch mit dem Psychiater steht für Fletcher viel auf dem Spiel und das nagt an ihm. Es geht nicht nur um sein Leben, das er verständlicherweise nicht bis ans Ende seiner Tage zugedröhnt und ruhig gestellt in einer geschlossenen Anstalt verbringen will. Es geht auch um seine Freundin Keara, die Fletcher in Gefahr glaubt. Aber um sie retten zu können, muss er erst einmal den Psychiater davon überzeugen, dass er weder verrückt noch selbstmordgefährdet ist …

Mein Eindruck

In den USA hat Craig Clevenger für seinen Debütroman „Der geniale Mister Fletcher“ viel Lob bekommen. Leonardo diCaprio hat sich bereits die Filmrechte gesichert. Wer weiß, vielleicht sehen wir ihn schon bald wieder als Fälscher auf der Flucht über die Kinoleinwand hetzen, so wie schon in Steven Spielbergs Film „Catch me if you can“.

Vielversprechend scheint dieses Filmprojekt sich schon jetzt zu entwickeln und das hat vor allem zwei Gründe: Chuck Palahniuk, der Autor von „Fight Club“, der für Craig Clevengers Roman voll des Lobes ist („Bei Gott, das ist mit Abstand das beste Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe.„), schreibt das Drehbuch. Und darüber hinaus ist das Buch wirklich sehr gut. Herrn Palahniuks Meinung möchte ich mich zwar nicht vorbehaltlos anschließen, dafür habe ich in den letzten Jahren einfach schon zu viele gute Bücher gelesen (unter anderem eben auch von Chuck Palahniuk), aber es ist definitiv ein Roman, für den all das Lob berechtigt ist.

Die Hauptfigur

Clevenger konzentriert sich in seiner Geschichte gänzlich auf die Hauptfigur. Andere Figuren agieren höchstens am Rand, im Mittelpunkt steht Daniel Fletcher, mit seiner Lebensgeschichte und mit Blick auf sein „Duell“ mit dem Psychiater. Mit Fletcher hat Clevenger einen Protagonisten, der so viel Aufmerksamkeit absolut verdient hat. Ein Typ, der bis auf die letzte Seite etwas Rätselhaftes behält, dessen Geschichte zu fesseln weiß, und dessen Lebensart so skurril und faszinierend wirkt wie der voll ausgebildete zweite Mittelfinger an seiner linken Hand.

Fletcher wollte als Kind Verrenkungskünstler („contortionist“) im Zirkus werden. Als Erwachsener ist er genau das, nur auf etwas andere Art. Seine Verrenkungen vollzieht er, indem er immer wieder in andere Identitäten schlüpft. Clevenger erzählt die Lebensgeschichte dieses Verrenkungskünstlers und skizziert dabei ein faszinierendes Psychogramm. Fletcher ist absoluter Perfektionist, macht keine Fehler, ist stets Herr der Lage und hat alles im Blick, so dass er nie die Kontrolle verliert. Bis auf eine Ausnahme: Von Zeit zu Zeit plagen ihn Migräneanfälle, die so heftig sind, dass sie meistens mit einer Überdosis Schmerzmittel im Bauch in komatösem Zustand im Krankenwagen enden. Das ist Fletchers Schwachpunkt. Doch er weiß mittlerweile, wie er sich aus solchen Situationen, wenn seine Person mehr Aufmerksamkeit bekommt, als ihm lieb ist, herauswindet. Er ist geübt im Umgang mit Psychiatern, durchschaut das Frage-Antwort-Spiel. Dennoch lässt ihn die ausgiebige Begutachtung durch Dr. Carlisle ins Schwitzen kommen.

Immer wenn er mit einer Identität in den Mittelpunkt des Interesses von wem auch immer rückt, taucht er ab, macht sich unsichtbar und nimmt einen neuen Namen und ein neues Leben an. Dabei geht er geradezu detailbesessen vor. Er entwickelte eine komplexe Biographie, ohne Lücken, besorgt sich alle nötigen Papiere und lebt unauffällig. Unsichtbar zu sein, entspricht Fletchers Idealbild. Und diese Unsichtbarkeit betreibt er mit einer selten gesehenen Perfektion.

Aber ganz ohne Schwächen und Fehler kommt eben auch Daniel Fletcher nicht aus, und so zeigt Clevengers Roman letztendlich auch, wie winzige Fehler und Zugeständnisse an andere den Einzelgänger verwundbar machen. Es folgt eine Kettenreaktion von Ereignissen, die der Autor mit viel Liebe zum Detail darstellt. Eine Sache bedingt die nächste und Fletchers Lügengerüst gerät ins Wanken.

Doch Fletcher ist eiskalt berechnend und hochintelligent, und so darf der Leser staunend und fasziniert verfolgen, wie Fletcher versucht, die Dinge wieder unter Kontrolle zu bekommen und sich aus seiner brenzligen Situation herauszuwinden. Die Auflösung ist dabei derart gewieft eingefädelt, dass man Clevenger nur zu so viel Erfindungsreichtum beglückwünschen kann.

Man merkt dem Roman zu keinem Zeitpunkt an, dass es sich um ein Debüt handelt. Gerissen entwickelt Clevenger einen Plot, der am Ende richtig aufgeht, ohne lose Enden zurückzulassen. „Der geniale Mister Fletcher“ ist dabei ein Lesegenuss, der gleichermaßen faszinierend wie fesselnd ist und das unter anderem auch, weil Clevenger dem Leser praktisch eine Anleitung zum Fälschen einer Identität liefert. Er zählt die Schritte auf, erläutert Fletchers Vorgehensweise und weist auf mögliche Schwachpunkte hin. Zur Nachahmung wohl eher nicht empfohlen, aber auch deswegen so spannend zu lesen, weil da eben noch der Reiz des Verbotenen mitschwingt. Die Figur Daniel Fletcher nimmt den Leser gefangen und lässt ihn bis zum Ende nicht mehr los.

Auch sprachlich ist „Der geniale Mister Fletcher“ ein erfrischendes Lesevergnügen. Clevengers Stil ist sehr direkt und offen, teilweise hart und explosiv wie der Lebenswandel seines Protagonisten. Im Klappentext wird der Roman mit den Werken von Paul Auster verglichen. Das vereinfacht die Sache zwar vielleicht ein bisschen zu sehr, aber der Vergleich ist nachvollziehbar. Beide Autoren haben in ihren Werken etwas Magisches und Fesselndes, dem man sich nicht entziehen kann. Sie üben gleichermaßen Faszination aus, mit einem gewieften und absolut gekonnten, intensiven Erzählstil.

Unterm Strich

Alles in allem ein Roman, der sich als der lobenden Worte würdig erweist. Eine Hauptfigur, die absolut faszinierend ist und eine Geschichte, die von der ersten bis zur letzten Seite bis ins Mark überzeugt. Ein Erzähler, der mit einem packenden Psychogramm zu fesseln und zu erstaunen weiß. Bei einem derart gerissenen Debütroman darf man sicherlich gespannt sein, was von Craig Clevenger in den nächsten Jahren noch so kommen mag. Den Namen sollte man sich in jedem Falle merken.

Taschenbuch: 314 Seiten
Originaltitel: The Contortionist’s Handbook
ISBN-13: 978-3351030346

https://www.aufbau-verlage.de/

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Rufin, Jean-Christophe – 100 Stunden (Lesung)

Wie viele Menschen verkraftet die Erde? Das ist eine der zentrale Fragen, mit denen Jean-Christophe Rufin den Leser/Hörer seines Romans „100 Stunden“ konfrontiert. Entwickelte Rufin in seinem ersten Roman „Globalia“ noch eine Anti-Utopie à la Orwell und Co., liest sich „100 Stunden“ mehr als eine Art Öko-Thriller.

Die französische Umweltaktivistin Juliette befreit im polnischen Wroclaw Tiere aus einem Versuchslabor, demoliert die Einrichtung und nimmt im Auftrag ihres Freundes Jonathan ein ominöses Fläschchen mit. Für wen die Ware bestimmt ist, weiß sie genauso wenig wie was sie enthält. Doch Juliette lässt sich nach Ausführung ihres Auftrag nicht so einfach abservieren. Die Umweltaktivistin will weiterhin an dem Projekt beteiligt bleiben und die Hintermänner der Aktion treffen. Also versteckt sie das Fläschchen, wodurch sie schon bald den Zorn eines Mannes auf sich zieht, der sich in seiner Arbeit nicht von Juliettes Motivation behindern lassen will …

Währenddessen wird in den USA der Arzt und Ex-Agent Paul Matisse von seinem alten Chef Archie erneut rekrutiert. Archie hat nach seinem Ausscheiden bei der CIA eine Art privaten Geheimdienst ins Leben gerufen, der nun auch mit den Ermittlungen in Sachen Wroclaw betraut wird. Dafür braucht Archie den Mediziner Paul, der prompt einwilligt und zusammen mit seiner früheren Partnerin Kerry die Hintergründe aufzuklären versucht.

Schon bald zeigt sich, dass der Cholera in der Sache eine zentrale Bedeutung zukommt. Paul und Kerry setzen sich auf die Fährte einer fanatischen, radikalen Umweltschutzorganisation, deren finstere Pläne zum Schutz des Planeten schon bald eine Bedrohung für die halbe Menschheit darstellen. Für Paul und Kerry beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, wenn sie die Pläne der Umweltfanatiker vereiteln wollen …

Mein Eindruck

„100 Stunden“ ist ein Roman, der zwar einerseits durchaus als Thriller erscheint, andererseits aber als solcher eher ruhig daherkommt. Wer nervenaufreibende Spannung und haarsträubende Action erwartet, den dürfte das gemächliche Tempo von „100 Stunden“ vermutlich eher abschrecken. Schon in der (sicherlich gekürzten) Hörbuchfassung ist die Spannung zwar greifbar, liest man aber die Pressestimmen, so könnte man glatt auf die Idee kommen, Rufin habe einen actionreichen, atemlosen Thriller abgeliefert.

Dabei ist die Spannung eher subtiler Art. Paul und Kerry ermitteln im Umfeld einiger Umweltschutzorganisationen und reisen um den Globus, um die Spur der Fanatiker aufzunehmen. Das läuft schon mal sehr spannend ab, vor allem natürlich im Showdown, als die Zeit knapp wird, aber oft ist es eben auch schnöde Ermittlungsarbeit, bei der Rufin in den Gesprächen der Agenten die thematisierte Kernproblematik anklingen lässt. Insgesamt wirkt gerade auch die Agentenarbeit sehr realistisch – viel Recherche, wenig James-Bond-mäßige Action.

Der zentrale Aspekt des Buches ist das Problem der Überbevölkerung. Wie soll Umweltschutz funktionieren können, wenn die Erde einfach schlichtweg zu stark bevölkert ist, um ein halbwegs nachhaltiges Leben zu ermöglichen? Die Sichtweise der Umweltschützer in Rufins Roman ist höchst kontrovers. Ihr vorrangiges Ziel ist der Schutz der Erde, nur sind ihre Schlussfolgerungen zur Umsetzung des Ziels äußerst drastisch. Man landet am Ende bei der Frage, was eine höhere Priorität besitzt – der Schutz der Umwelt und damit die Sicherung der Lebensgrundlage für zukünftige Generationen oder das Leben des Einzelnen.

Durch diese Radikalisierung des Umweltschutzes zwingt Rufin auch den Leser/Hörer dazu, immer wieder Stellung zu beziehen. Er konfrontiert ihn mit der radikalst möglichen Ausrichtung. Die ist zwar sicherlich in gewisser Weise effektiv (wenngleich in der Lösung der radikalen Umweltschützer ein gewichtiger Denkfehler steckt), aber eben auch höchst unethisch. Aber wo genau verläuft dabei die Grenze? Wo ist der Punkt, ab dem sich die ethische Verantwortung gegenüber unser aller Lebensgrundlage anderen ethischen Fragen unterzuordnen hat? Und wie müsste die richtige Antwort auf das Problem der Überbevölkerung lauten?

Es ist vor allem dieser Aspekt, diese philosophische Komponente, die „100 Stunden“ so interessant macht. Das war auch schon in Rufins Vorgängerwerk „Globalia“ nicht anders. Rufin fordert den Leser/Hörer zum eigenständigen Denken heraus. Rufin selbst ist Wissenschaftler. Er ist Mitbegründer von |Ärzte ohne Grenzen|, arbeitete als Entwicklungshelfer und wurde 2007 französischer Botschafter im Senegal. Er weiß, wovon er schreibt, und so macht eben auch die philosophische Komponente, die sich hinter der Umweltschutz- und Dritte-Welt-Problematik verbirgt, einen sehr gut recherchierten Eindruck. Da mag man Rufin teilweise verzeihen, dass sein Roman als Thriller nicht immer ganz so wunderbar funktioniert wie andere Exemplare dieses Genres.

Ein weiterer Makel, der „100 Stunden“ anhaftet, ist die Figurenskizzierung. Die Protagonisten wirken teilweise sehr eindimensional. Man fiebert nicht so richtig mit ihnen mit und kann sich nicht sonderlich gut in sie hineinversetzen. Dieser Eindruck manifestiert sich besonders deutlich in der Figur der Juliette. Man kann nicht so ganz nachvollziehen, was sie motiviert, und so bleibt sie bis zum Schluss etwas zu schablonenhaft.

Die 451-minütige Lesung von |Argon Hörbuch| ist dabei eine sehr empfehlenswerte Variante, sich „100 Stunden“ zu Gemüte zu führen. Wolfram Kochs gekonnte Vortragsweise macht den Roman zu einem kurzweiligen Hörvergnügen.

Bleiben unterm Strich also etwas gemischte Gefühle zurück. „100 Stunden“ behandelte eine interessante und äußerst wichtige Problematik. Rufin regt den Leser zum Nachdenken an und verpackt die Problematiken von Umweltschutz und Überbevölkerung in einer Geschichte, die größtenteils spannend, aber nicht so actiongeladen und nervenaufreibend ist, wie man anhand des Presselobes vielleicht glauben möchte. Auch die Figurenskizzierung bleibt leider hinter den Erwartungen zurück. Dafür versteht Rufin sich eben darauf, seine philosophische Romankomponente interessant verpackt unters Volk zu bringen.

http://www.argon-verlag.de

Izzo, Jean-Claude – Sonne der Sterbenden, Die

Marseille ist Izzo. Izzo ist Marseille. Fast schon untrennbar sind die Stadt und der Autor verbunden. Kein Wunder, dass auch Izzos letzter Roman, den er vor seinem Krebstod 2000 geschrieben hat, in „seiner“ Stadt spielt. Ebenso wie schon die „Marseille-Trilogie“ („Total Cheops“, „Chourmo“, „Solea“), mit der ihm der Durchbruch gelang und durch die er in die Topliga der französischen Krimiautoren aufstieg, ist auch „Die Sonne der Sterbenden“ eine Liebeserklärung an Marseille.

Dabei war Izzo nie zwangläufig nur auf Krimis festgelegt. Nur Marseille, Marseille war immer sein wichtigstes Thema – nicht nur die Stadt an sich, sondern auch deren Einwohner, die Izzo stets am Herzen lagen. „Die Sonne der Sterbenden“ ist ebenfalls kein Kriminalroman. Vielmehr eine Lebensgeschichte, ein Reflektieren des Erlebten und eine Analyse des Scheiterns.

Erzählt wird das Leben von Rico, einem Pariser Clochard. Rico lebt schon seit einigen Jahren auf der Straße, losgelöst vom normalen Leben und von der Gesellschaft. Einen Freund und Vertrauten hat er in Titi gefunden. Titi ist ebenfalls Clochard und lebt schon länger auf der Straße als Rico. Die Beiden passen aufeinander auf und können sich aufeinander verlassen – jederzeit. Bis Titi eines kalten Wintertages tot unter der Bank einer Metrostation gefunden wird. Rico zieht es das letzte bisschen Boden unter den Füßen weg. Mit Titi verliert er seinen einzigen Bezugspunkt.

Mit Titis Tod will auch Rico seinem Leben in Paris einen Schlusspunkt setzen. Er erinnert sich der glücklichen Momente in seinem Leben, an die Frauen, die er einst geliebt hat, besonders seine große Liebe Lea, und erinnert sich damit zwangsläufig an Marseille, wo er seinerzeit mit Lea lebte und liebte. Rico zieht Bilanz: Er hat alles verloren, wurde von seiner Frau Sophie geschieden, was den ersten Schritt in den Abgrund markierte, darf seinen Sohn Julien nicht mehr sehen und haust nun schon seit Jahren auf der Straße. Kurzum, Rico hat sein Leben gründlich verpfuscht. Mit Titis Tod fällt diese Bilanz umso schmerzhafter aus und Rico beschließt, Paris zu verlassen. Er macht sich auf in Richtung Süden, Marseille als Ziel seiner Reise vor Augen. An Marseille knüpft er alle seine Hoffnungen …

„Die Sonne der Sterbenden“ erzählt die Geschichte von Rico, allerdings nicht aus seiner Perspektive. Der eigentliche Erzähler der Geschichte ist Abdou, ein junger Araber, der in den Straßen von Marseille zu Hause ist und der in Rico eine Art väterlichen Freund findet. Ihm scheint genauso wie dem Leser Ricos Lebensbeichte zu gelten. Und die fällt, typisch für Jean-Claude Izzo, genauso düster wie ehrlich und unverklärt aus. Doch in all den dunklen Gedanken, in all den schweren Erinnerungen, die auf Ricos verhärteter Seele lasten, glimmt auch ganz klein und fast unscheinbar immer noch ein Funken Hoffnung. Hoffnung darauf, dass sich irgendwann doch noch alles zum Guten wendet. Rico nährt diese Hoffnung durch die Rückkehr nach Marseille, den Ort, an dem er die glücklichsten Momente seines Lebens verbrachte.

Izzos klassische „Hauptfigur“ Marseille betritt dabei erst im letzten Drittel des Romans die Bühne. Bis dahin steht die Reflektion von Ricos Leben im Vordergrund. Während seiner Reise gen Süden denkt Rico immer zurück an die Vergangenheit. Erinnerungen vermischen sich mit neuen Eindrücken. Rico trifft unterwegs neue Menschen, erhält neue Perspektiven, bei denen vor allem zwei prägend sind. Zunächst wäre da der Junge Felix. Etwas zurückgeblieben, stets in Begleitung eines Fußballs, den er unter dem Arm umherträgt, und mit einem tätowierten Eidechsenkopf an der Schläfe, wirkt der Junge stets etwas verschlossen und geheimnisvoll. Und dann wäre da noch Mirjana, die aus Bosnien nach Frankreich geflüchtet ist und nun dadurch, dass sie sich an Männer verkauft, versucht, die Schulden abzubezahlen, die sie bei den Schleppern für die „Einreise“ nach Italien bezahlt hat. Diese Begegnungen hinterlassen bleibenden Eindruck bei Rico und er denkt auch später immer wieder daran zurück.

Das Reflektieren seines eigenen Lebens vollzieht er entlang seiner Reiseroute immer wieder in verschiedenen Momenten. Rico erzählt, wie es zu seinem Absturz kam. Erschreckend und faszinierend zugleich, wie einen Menschen eine beendete Beziehung aus der Bahn werfen kann, wie ihn unerwiderte Gefühle irgendwann an den Rand der Gesellschaft drängen. Rico beschreibt dabei eine fast schon klischeehafte und doch so logische Chronologie des Absturzes: unerwiderte Liebe, Alkohol, Einsamkeit, Jobverlust, Schulden, Obdachlosigkeit. Irgendwann hat Rico einfach kapituliert, die Illusion auf eine Rückkehr ins normale Leben aufgegeben. Izzo drückt das so aus: |“Nicht in die Gesellschaft zurückkehren zu wollen, war kein Unvermögen. Nur eine große Müdigkeit.“| (S. 135)

Während Rico seine Vergangenheit reflektiert, kristallisiert sich immer deutlicher seine gegenwärtige Erscheinung heraus. Rico ist nur noch ein Schatten dessen, was er einmal war, ein Toter, der noch immer unter den Lebenden wandelt: |“Wir ziehen mit unserer alten Haut durch die Gegend. Wir sind nur noch leere Hüllen.“| (S. 142) So bringt Mirjana die klägliche Existenz auf den Punkt, die nicht nur sie selbst führt, sondern auch Rico. Ein Aspekt, der die Figuren verbindet. Beide sind ganz unten angekommen und jeder geht mit seinem Schicksal auf seine eigene Art um. Die Unterschiede in der Existenz der Beiden sind nur marginal und dennoch überdeutlich, was Rico dadurch betont, dass er sich an die Worte seine Freundes Titi erinnert: |“Ich will dir mal was sagen, Rico, wenn ein Mann am Ende ist, geht er betteln, eine Frau dagegen, die verkauft sich. Also denk immer daran, die Erniedrigung, die du empfindest, ist im Vergleich zu der, die sie empfinden müssen, gar nichts.“| (S. 144)

Izzo wäre nicht Izzo, wenn sich aus seiner Geschichte nicht auch gesamtgesellschaftliche Rückschlüsse ziehen ließen, in denen stets auch Kritik mitschwingt. Auch dafür eignet sich „Die Sonne der Sterbenden“ wunderbar, genau wie es schon bei der „Marseille-Trilogie“ der Fall war. Izzo lässt den Leser durch die Augen des Clochards Rico die Gesellschaft von außen betrachten. Er verpasst dem Leser einen veränderten Blickwinkel, indem er ihn Ricos Perspektive einnehmen lässt. Erst eine Figur, die am Rand der Gesellschaft steht, die nicht mehr Teil von ihr ist, macht die Kritik an der Herzlosigkeit der modernen Gesellschaft besonders deutlich und schärft den Blick für die Problematik der an den Rand Gedrängten, die im gesellschaftlichen Auf und Ab irgendwann unter die Räder gekommen sind. Rico ist ein Paradebeispiel dafür: |“Rico gehörte nicht zu denen, die in Wiedereingliederungsstatistiken erfasst wurden. Andere ja, zweifellos. Glücklicherweise. Oder unglücklicherweise, wer weiß. Aber für einen, der wieder auf die Beine kam, wie viele stürzten da wohl im gleichen Moment ab?“| (S. 181)

Rico fühlt sich nicht mehr dazu in der Lage, etwas wie Liebe zu empfinden. |“Die Worte der Liebe wie „ich liebe dich“ und alle anderen, abgeschmackt und infantil, die man erfindet, waren langsam zerfasert. Sie riefen nur noch Erinnerungsfetzen hervor.“| (S. 133) Trotz der offensichtlichen emotionalen Wüste, die Rico durchwandert, merkt man der Erzählung an, dass Izzo große Gefühle mit seinen Figuren verbindet. Er zeichnet sie liebevoll und mit einem feinsinnigen Gespür für ihr Schicksal. Izzo hat eben ein großes Herz, wie seine Bücher immer wieder zeigen, nicht nur für Marseille, sondern auch für Menschen und im Besonderen eben auch für die, die am Rande stehen. Das ist eine der großen Stärken, die einem bei jedem Izzo-Roman aufs Neue ins Auge fallen.

Etwas verwirrend empfand ich im ersten Moment die Erzählperspektive. Der Ich-Erzähler bleibt dem Leser zunächst verborgen. Man weiß nicht, wer er ist, mutmaßt zunächst, es wäre vielleicht der Autor selbst, um dann beim Einstieg ins letzte Drittel der Geschichte mit Abdou in Marseille endlich den Erzähler präsentiert zu bekommen. Marseille spart Izzo sich für sein Finale auf. Mit dem erstmaligen Auftauchen Abdous vollzieht sich ein Bruch. Izzo verändert den Blickwinkel mit dem Auftauchen des Jungen, was beim Lesen im ersten Moment wie ein Stolperstein (bewusst oder unbewusst) wirkt. Man fällt ein wenig aus dem Erzählfluss heraus und mich persönlich hat dieser Bruch ein wenig irritiert. Man braucht danach einen Augenblick, um wieder in die Handlung zurückzufinden und sich wieder voll und ganz auf das Schicksal von Rico einzulassen.

Sprachlich ist „Die Sonne der Sterbenden“ ein fast typischer Izzo. Schon der Titel verheißt Tragik und Dramatik. Einerseits schreibt Izzo klar und gradlinig, ohne zu beschönigen, andererseits aber wunderbar poetisch und melancholisch. Izzo schafft es immer wieder, das Seelenleben seiner Protagonisten in perfekt passende Worte zu kleiden, ohne dabei verschwenderisch mit ihnen umzugehen. Das ist seine ihm eigene Art, die ihn neben der Leidenschaft für seine Figuren so lesenswert macht.

Izzos Figuren gehen einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Man trägt Rico auch weiter mit sich herum. Ein Einzelschicksal, zweifellos, aber dennoch eines, das einem dank Izzos fabelhafter Darstellung in eindrucksvoller Erinnerung bleibt – packend und ergreifend.

Lennon, J. Robert – Postmann

Die Kritiker überschlagen sich förmlich vor Lob, wenn es um „Postmann“, den neuesten Roman aus der Feder des amerikanischen Autors J. Robert Lennon, geht. Da wird Lennon schon mal als „literarisches Schwergewicht ersten Ranges“ bezeichnet (|Chicago Tribune|) oder als „Sprachkünstler mit einem abgedrehten Sinn für Humor“ (|The Times|) und „Postmann“ wird mit den schönsten Adjektiven geschmückt: „originell, authentisch, schräg, wunderbar und auf jeden Fall mitreißend“ (ebenfalls |The Times|). Kein Wunder, dass der Verlag selbst nicht davor zurückschreckt, den Roman, mit dem Lennon in den USA und England der Durchbruch gelang, als „eines der beeindruckendsten Werke der amerikanischen Literatur der letzten Jahre“ zu titulieren*. So viel Lob steckt halt an und ermuntert nicht zuletzt auch den Leser, einen genaueren Blick auf einen bis dato eher unbekannten Autor zu werfen.

Für mich ist „Postmann“ ein Roman, der im ersten Moment schwer greifbar ist. Den Handlungsbogen genau zu erfassen, erscheint zunächst nicht ganz einfach. Der Leser begleitet den neurotischen Postboten Albert Lippincott für zehn Tage. Die gegenwärtige Handlung wird dabei oft an den Rand gedrängt und Lennon verliert sich in ausgiebigen Rückblenden, die das Leben von Albert reflektieren. Der Roman zeigt sich bei näherer Betrachtung sehr vielschichtig und entwickelt dabei immer wieder eine Tiefe, die man anfangs nicht vermutet.

Hauptfigur ist also Albert Lippincott, unser neurotischer Postbote, vom Autor stets liebevoll Postmann genannt, wohnhaft in Nestor, einer kleinen Universitätsstadt im Staate New York. Zunächst schauen wir ihm an einem ganz normalen Arbeitstag über die Schulter. Es ist Freitagmorgen, er sortiert seine Post, stellt sie zu und zweigt sich den einen oder anderen Brief als Abendlektüre ab. Den Rest des Tages verbringt er auf dem wenig aufregenden Nestor-Fest, bestaunt die Attraktionen, die alle anderen auch bestaunen, und isst Hühnchensandwiches, die ihm nicht wirklich schmecken. Das klingt zunächst alles wahnsinnig unspektakulär und ist für Postmann der normale Alltag.

Doch genaugenommen ist dieser Freitag für Postmann alles andere als ein normaler Freitag. Er markiert den Beginn eines Prozesses, der sein Leben vollkommen umkrempelt. Am Ende ist nichts mehr wie es war, doch Postmann ahnt davon an diesem Morgen noch gar nichts. Erste Probleme deuten sich an, als er sieht, dass Jared Sprain, einer der Bewohner in seinem Zustellbezirk (und einer, von dem er noch einen Brief zu Hause liegen hat), tot aus seiner Wohnung getragen wird. Selbstmord – was nicht wirklich verwunderlich ist, denn Sprain war schon lange depressiv. Dennoch plagen Postmann Gewissensbisse, hatte er es doch in der letzten Woche versäumt, den Brief eines Freundes von Sprain zuzustellen, in dem dieser ihm (wie so oft) seine Selbstmordgedanken auszureden versucht. War Postmann durch das Nichtzustellen des Briefes etwa schuld an Sprains Selbstmord? Sollte nun auffliegen, dass Postmann sich die Briefe seiner Kunden „ausleiht“?

Im Laufe weniger Tage häufen sich, ausgehend von diesem Ereignis, für Postmann mehrere Probleme an, die seine kleine Welt ins Wanken bringen. Sein trostloses Wochenende über hängt er größtenteils der Vergangenheit nach, bevor sich mit Beginn der neuen Woche die Turbulenzen verschlimmern …

Das Bild, das Lennon von seinem Postmann skizziert, weckt die vielfältigsten Gefühle. Mal wirkt die Gestalt des neurotischen kleinen Briefträgers geradezu zum Lachen, mal stimmt uns seine jämmerliche amerikanische Kleinstadtwelt mit ihrem ganz normalen Wahnsinn traurig oder melancholisch. Mit einem Blick für die tragikomischen Momente im ganz alltäglichen Leben lässt Lennon die markantesten Punkte in Postmanns Dasein Revue passieren.

Wer Postmann aufgrund seines derzeitigen Lebenswandels für einfältig und beschränkt hält, der wird sich im Laufe des Buches wundern. Postmann hat sogar mal ein paar Semester studiert, bevor er seine mittlerweile 30-jährige Postkarriere startete. Postmanns Leben hat viele Facetten: sein gescheitertes Studium, seine schwierige, manchmal etwas zu ungeschwisterlich innige Beziehung zu seiner Schwester, dann seine gescheiterte Ehe mit der Krankenschwester Lenore, das etwas verkorkste Verhältnis zu seinen Eltern und nicht zuletzt eine verrückte Reise in die tiefste Provinz Kasachstans.

Lennon widmet sich dieser vielschichtigen Lebensgeschichte seines oberflächlich betrachtet eher langweiligen Charakters ausgiebig, und so sind es auch die Rückblenden, in denen mit Blick auf den Handlungsbogen die Stärken des Romans liegen. Die Gegenwart gerät dabei schon mal ein wenig ins Hintertreffen und so hatte ich gerade im Mittelteil des Romans hier und da ein wenig das Gefühl, dass Lennon etwas die Ausgewogenheit der beiden Erzählebenen vermissen lässt. Die Rückblenden sind stark, keine Frage, aber man verliert darüber in der Gegenwart hier und da ein wenig den Faden – nicht zuletzt auch, weil die Handlung in der Gegenwart streckenweise nicht so recht vorankommt.

Die Gegenwart spielt vor allem am Anfang und am Ende eine größere Rolle, so dass Lennon den Roman trotz dieser stellenweise auftretenden Gegenwartsschwäche als eine runde, größtenteils stimmige Sache gestaltet. Am Ende schafft er es, die Balance wieder herzustellen. Kern des Romans ist letztendlich die Lebensgeschichte von Postmann und die stellt Lennon ganz hervorragend dar. Thematisch ist dabei im weitesten Sinne mal wieder der viel beschworene amerikanische Traum ein entscheidendes Element, beziehungsweise sind es die Schwierigkeiten, selbigen im alltäglichen Leben zu verwirklichen.

Lennons Roman ist ein Sammelsurium verkrachter Existenzen, von denen jede auf eigene Art scheitert. Postmanns Mutter, die stets von einer großen Gesangskarriere geträumt hat, aber nur Auftritte in billigen Bars auftreiben kann. Postmanns Vater, der ein großer Wissenschaftler hätte werden können, der sich aber zunehmend in seinem Kellerlabor verkriecht und vom Familienleben kaum etwas mitbekommt. Postmanns Schwester, die ihre hart erarbeitete Schauspielkarriere nie so voranbringen konnte wie sie wollte. Und Postmann selbst, der anfangs zunächst einen vielversprechenden Weg mit seinem Studium eingeschlagen hat, der versucht alles richtig zu machen, aber im weiteren Verlauf schon an den kleinsten Dingen scheitert.

Für den Leser fällt Postmanns Scheitern unter Umständen ganz amüsant aus, denn gerade seine Figur ist so tragisch und komisch zugleich, dass man mal über ihn lachen kann, im nächsten Moment den Kopf schüttelt und ihn einen Idioten schimpfen will und im übernächsten Mitleid empfindet. Man kommt nicht umhin, Postmann mit all seinen Macken und eigenartigen Lebensweisen als schräg zu bezeichnen, und spätestens, wenn Postmann mutterseelenallein in der tiefsten Provinz Kasachstans hockt, hat man ihn ins Herz geschlossen. Lennon skizziert die Figur liebevoll und detailreich, so dass der 605-seitige Umfang des Romans durchaus angemessen erscheint – gerade auch mit Blick auf Lennons etwas weitschweifige aber mitreißende Erzählweise.

Lennons Stil braucht ein paar Seiten, bis er sich richtig entfaltet, bis man sich voll und ganz auf Figuren und Handlungsorte einlässt, aber kommt er erst einmal in Fahrt, ist er dem Anschein nach nicht mehr zu bremsen. Auf Basis einer kleinen, nahezu belanglosen Romanfigur an einem verschlafenen Ort entsteht ein Roman, der überraschend tiefgreifend und weitsichtig ist. Lennon schmückt seine Betrachtungen von Postmanns verkrachter, fast schon mickriger Existenz mit philosophischen Fingerübungen und gesellschaftlichen Überlegungen und bereichert seinen Roman damit um eine weitere interessante Facette.

Dank seines gewitzten Umgangs mit der Sprache und seines feinsinnigen, teils schwarz angehauchten Humors übermittelt er seine Ansichten und Eindrücke nachhaltig. Lennon versteht es, treffende Vergleiche zu ziehen und mit seinen ausgeklügelten Formulierungen stets den Nagel auf den Kopf zu treffen. Die Lektüre wird dadurch im Laufe der Zeit zu einem wahren Genuss. Nett verpackt in einem ironischen, gewitzten Ton, mit bildhaften Vergleichen und einer Prise Melancholie schafft es Lennon, den Leser auch sprachlich zu fesseln und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Lennon gelingt auf diese Weise eine lesenswerte Reflexion des Lebens an sich, mit all den glücklichen Momenten und all den Lebenslügen und dem verloren gegangenen amerikanischen Traum. Man kommt nicht umhin, auch nach der Lektüre immer mal wieder an Postmann zurückzudenken. Er wächst einem trotz aller Schrullen, trotz all der merkwürdigen neurotischen Züge, die er entwickelt, eben doch nachhaltig ans Herz.

Klappt man am Ende das Buch zu und lässt „Postmann“ noch einmal in Ruhe gedanklich Revue passieren, so lässt es sich kaum umgehen, beim Blick auf all das Lob und all die positiven Worte zu Lennons Roman zustimmend zu nicken. Es ist genau so wie der |Independent| schreibt, es gelingt Lennon tatsächlich „meisterlich, die Traurigkeit und Melancholie des Alltags einzufangen“. „Postmann“ ist ein Wechselbad der Gefühle, das mit zunehmender Seitenzahl an Dramatik und Tragik gewinnt und dabei stets ein wenig schräg, sonderbar und auf seine ganz eigene Art liebenswürdig bleibt. Lennons Stil überzeugt von der ersten bis zur letzten Seite. Wer schon mit Freude Jeffrey Eugenides und Jonathan Franzen gelesen hat, für den könnte sich „Postmann“ als Glücksgriff entpuppen.

* Wobei wir nicht so spitzfindig sein und die Kompetenz des |Heyne|-Verlags mit Blick auf die amerikanische Literatur infrage stellen wollen, nur weil sie den Australier Max Barry in den Verlagsempfehlungen amerikanischer Szeneautoren auf der letzten Seite des Buches zum Amerikaner machen. Schließlich gehört Australien in [„Logoland“, 96 Barrys abgedrehter Utopie der globalisierten Welt von morgen, praktisch mehr oder weniger zu den USA. Also ist das gar kein Fehler, sondern höchstens vorausschauend …

Anna Gavalda – Zusammen ist man weniger allein

Ich habe geweint. Ganz ehrlich. Als die Geschichte zu Ende war, kullerten mir Tränen die Wangen hinunter. Das war mir noch nie passiert. Im Kino ja. Man kommt nicht umhin, hier und da mal auf die Tricks des Hollywoodkinos hereinzufallen und in die Gefühlsfalle zu tappen. Aber bei einem Buch? Nein, bei einem Buch war mir das noch nie passiert. Nur bei Anna Gavaldas neuem Roman „Zusammen ist man weniger allein“. Dabei drückt sie doch gar nicht auf die Tränendrüse, hebt keine hinterhältigen Gefühlsfallen in einem kitschbehangenen Plot aus und winselt nicht um Mitleid für ihre schicksalsgebeutelten Figuren. Warum also gleich anfangen zu heulen? Eine schwierige Frage, also verliere ich vielleicht lieber erst einmal ein paar Worte zur Handlung.

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Grote, Paul – Champagner-Fonds, Der

Der „Gourmet-Krimi“ ist inzwischen fester Bestandteil des Krimigenres und speziell der Wein hat es den Autoren dabei offensichtlich sehr angetan. Auch Weinexperte Paul Grote spürt seiner kriminalistischen Ader nach und liefert mit „Der Champagner-Fonds“ seinen mittlerweile sechsten Weinkrimi ab. Mit jedem Band seiner Reihe schickt er seine wechselnden Hauptfiguren in ein anderes Anbaugebiet, um die Besonderheiten der örtlichen Weine wie auch der Menschen zu ergründen.

_Philipp Achenbach arbeitet_ als Chef-Verkoster bei France-Import, einem auf französische Weine spezialisierten Importeur in Köln. Eigentlich ist er mit seinem Job sehr zufrieden. Sein Chef schätzt seine herausragende Kompetenz bei der Auswahl der Weine und immer wieder führt die Arbeit Achenbach in die verschiedenen französischen Anbaugebiete, um neue interessante Weine aufzuspüren.

Nun kommt Klaus Langer, sein Chef, mit einem ganz neuen Anliegen, das dem Weinkenner Achenbach schon vom Grundsatz her Kopfschmerzen bereitet. Lange möchte mit der Firma in einen Champagner-Aktienfonds einsteigen und den Vertrieb der im Fonds gehandelten Champagner übernehmen. Parallel soll die Firma radikal vergrößert werden und nicht nur Spezialist für französische Weine bleiben, sondern ihre Arbeit auf andere Anbaugebiete ausdehnen. Achenbach steht dem Vorhaben äußerst skeptisch gegenüber, auch wenn der Chef mit einer Beförderung und neuen Kompetenzen lockt.

Phillips erste Aufgabe besteht darin, in die Champagne zu reisen, vor Ort mit den Verantwortlichen des Fonds zu sprechen, Keller und Lagerbestände zu besichtigen und den Einstieg von France-Import in den Fonds vorzubereiten. Vor Ort stößt Achenbach schon bald auf ein paar Ungereimtheiten. Zwar nur Kleinigkeiten, aber als man ihn dann auch noch verfolgt, entschließt Philipp sich dazu, mal etwas tiefer zu graben. Was er dabei entdeckt, sieht nach Betrug aus. Philipps Schnüffeleien stoßen auf wenig Gegenliebe, auch von Seiten seines eigenen Chefs. Doch Philipp lässt sich dadurch nicht beirren. Er ermittelt weiter und bringt damit nicht nur sich selbst in Gefahr …

_Paul Grote lässt_ seinen Roman recht ruhig anlaufen. Der Leser hat Zeit, in Ruhe die Protagonisten kennenzulernen: Philipp Achenbach und seine Leidenschaft für Wein, seinen Sohn Thomas, der sein BWL-Studium zugunsten einer Winzerlehre hinschmeißen will und Achenbachs zarte Anbandelungsversuche mit der neuen Sekretärin von France-Import. Es wird viel über Wein diskutiert, aber auch über Wirtschaft allgemein und das Finanzwesen im Speziellen.

Ehe auch nur die ersten Dinge auftauchen, die man typischerweise in einem Krimi erwartet, hat man schon so viele Seiten umgeblättert, dass man geneigt ist, den Aufdruck „Kriminalroman“ auf dem Buchdeckel für einen Druckfehler zu halten. Um die kriminalistischen Romanelemente der ersten Romanhälfte aufzuzählen, braucht man nicht einmal alle Finger einer Hand: Jemand lügt und unser Held wird verfolgt – das war es auch schon an krimitypischer Stilistik.

Die Geschichte ist zwar sicherlich nicht uninteressant und vor allem Wein- bzw. Champagnerfreunde können ihren Wissensdurst stillen, die Spannung bleibt dabei in der ersten Romanhälfte aber leider völlig auf der Strecke. Erst nachdem Achenbach in der Champagne erste Unstimmigkeiten aufdeckt, kommt zunehmend Spannung auf. Wirklich Tempo entwickelt die Handlung dann vor allem im letzten Drittel. Dann überschlagen sich die Ereignisse, die Lage wird für Achenbach und seine Helfer und Informanten gefährlich und der Leser hat endlich Gelegenheit mitzufiebern. Was Grote im letzten Drittel auffährt, überzeugt und entschädigt den Leser, der bis hierhin durchgehalten hat, dann doch noch ein wenig.

Positiv fällt Paul Grotes Schreibstil auf. Er schreibt eingängig und verständlich, so dass der Leser eine Menge Wissen aus dem Buch mitnehmen kann. Er lässt sich über alle Facetten der Champagner-Herstellung aus, vom Boden, über die verschiedenen Rebsorten bis zur Lagerung und Degustation. Man merkt, dass hier ein Experte am Werk ist, der weiß, wovon er spricht.

Die Protagonisten sind allesamt sehr greifbar und authentisch. Sie wirken nie überzeichnet oder gekünstelt. Auch das kann man durchaus wieder als einen der Vorzüge des Romans gelten lassen.

_Bleiben unterm Strich_ gemischte Gefühle zurück. Grote beweist viel Sachkenntnis und hat ein ziemlich großes Bedürfnis, diese dem Leser unter Beweis zu stellen. So braucht das Grundgerüst des Romans recht lange, bis es steht und Spannung entsteht in der ersten Romanhälfte dadurch leider überhaupt nicht. Wer nicht die Flinte ins Korn (bzw. in die Maische) wirft, wird am Ende zwar noch mit einem durchaus spannenden Krimi belohnt, muss aber eben auch einen langen Atem haben.

|Taschenbuch: 400 Seiten
Wein-Krimi-Reihe Band 7
ISBN-13: 978-3423212373|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de

Bradley, Alan – Mord ist kein Kinderspiel (Flavia de Luce 2)

_|Flavia de Luce|:_

01 [„Mord im Gurkenbeet“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5930]
02 [„Mord ist kein Kinderspiel“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6689

Nach dem furiosen Auftakt, den Alan Bradley mit seinem Debütroman [„Flavia de Luce – Mord im Gurkenbeet“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5930 hingelegt hat, liegt mittlerweile der Nachfolgeband der Reihe vor. Und schon beim Blick auf das liebevoll gestaltete Cover freut man sich auf das nächste Abenteuer von Flavia, denn man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass sie eine der ungewöhnlichsten Ermittlerinnen der Krimigeschichte ist.

_England, 1950:_ Der begnadete Puppenspieler Rupert Porson bleibt, wie es der Zufall will, mit seinem Wagen in Bishop’s Lacey liegen und der Vikar lässt die Gelegenheit nicht ungenutzt, den Puppenspieler und seine Assistentin Nialla einzuladen, eine Vorführung im Pfarrhaus abzuhalten, bis ihr Wagen repariert ist. Porson willigt ein, und weil Flavia gerade in der Nähe ist, darf sie beim Aufbauen der Bühne helfen.

Und so versammelt sich am Samstagabend ganz Bishop’s Lacey im Gemeindehaus, um sich von den Künsten des Rupert Porson in eine andere Welt entführen zu lassen. Alle sind hin und weg – ganz besonders, als zum Finale die Leiche des Puppenspielers auf die Bühne fällt. Die Polizei tappt im Dunkeln und so muss Flavia Inpektor Hewitt und seinen Kollegen mal wieder auf die Sprünge helfen. Sie findet heraus, dass sich jemand an der elektrischen Anlage zu schaffen gemacht hat. Was zunächst nach einem tragischen Unglücksfall aussah, entpuppt sich als Mord.

Und so steckt Flavia wieder einmal ihre Nase in Angelegenheiten, die sie eigentlich nichts angehen und findet dabei erstaunlich viel heraus. Mit ihrem kindlichem Charme kann sie schließlich jedem im Dorf ein paar wichtige Details aus der Nase ziehen, die ihr messerscharfer Verstand dann zu einem Gesamtbild zusammenfügt. Und so ist sie Inspektor Hewitt wieder einmal um Längen voraus. Muss sie schon wieder ganz alleine gegen den Strippenzieher des Mordes bestehen?

_Wer den ersten Band mochte_, der wird sich auf das Wiedersehen mit Flavia in jedem Fall freuen. Flavia ist ein Charakter der polarisiert. Sie ist so überspitzt dargestellt, dass Alan Bradley mangelnden Realismus vorzuwerfen, eigentlich schon ein Hohn wäre. Natürlich ist Flavia an sich eine unrealistische Figur. Welche fast 11-Jährige ist schon Herrin eines eigenen Chemielabors und ersinnt dort immer wieder ausgeklügelte Methoden, um z. B. die Pralinen ihrer Schwester zu panschen? Flavia ist dermaßen gerissen und scharfsinnig und hat dabei einen so ausgeprägten Sinn für alles Morbide – nicht umsonst gilt ihre Leidenschaft der Giftmischerei – dass man sie sich schwerlich als realistisches Kind vorstellen kann. Macht aber auch nichts, denn Flavias ungewöhnliche Art trägt nun mal doch sehr erheblich zum Unterhaltungswert der Reihe bei.

Um Flavia herum konstruiert Bradley seine Geschichte so gewitzt und mit einem feinen Sinn für Humor, dass man gar nicht anders kann, als sie zu mögen. In gleichem Maße wie Flavia eine höchst ungewöhnliche Protagonistin ist, sind die Geschichten um sie eben auch höchst unterhaltsam und ein Lesevergnügen, das auf jeden Fall im Gedächtnis haften bleibt. Der Plot an sich tendiert dabei oft eher in Richtung Belletristik als in Richtung Krimi. Es dauert gute 150 Seiten, ehe es überhaupt eine Leiche zu beklagen gibt, und wäre Bradley nicht ein durchaus gekonnter Erzähler, wäre bis dahin vermutlich schon längst Langeweile aufgekommen.

Dennoch nutzt Bradley die Gelegenheit leider nicht so wie gehofft, um seinen Protagonisten etwas mehr Tiefe zu verleihen. Er hat bereits im ersten Band Flavias komplizierte Familiengeschichte angedeutet – Mutter gestorben, Vater findet wenig Zugang zu seinen drei Töchtern, Zukunft auf dem Familiensitz Buckshaw ungewiss – dennoch wirft Bradley leider keinen tiefgreifenderen Blick auf die Figuren. Zwar taucht mit Tante Felicity eine weitere Verwandte auch, die auch etwas Licht in das Dunkel bringen könnte, dennoch sind einem die Figuren am Ende des Buches kaum vertrauter als zu Beginn. Die Skizzierung der Figuren ist also in jedem Fall noch ausbaufähig.

Dennoch geht Flavia wie schon im Vorgängerband selbstbewusst ihren Weg zur Überführung des Täters. Sie ist unglaublich scharfsinnig und eine äußerst genaue Beobachterin. Die Hintergründe des Verbrechens, die Flavia dabei aufdeckt, sind dabei recht komplex und die Aufklärung war für meinen Geschmack dann leider auch nicht bis in den letzten Winkel schlüssig und glaubwürdig. Manches wirkt einfach ein wenig konstruiert. Die Geschichte bleibt dabei aber bis zum letzten Moment spannend.

_Insgesamt ist „Mord ist kein Kinderspiel“_ in jedem Fall eine gelungene Fortsetzung von „Mord im Gurkenbeet“. Flavia ist und bleibt eine absolut einmalige Krimiheldin, und wenn man sie einmal ins Herz geschlossen hat, mag man sie nicht mehr missen. Es gibt sicherlich vereinzelte Schwächen in der Konstruktion des Falls und die Hauptfiguren hätten auch eine etwas tiefgreifendere Betrachtung verdient, dennoch ist „Mord ist kein Kinderspiel“ immer noch ein höchst unterhaltsames Lesevergnügen, abseits ausgelatschter Krimipfade.

|Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Originaltitel: The Weed that strings the Hangman’s Bag
ISBN-13: 978-3764530297|
[www.randomhouse.de/penhaligon]http://www.randomhouse.de/penhaligon
[www.flavia-de-luce.de]http://www.flavia-de-luce.de

Läckberg, Camilla – Engel aus Eis

_Erica Falck und Patrik Hedström:_

Band 1: [„Die Eisprinzessin schläft“ 3209
Band 2: [„Der Prediger von Fjällbacka“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2539
Band 3: „Die Töchter der Kälte“
Band 4: [„Die Totgesagten“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5860
Band 5: „Snöstorm och mandeldoft“ (noch ohne dt. Titel)
Band 6: _“Engel aus Eis“_
Band 7: „Sjöjungfrun“ (noch ohne dt. Titel)
Band 8: „Fyrvaktaren“ (noch ohne dt. Titel)

Mit „Engel aus Eis“ liefert die Schwedin Camilla Läckberg nunmehr ihren fünften Krimi rund um die sympathischen Protagonisten Erica Falck und Patrik Hedström in Deutschland ab. Die Vorgängerromane waren fast durch die Bank weg sehr gelungen, lediglich mit ihrem letzten Werk „Die Totgesagten“ konnte sie das hohe Niveau nicht mehr so ganz halten. Ein Ausrutscher? Oder setzt sich diese Entwicklung mit „Engel aus Eis“ weiter fort?

_Der Handlungsabriss im Klappentext_ klingt vielversprechend. Der pensionierte Geschichtslehrer Erik Frankel wird ermordet in seinem Haus aufgefunden. Frankel war in Neonazikreisen äußerst unbeliebt – vor allem auch, weil sein Bruder Axel sein Leben dem Aufspüren alter Nazischergen gewidmet hat. So vermutet die Polizei den Täter im Umfeld der Neonazis.

Erica ist geschockt, als sie von der Ermordung Frankels erfährt, hatte sie ihn doch noch vor wenigen Wochen um Hilfe gebeten, weil unter den wenigen Habseligkeiten, die sie von ihrer Mutter Elsy in einer Kiste auf dem Dachboden gefunden hat, auch ein mysteriöser Naziorden war. Ericas Interesse ist geweckt, und obwohl sie sich eigentlich voll und ganz in ihre Arbeit stürzen wollte, solange die Elternzeit von Ehemann Patrick dauert, beginnt sie mit Nachforschungen.

Erica und ihrer Schwester Anna war ihre Mutter immer ein Rätsel. Elsy war immer distanziert, kühl und wirkte abwesend. Erica hat sich deswegen oft gefragt, ob sie ihre Mutter überhaupt richtig gekannt hat. Als Erica nun herausfindet, dass Elsy und Erik in ihrer Jugend befreundet waren, beschließt sie tiefer zu graben und fragt sich schon bald, ob das Motiv für den Mord nicht vielleicht eher in der Vergangenheit, als in der Gegenwart zu finden ist. Unterstützt wird sie in ihren Nachforschungen von Patrik, der mit seiner Elternzeit und seiner damit verbundenen Auszeit aus dem Polizeidienst sichtliche Schwierigkeiten hat …

_Wie bei jedem Läckbergschen Roman_ fällt auch bei „Engel aus Eis“ der Einstieg sehr leicht. Schnell taucht man in die Geschichte ein und hat die Figuren lebhaft vor Augen. Erika ist mit ihrer Familie ein liebgewonnenes Herzstück der Reihe geworden und man freut sich als Leser regelrecht über jedes Wiedersehen. Diesmal ist Patrick dran, mit der Elternzeit, aber da nun mal wieder in einem Mord zu ermitteln ist, ist er hin- und hergerissen. Einerseits möchte schauen, dass bei den Ermittlungen der Kollegen alles gut läuft, andererseits will er gerne seine Zeit mit seiner Tochter Maja verbringen. Das sorgt immer wieder für Spannungen zwischen Erica und Patrik.

Sehr schön ist auch, dass Camilla Läckberg mit „Engel aus Eis“ an einer Stelle ansetzt, die in früheren Romanen immer ein Mysterium war. Das sehr unterkühlte Verhältnis zwischen Elsy und ihren beiden Töchtern Erica und Anna ist immer wieder angedeutet, aber nie näher ausgeleuchtet worden. Läckberg geht damit einer Frage nach, die so manchen angestammten Leser schon beschäftigt haben dürfte. Da die persönliche Entwicklung der Figuren im Umfeld von Erica kontinuierlich weiter verläuft, sei jedem Neueinsteiger zur chronologischen Lektüre der Läckberg-Romane geraten.

Spannung baut die Schwedin kontinuierlich auf. Sie nimmt sich zwar immer wieder Zeit für Betrachtungen ihrer Haupt- und Nebenfiguren, dreht aber ganz nebenbei auch ständig an der Spannungsschraube. Der Plot ist in viele einzelne Erzählstränge aufgesplittet, zwischen denen Läckberg hin- und herspringt, was sich sehr positiv auf den Spannungsbogen auswirkt. Zusätzlich wirft sie immer wieder einen Blick zurück in die Zeit zwischen 1943 und 1945, um zu erzählen, wie es Ericas Mutter und ihrer Clique in jungen Jahren ergangen ist.

Was Läckbergs Romane neben dem spannenden Verlauf dank der beständigen Perspektivenwechsel ausmacht, ist die menschliche Seite. Läckbergs Figuren wirken sehr authentisch und zu keinen Zeitpunkt überzeichnet. Unterhaltsame Schilderungen des Alltags der Protagonisten sind nicht bloß Füllmaterial, sondern ein markantes Merkmal ihrer Romane. Immer wieder schafft sie Platz für intime Augenblicke, die Einblick in das Seelenleben ihrer Figuren ermöglichen und würzt das Ganze mit ihrer augenzwinkernden Sichtweise. Besonders an Patriks Vorgesetztem Bertil Mellberg hat Läckberg stets ihre humoristische Seite ausgelebt. Das ist auch diesmal wieder der Fall, allerdings zeigt sie dem Leser Mellberg diesmal auch von einer ganz anderen Seite, was eine schöne Bereicherung ist.

Positiv fällt auch Paula auf, die ihren Dienst in Fjällbäcka neu angetreten hat und eine echte Bereicherung für die dortige Polizei darstellt. Mit Paula hat Läckberg wieder einmal eine Figur geschaffen, die man schnell ins Herz schließt und die man für die Zukunft nicht mehr missen möchte. Auch der Fall an sich ist sehr überzeugend konstruiert. Die Geschichte bleibt bis zum Finale spannend und die Auflösung besticht durch ihre Plausibilität.

_Bleibt unterm Strich_ also nur jede Menge Lob. Nachdem Läckberg mit „Die Totgesagten“ ein wenig geschwächelt hat, läuft sie nun mit „Engel aus Eis“ wieder zu alter Form auf und legt einen rundum gelungenen Krimi vor, der zu den besten gehört, die sie belang geschrieben hat. Erica und Patrik bleiben uns hoffentlich noch lange erhalten, und wenn Camilla Läckberg auf dem jetzigen Niveau weiterschreibt, darf man sich schon auf viele weitere schöne Schmökerstunden freuen, in denen man auf Reise ins schwedische Fjällbäcka gehen darf.

|Hardcover: 503 Seiten
Originaltitel: Tyskungen
Aus dem Schwedischen von Karin Frey
ISBN-13: 978-3-471-35015-7|
[www.ullsteinbuchverlage.de/listhc]http://www.ullsteinbuchverlage.de/listhc

Philip Sington – Das Einstein-Mädchen

Romane, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufweichen, haben immer einen besonderen Reiz. Dies trifft auch auf Philip Singtons Roman „Das Einstein-Mädchen“ zu. 1986 wurde erstmals eine bis zu diesem Zeitpunkt geheime Korrespondenz zwischen Albert Einstein und seiner ersten Frau Mileva Marić öffentlicht. Daraus geht hervor, dass ein Jahr vor der Hochzeit der beiden eine Tochter zur Welt kam, über deren Schicksal bis heute zu gut wie nichts bekannt ist.

Genau hier setzt Philip Sington mit seinem Roman an, dessen Geschichte damit beginnt, dass 1932 in einem Wald in Berlin eine bewusstlose junge Frau gefunden wird. Als sie aus dem Koma erwacht, erinnert sie sich an nichts, und da niemand die Frau kennt, wird sie von der Presse zunächst einmal „Einstein-Mädchen“ getauft – schließlich fand sich in ihrer Manteltasche der Programmzettel eines Vortrags von Albert Einstein.

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Chattam, Maxime – Alterra: Im Reich der Königin (Band 2)

_Die |Alterra|-Romane:_

Band 1: [„Die Gemeinschaft der Drei“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5929
Band 2: _“Im Reich der Königin“_
Band 3: „Le Coeur de la Terre“ (noch ohne dt. Titel)

Nun liegt sie also endlich vor, die Fortsetzung von Maxime Chattams Roman „Alterra“. Es war schon recht überraschend, wie sich „Alterra“ im Laufe der Lektüre als unvermuteter Mehrteiler entpuppte und so abrupt man vor einem Jahr aus der Handlung herausgerissen wurde, so leicht und schnell ist man am Beginn des Nachfolgebandes „Alterra: Im Reich der Königin“ wieder in die Handlung eingestiegen. Chattams düstere Endzeitvision geht damit in die nächste Runde und entwickelt sich dabei sogar noch ein Stück düsterer und ganz bestimmt nicht weniger fantasievoll als im ersten Teil der Reihe.

_Doch zunächst ein paar Worte zum Inhalt._ Matt, Amber und Tobias – die Gemeinschaft der Drei – haben die Carmichael-Insel und damit die Gemeinschaft der Pans schon vor einer Weile hinter sich gelassen. Sie sind auf dem Weg nach Süden, einerseits, um Gefahr für die anderer Pans auf der Insel abzuwenden, zum anderen um herauszufinden, warum der Torvaderon Jagd auf Matt macht. Warum suchen die Zyniks überall nach ihm? Matt will es selbst herausfinden und begibt sich dafür auf eine lange und beschwerliche Reise gen Süden, in das Reich der Königin.

Seine beiden Freunde Tobias und Amber stehen ihm dabei zur Seite. Auf dem Weg durch die Wildnis lauern viele Gefahren. Der Torvaderon ist immer noch hinter Matt her und Matt und seine Freunde geraten dadurch mehr als einmal in brenzlige Situationen. Doch das ist nicht das einzige Mal, dass der Mut der Drei auf eine harte Probe gestellt wird. Auf ihrer Reise stehen sie plötzlich vor dem undurchdringlichen Blinden Wald. Bevölkert von riesigen, unheimlichen Tieren und bewachsen mit schier endlos in die Höhe ragenden Bäumen, die den Grund des Waldes in Dunkelheit tauchen, muss die Gemeinschaft der Drei hier all ihren Mut zusammen nehmen, um nicht umzukehren.

Kaum dass sie den Wald betreten haben, scheint die Reise auch schon ein jähes Ende zu nehmen: Wie aus dem Nichts werden Matt, Amber und Tobias vom Waldboden in die Höhe gerissen und auf ein seltsames Luftschiff entführt, das von ameisenartigen Wesen gesteuert wird und auf dem sie wie Gefangene gehalten werden. Ist dies das Ende ihrer Reise?

_Chattam knüpft mit dem zweiten Teil_ seiner Reihe mehr oder weniger nahtlos an den ersten Teil an. Auch wenn seit der Lektüre des ersten Teils schon einige Zeit ins Land gezogen ist, fällt der Wiedereinstieg in die Geschichte leicht. Man taucht sofort wieder in die Welt von „Alterra“ ein und hat die drei Freunde Matt, Amber und Tobias lebhaft vor Augen.

Die Spannungskurve strebt von Anfang an stetig aufwärts. Immer wieder geraten die drei Freunde in brenzlige Situationen. An jeder Ecke lauern Gefahren, und obwohl sich diese Dauerspannung natürlich im Laufe der Zeit auch ein wenig abnutzt – zumal man sich mit der Zeit immer sicherer ist, dass die Drei die Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, schon irgendwie meistern, bleibt die Geschichte auf einem spannenden Niveau.

Die drei Freunde schaffen es, so ziemlich jede brenzlige Situation zu meistern, was mit der Zeit einen kleinen Kratzer an der Glaubwürdigkeit der Figurenskizzierung hinterlässt – Stärke und Mut lassen sich eben dann doch nicht immer befriedigend durch die Alteration, die speziellen Fähigkeiten, die die Pans in der neuen Welt entwickelt haben, erklären. Man glaubt irgendwann nicht mehr so hundertprozentig, dass sie jemals in wirkliche Gefahr geraten können. Irgendwie kommen sie schon aus jeder Situation heraus.

Und so muss Chattam stets neue unlösbare Probleme aus dem Hut zaubern, damit die Spannungskurve nicht abfällt. Das gelingt ihm im Großen und Ganzen wirklich gut, und obwohl er kurz davor zu stehen scheint, schafft er es, den Bogen nicht zu überspannen. Mit „Alterra“ hat der Autor eine ungemein vielfältige Welt geschaffen, in der er seine Fantasie austoben kann. Und so gibt es für den Leser reichlich Stoff zum Staunen: die Welt des Blinden Waldes mit den ameisenartigen Kreaturen in ihren Luftschiffen, z. B. oder die Stadt in der Höhle mit dem riesigen Wasserfall. Chattam skizziert eine fantastische Welt, teilweise bis ins Detail und beweist dabei einen wunderbaren Einfallsreichtum.

Vor diesem Hintergrund wird man ihm auch wohl verzeihen müssen, dass die Figurenskizzierung der drei Helden nicht sonderlich vertieft wird. Die Figuren bleiben bei all dem Einfallsreichtum und all den fantastischen Spielereien ein wenig blass. In Anbetracht der Tatsache, dass „Alterra“ auf eine jugendliche Leserschaft zugeschnitten ist, sicherlich ein verzeihliches Manko.

Der Aufbau der Geschichte ist wie schon im ersten Teil so angelegt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Auch wenn sich der Spannungsbogen aus den oben genannten Gründen mit der Zeit ein wenig abnutzt, bringt Chattam immer wieder neue Entwicklungen ins Spiel und splittet die Handlung in einzelne Stränge auf, zwischen denen er hin und her springt, so dass er die Spannung im Großen und Ganzen bis zum Ende gut halten kann.

_Bleibt unterm Strich_ also ein positiver Gesamteindruck. Zwar offenbart Chattam einzelne Schwächen in der Figurenskizzierung und er steht hier und da mal kurz davor, den Bogen ein wenig zu überspannen, kratzt aber dann doch noch die Kurve und bringt den Roman gut zu Ende. Zwar warte zumindest ich nach dem zweiten Teil nicht so sehnsüchtig auf den dritten Band, wie ich seinerzeit auf den zweiten gewartet habe, aber gespannt darauf, wie es weitergeht, bin ich dennoch. „Alterra“ ist und bleibt eine düstere, außerordentlich fantasievoll erzählte und spannende Geschichte, die nach allem was sich andeutet, in einem nicht minder düsteren und spannenden dritten Teil gipfeln dürfte.

|Hardcover: 400 Seiten
Originaltitel: Autre Monde: Malronce (2009)
ISBN-13: 978-3426283066|
[www.pan-verlag.de]http://www.pan-verlag.de
[www.maximechattam.com]http://www.maximechattam.com

Jussi Adler-Olsen – Schändung

Mit „Schändung“ legt der dänische Autor Jussi Adler-Olsen nun den Nachfolgeroman zu seinem vielgepriesenen Debüt „Erbarmen“ vor. Adler-Olsens Chefermittler Carl Mørck rollt am Schreibtisch seines Büros im Keller der Kopenhagener Polizei für das Sonderdezernat Q alte, ungelöste Fälle auf. Ihm zur Seite stehen sein Assistent Hafez el-Assad und die ihm neu zugeteilte Sekretärin Rose.

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Ollestad, Norman – Süchtig nach dem Sturm

Mit „Süchtig nach dem Sturm“ hat Norman Ollestad die Geschichte seiner Kindheit auf Papier gebannt. Da sich Normans Kindheit doch ziemlich eklatant von anderen Kindheitsgeschichten seiner Zeit unterscheiden dürfte, ist daraus ein Buch entstanden, das gleichermaßen spannend wie facettenreich daher kommt.

Norman Ollestad wurde 1967 geboren und wuchs in Topanga Beach, Malibu auf – damals eine schillernd bunte Welt voller Hippies, Musik und Surfer. Das Surfen spielt auch in Normans Kindheit eine groß Rolle, denn sein Vater „Big Norm“ ist ein begnadeter Surfer, immer auf der Jagd nach den größten Wellen und dem perfekten Tuberide. Seinen Sohn „Little Norm“ nimmt er schon von klein auf mit auf die Wellen – anfangs noch auf seinem Rücken, später solo mit dem eigenen Brett.

Während andere Kinder vor dem Fernseher sitzen oder im Hof mit dem Ball spielen, reitet Norman Wellen, die größer sind als er selbst, fährt mit Skiern waghalsige Abfahrtsrennen oder verschneite Tiefschneehänge hinunter und tingelt von Eishockeyspiel zu Eishockeyspiel. Was immer er macht, stets ist sein Vater da, um ihn anzuspornen, seine Angst zu überwinden und alles zu geben und ihm zu helfen, wenn es brenzlig wird. Hat Norman die Angst einmal überwunden, ist das Erlebniss, das dahinter wartet, stets großartig und stets etwas Besonderes, aber dennoch wünscht Norman sich oft genug, sein Vater würde ihn mit seinen speziellen Vater-Sohn-Ausflügen einfach in Ruhe lassen.

Dreh- und Angelpunkt von „Süchtig nach dem Sturm“ ist ein Flugzeugabsturz, der sich im Terminstress zwischen Eishockeyspiel und Skirennen ereignet, als Normans Vater wegen der knappen Zeit eine Cessna gechartert hat. Die Maschine stürzt mitten in einem schwer zugänglichen Bergmassiv ab. Normans Vater und der Pilot sind sofort tot und Norman ist auf sich gestellt.

Als der elfjährige Norman sich schließlich auf den Weg macht, den völlig vereisten und eigentlich viel zu steilen Abstieg in Richtung Tal anzugehen, sind die endlosen Lehrstunden auf Surfbrett und Skiern endlich zu etwas gut. Norman weiß mit seiner Angst umzugehen und spornt sich selbst dazu an, nicht aufzugeben. Sein zäher Überlebenswille wird schließlich honoriert, als Norman nach schier endlosen, einsamen Stunden endlich in Sicherheit ist.

Norman Ollestad erzählt zwei Geschichten parallel. Er springt immer hin und her zwischen den Ereignissen des Flugzeugabsturzes und den Erinnerungen an seine Kindheit, größtenteils vor dem Absturz, aber auch an die Zeit danach. Durch die Sprünge zwischen den unterschiedlichen Handlungsebenen erzeugt Ollestad enorm viel Spannung und „Süchtig nach dem Sturm“ entwickelt schon annähernd Page-Turner-Qualitäten. Was er dazwischen skizziert, ist zum einen das Bild einer ungewöhnlichen und für sich schon spannenden Kindheit und zum anderen die Geschichte einer komplizierten, aber auch stets sehr intensiven und besonderen Vater-Sohn-Beziehung.

Norman empfindet viel Respekt für seinen Vater, bestaunt das Leuchten in dessen Augen beim Eintauchen in tiefen Pulverschnee oder beim Erzählen von großartigen Tuberides. Die Zeit, in der Big Norm seinem Sohn die Welt auf Skiern und Surfbrett zeigt, war noch eine ganz andere als die heutige. Man spürt den Pioniergeist, mit dem vor allem Normans Vater bei der Sache ist. Big Norm muss eine enorm charismatische Persönlichkeit gewesen sein, der Andere mit seiner charmanten Art, seinem Gitarrenspiel und seinen Surfskills um den kleinen Finger wickeln konnte. Für Norman ist all dies gleichzeitig faszinierend und beängstigend. Immer wieder muss er an seine Grenzen gehen – was ihn oft genug verzweifeln lässt, ihm aber ebenso immer wieder großartige Erlebnisse beschert.

Die ganze verzwickte Komplexität dieser Vater-Sohn-Beziehung verdeutlicht Ollestad vor allem anhand einer Reise der Beiden durch Mexiko – eigentlich angetreten, um Normans in Mexiko lebenden Großeltern eine neue Waschmaschine zu bringen. Aber Big Norm wäre nicht Big Norm, wenn das Ganze nicht zu einer ereignisreichen Surfreise entlang der mexikanischen Küste verlaufen würde.

Ollestad erzählt von all diesen Erlebnissen so farbenfroh und facettenreich, dass das Buch sicherlich auch ohne die Dramatik des Flugzeugabsturzes höchst angenehme Lektüre wäre. Das Studium des Creative Writing an der University of California hat da sicherlich sein Übriges getan.

„Süchtig nach dem Sturm“ nimmt den Leser gefangen, lässt ihn mitfiebern und mitträumen von mexikanischen Stränden und feinstem Pulverschnee. Alles in allem hat Norman Ollestad ein höchst lesenswertes Buch abgeliefert, das gleichzeitig Chronik einer ungewöhnlichen Kindheit und die Skizzierung eines ebenso komplizierten wie intensiven Vater-Sohn-Verhältnisses ist. Ein Buch, das nicht nur denen, die sich Surfbrett und Skiern verbunden fühlen, nahe gehen dürfte, sondern eigentlich niemand kalt lassen kann und daher uneingeschränkt empfehlenswert ist.

|Gebundene Ausgabe: 349 Seiten
ISBN-13: 978-3100552150
Originaltitel: Crazy for the Storm
Übersetzt von Brigitte Heinrich|

Sigurdardóttir, Yrsa – Eisblaue Spur, Die

In bislang drei Romanen ([„Das letzte Ritual“ 5891 , „Das gefrorene Licht“ und „Das glühende Grab“) konnte man der Reykjaviker Anwältin Dóra Gudmundsdóttir bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Nun legt Yrsa Sigurdardóttir den vierten Roman ihrer Island-Krimireihe vor. Es waren in der Vergangenheit stets recht ungewöhnliche Fälle, die Dóra immer wieder aus dem beschaulichen Büroalltag herausgerissen haben. Dem steht auch ihr neuester Fall in Nichts nach.

Diesmal verschlägt es Dóra sogar nach Grönland. Diesen Ausflug hat sie ihrem Lebensgefährten Matthias zu verdanken, der als Sicherheitschef bei einer isländischen Bank arbeitet, die nun um ihre Finanzierung eines Forschungscamps in Grönland fürchtet. Dort ist eine Bergbaufirma mit Probebohrungen betraut, da aber zwei isländische Arbeiter spurlos aus dem Camp verschwinden und der Rest der Truppe sich weigert, ins Camp zurück zu kehren, gerät der Zeitrahmen und damit das ganze Projekt in Gefahr.

Dóra und Matthias sollen nun herausfinden, was vor Ort vorgefallen ist. Zusammen mit einem sachkundigen Team machen sie sich auf den Weg und stoßen schon bald auf viele Ungereimtheiten: Da wäre ein verschwommenes Video, aufgenommen mit einer Webcam, das möglicherweise einen Mord zeigt. Dann wären da noch die so feindlichen Einheimischen, die keinerlei Hilfestellung bei der Aufklärung der Vorkommnisse bieten. Von wem stammen die menschlichen Knochen, die das Team in den Schreibtischschubladen der Mitarbeiter der Bergbaufirma findet und wohin sind die beiden verschollenen Mitarbeiter verschwunden? Schon bald sind Dóra und ihr Team wegen eines heraufziehenden Schneesturms von der Außenwelt abgeschnitten und ganz auf sich allein gestellt …

Yrsa Sigurdardóttir scheint sich diesmal wieder recht viel versprechender Krimizutaten zu bedienen. Mit Grönland greift sie auf einen recht unverbrauchten Handlungsort zurück und ein von der Außenwelt abgeschnittener Ort sorgt eigentlich so gut wie immer für einen kräftigen Ruck an der Spannungsschraube.

Mit Dóra hat Sigurdardóttir sich obendrein über drei Romane eine sympathische Figur aufgebaut, die der Leser an sich schon gleich im ersten Band ins Herz schließen muss. Dóra ist eine liebenswerte Chaotin, deren turbulentes Durcheinander zwischen Kanzlei und Familie auch immer wieder zum Schmunzeln anregt. Sie ist nicht nur alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, sondern hat obendrein auch noch einen mittlerweile 18-jährigen Sohn, der sie schon sehr früh zur Großmutter gemacht hat. Und da Dóra nebenbei auch noch die Kanzlei schaukeln muss, verläuft ihr Leben oft genug chaotisch.

Ein schöner Gegensatz ist da ihr deutscher Lebensgefährte Matthias, der inzwischen in Reykjavik wohnt. Stets akkurat und wohlorganisiert, stellt er ein schönes Kontrastprogramm zu der chaotischen Dóra dar, was immer wieder zu scherzhaften Kabbeleien zwischen den Beiden führt. Dieses Duo wird spätestens seit dem letzten Roman „Das glühende Grab“ ergänzt durch Bella, Dóras unfähige und sozial eher wenig kompetente Sekretärin. So hat man mit Blick auf die Protagonisten schon mal eine durchaus unterhaltsame Konstellation.

Der Einstieg in „Die Eisblaue Spur“ verspricht zunächst viel Spannung. Die ungewisse Situation im Forschungscamp nach der Ankunft von Dóras Team, die seltsame, zurückweisende Art der Einheimischen, die merkwürdigen Funde menschlicher Knochen und mysteriöser Artefakte – das alles trägt erheblich zur Spannung bei. Dóra und ihre Mitreisenden können sich kein klares Bild von der Situation machen, die dazu geführt haben könnte, dass zum einen Menschen verschwunden sind und sich zum anderen der Rest der Truppe der Rückkehr ins Camp widersetzt. Der Ort an dem das Camp liegt, scheint für die Einheimischen eine tiefere Bedeutung als ein Ort zu haben, den man auf keinen Fall betreten darf. Über das Warum schweigen sie sich aus und so hat Dóra auch hier keinen rechten Ansatzpunkt für Nachforschungen.

Erst als sie eine weitere grausige Entdeckung machen und sie die Polizei einschalten, kommt Bewegung in die Geschichte, aber dann sind Dóra und ihr Team auch ganz schnell aus den Ermittlungen raus, weil die Polizei sie kalt stellt. So stagniert ab diesem Moment auch die Spannung ein wenig. Was anfangs noch nach einem viel versprechenden Spannungsbogen aussieht, verliert im Laufe der Geschichte ein wenig an Intensität.

Auch die Auflösung kommt dann etwas plötzlich. Sigurdardóttir schmeißt unterwegs viele Andeutungen in den Raum, verwebt das Ganze mit der Inuit-Kultur und alten Mythen, berichtet vom Mobbing der Mitarbeiter der Bergbaufirma untereinander in der Abgeschiedenheit des Forschungscamps, das sie schön plastisch darzustellen vermag, und streut viele Hinweise aus. Dennoch strebt der Spannungsbogen nicht so stetig aufwärts, wie man es sich wünschen würde.

Die Ansätze sind wunderbar, auch die Komplexität des Falls hat so ihre Vorzüge, dennoch entwickelt sich die Geschichte in ihrem Verlauf eher zu einem mittelmäßigen Krimi. Durch die Abgeschiedenheit in der grönländischen Einöde kommt logischerweise auch Dóras mitunter so unterhaltsam chaotisches Familienleben viel zu kurz. Auch die Personenentwicklung, die Sigurdardóttir in den vorangegangenen Romane gerade auch mit Blick auf Dóra und Matthias stetig vorangetrieben hat bleibt ein wenig auf der Strecke.

Sprachlich weiß die Isländerin zwar immer noch insofern zu überzeugen, dass sich das Buch flott und locker runterlesen lässt, dennoch hat sie auch schon mal gezeigt, dass sie es eigentlich besser kann. Insbesondere ihre ersten beiden Krimis „Das letzte Ritual“ und [„Das gefrorene Licht“ 4547 gefielen mir insgesamt besser.

Unterm Strich hat „Die Eisblaue Spur“ sicherlich so einige Vorzüge, zu denen vor allem auch der grönländische Handlungsort mit der dazugehörigen Atmosphäre gehört, dennoch macht Sigurdardóttir es sich mit diesem Roman, wie auch schon mit dem Vorgänger „Das glühende Grab“ zunehmend im Mittelmaß gemütlich. Sie hat schon bewiesen, dass sie es besser kann. Bleibt also zu hoffen, dass sie sich mit dem nächsten Roman wieder auf alte Qualitäten besinnt, denn dann kann wieder ein erstklassiges Krimivergnügen daraus werden.

|Broschiert: 352 Seiten
ISBN-13: 978-3596183432
Originaltitel: |Auðnin (Veins of Ice)|
Übersetzt von Tina Flecken|

Huston, Charlie – Clean Team, Das

Dass Charlie Huston sich auf verzwickte Geschichten über sympathische Verlierertypen versteht, hat er bereits mit seiner Hank-Thompson-Trilogie bewiesen. Nach seinem Ausflug in blutsaugende Gefilde mit der Vampir-Reihe um Joe Pitt kehrt Huston ein Stück weit wieder zurück zu den Wurzeln.

Hustons neue Romanreihe handelt wieder von einem echten Loser-Typen, der, kaum dass er seinen Hintern dann doch endlich mal vom Sofa erhebt, auch schon gleich in dicken Schwierigkeiten steckt.

Eigentlich hat Ex-Lehrer Webster Filmore Goodhue sich ein gemütliches Leben als leidenschaftlicher Müßiggänger aufgebaut. Würde da sein Kumpel und Mitbewohner Chev nur nicht immer an ihm herummosern. Da Chev aber nun einmal Webs letzter noch nicht vergraulter Freund ist, beugt Web sich schließlich dem Generve und nimmt den Job an, den Chevs Kumpel Po Sin ihm anbietet: Er steigt bei dessen „Clean Team“ ein.

Und so findet Web sich schon am nächsten Morgen – seinem ersten Arbeitstag – in einer herunter gekommenen Wohnung mitten in einem Heer von Kakerlaken wieder und trägt Tüten voller Exkremente zu einem Müllcontainer. Das „Clean Team“ ist halt auf Reinigungsarbeiten der ganz besonderen Art spezialisiert: Tatortreinigung. Wo immer beispielsweise ein Selbstmörder bei seinem Ableben all zu viel Dreck hinterlässt, gibt es Arbeit für das „Clean Team“. Sie machen Wohnungen wieder bewohnbar, putzen penibel jeden noch so kleinen Blutspritzer von den Tapeten und das alles so korrekt und diskret wie möglich.

Doch Tatortreinigung scheint in Los Angeles ein hart umkämpftes Terrain zu sein. Web gerät schon bald zwischen die Fronten rivalisierender Tatortreinigungsunternehmen. Und als wäre das nicht schon genug, handelt er sich schnell weitere Schwierigkeiten ein. Schon bei seinem zweiten Auftrag verguckt Web sich in Soledad, die Tochter eines steinreichen Selbstmörders aus Malibu. Ihr zur Liebe fährt er dann auch auf eigene Faust des Nachts mit dem Reinigungswagen zu einem schäbigen Motel, wo seine Fähigkeiten als Tatortreiniger gefragt sind. Damit handelt Web sich allerdings noch viel größere Schwierigkeiten ein und so nimmt der Schlamassel seinen Lauf …

Von Haus aus ist Charlie Huston Drehbuchautor und das kann er auch bei seinen Romanen nie so ganz verbergen. Er pflegt einen Stil der schnellen Schnitte und hat eine sehr direkte und gradlinige Art zu Erzählen. Das resultiert wie von selbst in einem hohen Erzähltempo. Gepaart mit der Vorliebe von Hustons Protagonisten für eine rüde, vulgäre Ausdrucksweise ergibt das Ganze einen Stil, der, dank Hustons lakonischer Art zu Erzählen, ein wenig an Filme wie „Pulp Fiction“ denken lässt.

Es ist eben auch Hustons Hang zur Ironie, der seine Antihelden so sympathisch macht. Das funktionierte bei Hank Thompson schon wunderbar und auch mit Webster Goodhue funktioniert es prächtig. Web lümmelt eigentlich tagein tagaus auf dem Sofa in dem schmierigen Tattoostudio seines Freundes Chev herum, der immer wieder mittels kleiner Botengänge versucht, Web dazu zu animieren, mal den Hintern vom Sofa zu erheben – mit mäßigem Erfolg.

Web war vor seinem Sofa-Leben Lehrer, möchte diese Zeit aber lieber abhaken und vergessen. Für ihn gibt es kein Zurück mehr, aber da es sich ohne Geld schlecht lebt und man schließlich nicht ewig seine zugekiffte Mutter anschnorren kann, ergreift Web die Chance, die sich ihm durch Chevs Kumpel Po Sin bietet: Den Umstieg in eine gänzlich andere Branche.

Tatortreinigung ist eine Sparte, wie sie einfach wunderbar passend für einen echten Antihelden á la Charlie Huston ist. Ein Berufszweig, wie er eigentlich nur in den USA existieren kann. Wenn Po Sin und sein „Clean Team“ Gehirnmasse von Tapeten und Schränken kratzen, wirkt das so surreal wie in einem Film der Coen-Brüder. Charlie Hustons Romane haben die Angewohnheit, sich vor dem inneren Auge wie ein rasanter, schwarzhumoriger Kinofilm abzuspulen.

Die Geschichte, in die Web sich dank seines neuen Jobs verstrickt, gibt dem Plot einen Großteil seines Tempos. Web wird ohne viel eigenes Zutun in einen krummen Deal hinein gezogen, aus dem er nicht so leicht heraus kommt, ohne um irgendjemandes Leben fürchten zu müssen. Und so entwickelt sich eine rasante, nicht immer ganz unblutige Geschichte, die sich größtenteils spannend und temporeich liest und den Spannungsbogen bis zum Ende auf hohem Niveau hält, wenngleich Huston seinem Protagonisten diesmal eine längere Warmlaufphase gönnt, als beispielsweise noch in [„Der Prügelknabe“ 1469 .

Charlie Huston ist sicherlich nicht unbedingt ein Autor, der für seinen Tiefgang bekannt ist, aber er schreibt unterhaltsame, temporeiche Geschichten, die sich anfühlen wie Kinofilme. Auch „Das Clean Team“ reiht sich in die Reihe sympathischer Antihelden-Geschichten ein, die Huston mit der Hank-Thompson-Reihe angefangen hat, wenngleich „Das Clean Team“ im Vergleich zum Auftaktroman „Der Prügelknabe“ aus der Hank-Thompson-Reihe dann doch den Kürzeren zieht. „Der Prügelknabe“ und auch der Nachfolger [„Der Gejagte“ 1518 ist im Vergleich zu „Das Clean Team“ dann doch noch etwas rasanter und lässt auch Hustons Humor noch besser durchschimmern.

Bleibt unterm Strich ein durchaus guter Eindruck zurück. „Das Clean Team“ ist in jedem Fall ein unterhaltsamer, leicht schwarzhumorig angehauchter und sympathischer Antihelden-Roman. Dennoch wird der Eindruck dadurch etwas getrübt, dass man weiß, dass Huston es schon mal besser gemacht hat. Die drei Romane aus der Hank-Thompson-Reihe „Der Prügelknabe“, „Der Gejagte“ und [„Ein gefährlicher Mann“ 3142 legen die Latte auf jeden Fall sehr hoch und so schafft Huston es dann doch nicht ganz, das hohe Niveau seiner Vorgängerromane zu erreichen.

|Taschenbuch: 496 Seiten
ISBN-13: 978-3453407305
Originaltitel: |The Mystic Arts of Erasing all Signs|
Übersetzt von Alexander Wagner|
http://www.heyne.de/

Read, Cornelia – Es wartet der Tod

Nachdem Cornelia Read mit [„Schneeweißchen und Rosentot“ 5079 ein durchaus beachtenswertes Debüt abgeliefert hat, liegt nun das Nachfolgewerk „Es wartet der Tod“ vor, in dem der Leser erfährt, was seit den Geschehnissen im ersten Roman in Madeline Dares Leben so vor sich geht …

Nach den nervenaufreibenden Ereignissen vor einem Jahr (nachzulesen in „Schneeweißchen und Rosentot“) hat Madeline Dare immer noch an den Folgen zu knabbern. Grund genug für eine berufliche Neuausrichtung und einen anständigen Tapetenwechsel, und so hat sie die Zeitungsredaktion in Syracuse gegen eine Privatschule in den Berkshires eingetauscht, an der sie als Hilfslehrerin Geschichte unterrichtet.

Doch so ganz wohl fühlt Madeline sich in ihrer Rolle nicht. Das liegt sicherlich nur zum Teil an den Schülern, die allesamt zur schwer erziehbaren Sorte gehören. Die Santangelo Academy ist die letzte Hoffnung leidgeprüfter, gut betuchter Eltern, die angesichts der psychischen Störungen ihrer Kinder gerne jeden Preis bezahlen, damit die Kinder gut untergebracht sind.

Was hinter den Mauern von Santangelo vor sich geht, scheint die meisten Eltern im Detail eher wenig zu interessieren, Hauptsache es wird überhaupt etwas getan. Und so ist Madeline eine der Wenigen, die angesichts der teils höchst fragwürdigen Unterrichts- und Erziehungsmethoden stutzig wird.

Es herrscht eine ganz eigentümliche Atmosphäre an der Santangelo Academy, wo einerseits die ständigen Therapiesitzungen (die auch für die Lehrkräfte fester Bestandteil des Alltags sind) ein Klima der Offenheit und Vertrautheit hervorrufen sollten, andererseits aber viel mehr eine giftige Atmosphäre ständigen Misstrauens in der Luft liegt.

Madeline versucht sich davon nicht beeinflussen zu lassen und trotzdem ein gutes Verhältnis zu ihren Schülern aufzubauen. Das gelingt ihr insofern, als dass ihr Schüler Mooney sie ins Vertrauen zieht, als sich herausstellt, dass seine Freundin Fay schwanger ist. Kurze Zeit später ist das Liebespaar tot – vergiftet. Was zunächst nach Selbstmord aussieht, weckt sofort Madelines Instinkte. Sie ist sich sicher, dass die Beiden auf gar keinen Fall Selbstmord begangen haben und versucht selbst Beweise zu finden, die ihre Mordthese stützen …

Mit „Es wartet der Tod“ scheint Cornelia Read einen Teil ihrer eigenen Biographie in die Waagschale zu werfen, zumindest geht dies aus der Widmung am Anfang des Romans hervor. Ein wenig verwunderlich ist Madelines berufliche Umorientierung allerdings schon. Was mich aber am meisten gewundert hat ist, dass fast sämtliche Lehrer von Santangelo keinen pädagogischen Hintergrund haben. Gerade für ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche, wo es eben nicht um reine Wissensvermittlung geht, sondern viel mehr um den psychologischen und pädagogischen Ansatz, kommt mir das sehr merkwürdig vor.

Zeitlich ist das Buch Ende der Achtziger Jahre angesiedelt und auch inhaltlich erinnert Read immer wieder an die Scharlatanerie der New-Age-Zeit in den Siebzigern. In diesem Dunstkreis scheint man auch Santangelo mit seiner „pädagogischen“ Ausrichtung einordnen zu müssen, denn anders sind viele der praktizierten Methoden und auch der bunt zusammengewürfelte „unpädagogische“ Personalstab wohl nicht zu erklären.

Wie bereits im Vorgängerroman pflegt Read auch hier wieder einen geradezu lockeren Plauderton, der durchzogen ist von einer feinen sarkastischen Ader. Schon „Schneeweißchen und Rosentot“ war kein Krimi von der Stange, sondern viel mehr ein belletristischer Roman um einen Kriminalfall. Ähnlich verhält es sich auch in diesem Roman.

Der Plot nimmt sich Zeit, um Fahrt aufzunehmen, Protagonisten und Örtlichkeiten werden erst einmal ausgiebig beleuchtet und es dauert, ehe überhaupt erst einmal richtig Spannung aufkommt. Dass sich der Roman dennoch locker und flott herunterlesen lässt, liegt an Reads erfrischendem Erzählstil und daran, dass Madeline eine so von Grund auf sympathische Protagonistin ist. Sie hat seit dem Vorgängerroman nichts von ihrem Charme eingebüßt.

Das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Figuren, zwischen Madeline und ihren Schülern, zwischen Madeline und ihrer besten Freundin und Kollegin Lulu oder auch die Sticheleien mit Hassobjekt Mindy sorgen dafür, dass die erste Romanhälfte bis zum Auftauchen der beiden Leichen unterhaltsam bleibt. Man hätte diesen Teil zwar sicherlich hier und da straffen können, aber dennoch hält Read den Leser bei der Stange.

Read dreht zwar spät an der Spannungsschraube, dafür aber umso kräftiger. Auf einmal überschlagen sich die Ereignisse und ehe Madeline sich versieht, steht sie auch schon im Zentrum des Geschehens. Der Fall bleibt bis ganz zum Ende spannend und entschädigt damit mühelos für den gemütlichen Start.

Bleibt unterm Strich ein insgesamt positiver Eindruck zurück. Mit „Es wartet der Tod“ hat Cornelia Read einen Roman abgeliefert, der mit dem Debüt „Schneeweißchen und Rosentot“ durchaus mithalten kann, wenngleich ich das Debüt noch einen kleinen Tick besser fand. Read punktet wieder einmal mit ihrem lockeren Erzählstil im Plauderton und ihrem trockenen Humor. Der Krimiplot braucht wie schon im Vorgänger etwas Zeit um auf Touren zu kommen, entwickelt sich dann aber mit ungebremster Spannung bis zum Ende. Wer etwas übrig hat für einen unterhaltsamen Mix aus Belletristik und Krimi, der kann mit Cornelia Read auch bei ihrem zweiten Roman nicht viel Falsch machen.

|Originaltitel: |Crazy School|
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
337 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3423247535|

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