Anna Gavalda – Zusammen ist man weniger allein

Ich habe geweint. Ganz ehrlich. Als die Geschichte zu Ende war, kullerten mir Tränen die Wangen hinunter. Das war mir noch nie passiert. Im Kino ja. Man kommt nicht umhin, hier und da mal auf die Tricks des Hollywoodkinos hereinzufallen und in die Gefühlsfalle zu tappen. Aber bei einem Buch? Nein, bei einem Buch war mir das noch nie passiert. Nur bei Anna Gavaldas neuem Roman „Zusammen ist man weniger allein“. Dabei drückt sie doch gar nicht auf die Tränendrüse, hebt keine hinterhältigen Gefühlsfallen in einem kitschbehangenen Plot aus und winselt nicht um Mitleid für ihre schicksalsgebeutelten Figuren. Warum also gleich anfangen zu heulen? Eine schwierige Frage, also verliere ich vielleicht lieber erst einmal ein paar Worte zur Handlung.

Handlung im engeren Sinne gibt es eigentlich gar nicht so viel. Dafür gibt es Figuren, und die sind so lebhaft, dass wir auch kaum nach mehr verlangen. Anna Gavalda erzählt die Geschichte von vier grundverschiedenen Menschen, die in einer viel zu großen Wohnung am Fuße des Eiffelturms eine etwas sonderbare Wohngemeinschaft bilden. Hausherr ist Philibert (36), mit vollständigem Namen Philibert Marquet de La Durbellière, letzter Spross eines verarmten französischen Adelsgeschlechts. Er ist intelligent, charmant, drückt sich geschwollen aus und kennt alle Regeln der Etikette, nur mit dem praktischen Teil des Lebens hapert es irgendwie. Philibert ist verschüchtert, verängstigt und fängt an zu stottern, sobald er einer Frau gegenübersteht. Obwohl er historisch bewandert ist und studiert hat, verdient er seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Postkarten. Eine durch und durch jämmerliche Existenz, die von den Mitmenschen höchstens belächelt wird.

Nicht weniger jämmerlich ist das Dasein von Camille (26). Sie führt ein Leben am Abgrund, hauste (bevor sie in die WG zog) in einer schäbigen, eisigkalten Einzimmerwohnung unter dem Dach, mit Stehklo im Treppenhaus, und isst gerade genug, um nicht vor Unterernährung zusammenzubrechen. Auch sie ist für ihren Broterwerb hoffnungslos überqualifiziert. Sie geht nachts in einer Putzkolonne Büros putzen, anstatt ihr Talent zu nutzen, denn Camille kann so wunderbar zeichnen, dass andere beim Betrachten ihrer Bilder in Tränen der Rührung ausbrechen.

Der Dritte im Bunde ist Franck (34). Ein etwas ungehobelter Typ, laut, aggressiv und ohne Manieren. Franck ist Koch in einem Feinschmeckerlokal, obendrein ein durchaus begabter. Wenn er nicht arbeitet, schläft er oder schleppt gerade irgendein billiges Mädchen ab. Er arbeitet Extraschichten, um sein neues sündhaft teures Motorrad abzubezahlen und interessiert sich im Grunde für nichts anderes als Essen, Sex und Motorräder. Seinen freien Tag allerdings verbringt er stets mit Paulette (83), seiner Oma, um die er sich viel zu wenig kümmern kann. Nach Oberschenkelhalsbruch und Reha bleibt ihm nicht anderes übrig, als Paulette in einem Altersheim unterzubringen, wo die alte Dame vor sich hin vegetiert, bis sie von den Dreien in die sonderbare WG am Fuß des Eiffelturms geholt wird.

„Zusammen ist man weniger allein“ ist eigentlich kein Roman, der einen festen, in sich geschlossenen Handlungsbogen hat. Den braucht er auch gar nicht. Anna Gavalda widmet sich so ausgiebig ihren Figuren, dass man alles andere rundum vergisst. Episodenhaft erzählt sie ihre Geschichte. Sie zeigt, wie sich vier grundverschiedene Menschen, die jeweils einsam und völlig am Boden sind, gegenseitig aufrichten. Sie selbst nennt das den umgekehrten Domino-Effekt. Ihre Steinchen kippen nicht nacheinander um und das eine zieht das andere mit ins Verderben, bis keines mehr steht, sondern sie tun (zunächst ganz unbewusst) das genaue Gegenteil.

Es fängt an mit Philibert und Camille. Camille wartet darauf, endlich ganz unten anzukommen, denn nach ihrer Ansicht muss man erst ganz am Boden sein, um sich von dort abstoßen und wieder aufwärts streben zu können. Nur hat sie nicht so ganz den rechten Blick dafür, wann genau dieser Moment gekommen ist. Kommt der noch oder war der vielleicht sogar schon vorbei? Doch Camille braucht sich gar nicht selbst vom Boden abzustoßen, sie bekommt Hilfe von Philibert, der rührend, aber auch stets schüchtern, um das Mädchen besorgt ist, das in der eisigen Dachkammer des Hauses wohnt. Diese Begebenheit, in der Philibert Camille in die Wohnung holt, die er mit Franck teilt, ist der Katalysator der Geschichte.

An diesem Punkt der Handlung kommt ein Prozess in Gang, der sich bis ans Ende des Romans weiter vollzieht und entwickelt. Die Protagonisten beginnen ganz langsam und ganz vorsichtig, sich aufeinander zu stützen, am Leben des anderen teilzuhaben, dem anderen unter die Arme zu greifen. Geschieht dies anfangs noch in kleinen Gesten, teils bewusst, teils unbewusst, so entsteht im Laufe der Zeit daraus eine tiefe, geradezu geschwisterliche Freundschaft, in der alle Beteiligten nach und nach ihr Seelenleben entblättern. Jeder taut ein wenig auf, jeder nimmt seinen Mut zusammen, sich dem anderen zu öffnen und was daraus entsteht, ist eine wunderbar warmherzige Geschichte. Die Figuren mögen noch so unterschiedlich sein, auf ihre Art ergänzen sie sich wunderbar. Gerade heutzutage, wo sich jeder nur noch um sich selbst und seine eigenen Probleme kümmert, wirkt die Art, wie die Figuren aufeinander aufpassen, sich umeinander sorgen, fast schon altmodisch – und ist gerade deswegen irgendwie herzerfrischend.

Der Klappentext vergleicht Anna Gavaldas Geschichte mit der „Fabelhaften Welt der Amélie“. Das weckt natürlich ganz bestimmte Erwartungen (hier und da sicherlich auch die falschen), passt aber in gewissem Sinne dennoch. Anna Gavaldas Art zu erzählen sowie das Skizzieren ihrer Figuren erinnern ein wenig an die Art, wie Jean-Pierre Jeunet die Geschichte seiner Amélie erzählt. Beiden gemein ist, dass sie den Alltag, das ganz banale Leben mit einer solchen Poesie sehen und beschreiben, dass einem dabei richtig warm ums Herz wird. Sie sehen beide die vielen kleinen Details, die gerade in der heutigen schnelllebigen Zeit kaum wahrgenommen werden. Sie sind beide sehr genaue Beobachter, die Emotionen und Stimmungen einfangen, so dass man am Ende vollkommen gerührt ist.

Anna Gavaldas Stil ist dabei absolut hinreißend. Sie verfolgt ihre Protagonisten mit stetig wechselndem Blickwinkel, beobachtet mal den einen, mal den anderen und zeichnet von allen ein so lebendiges, so reales Bild, dass man fast schon glauben mag, es gäbe sie wirklich. Man kennt die Figuren mit der Zeit richtig gut, möchte sie anschubsen, damit sie endlich aus ihrer Haut herauskönnen, sie in den Hintern treten, wenn sie mal wieder auf dem Schlauch stehen, und sie in den Arm nehmen, wenn sie traurig sind. Es gibt kaum „echtere“ Romanfiguren als die von Anna Gavalda. Sie hauen einen um. Sie reißen einen mit. Man will unbedingt wissen, wie ihr Leben weitergeht und wenn man sie am Ende des Romans verlassen muss, stimmt das schon irgendwie traurig.

Besonders auch die dialoglastige Erzählweise trägt sehr zu diesem charakterbetonten Eindruck bei. Viele Handlungsstränge erschließen sich über die Dialoge. Es wird sehr viel geredet, aber nicht immer mit vielen Worten. Dennoch steckt in den Dialogen sehr viel Inhalt und selbst Schweigen hat Gewicht. Jeder Satz, jedes Wort passt genau, vervollständigt das Bild und lässt die Figuren umso lebendiger erscheinen. Jede der Figuren trägt ihr eigenes Bündel Schicksal, aber es wirkt nie aufgesetzt. Anna Gavalda betrachtet ihre Schöpfungen stets mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sie hat ein Gespür für tragische Momente, genau wie für lustige, und unterstreicht ihren Roman mit einer fast schon zärtlichen Ironie. Anna Gavalda wächst mir mit jedem Buch mehr ans Herz.

Wer noch die Muße hat, sich auf einen Roman einzulassen, der fast schon allein durch die Figuren wirkt, der wird mit einer zart und feinfühlig erzählten Geschichte belohnt. Man kann mit den Figuren lachen und weinen, man leidet und freut sich mit ihnen – absolut herzergreifend. Anna Gavalda tritt keine Klischees breit, greift nicht in die Kitschschublade, um den Leser in einem rührseligen Plot einzulullen und ihn „gefühlsduselig“ bei der Stange zu halten, sondern erzählt so großartig und geradeheraus, so offen, liebenswürdig und gewitzt, dass man sich nicht nur in die Figuren verliebt, sondern in die Autorin gleich mit.

Gebundene Ausgabe: 560 Seiten